spielbar.com

Die Annäherung an Spielregeln

Eines der leidigen Themen in der Spielszene, vielleicht auch weil es so ein wichtiges ist, sind die Regelhefte, die Spielen beiliegen. Sie sind meist der erste Einstieg in das eigentliche Spiel und dementsprechend werden viele unterschiedliche Erwartungen an sie gerichtet. Sie müssen als Anleitung in das Spiel dienen. Sie müssen das Spiel erklären und erläutern. Zu allerletzt müssen sie auch noch als Nachschlagewerk während des Spiels herhalten.

Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Verlage der Ansicht sind sie könnten (und müssten) jede dieser drei Aufgaben mit ein und dem selben Text erfüllen. Das ist textlich und didaktisch eine Herausforderung, die vermutlich nur die simpelsten Spiele erfüllen können. Aber sobald sich die Regeln eines Spiels nicht mehr auf einen Bierdeckel festhalten lassen, stößt man schnell an Grenzen des Machbaren und Sinnvollen.

Ähnlich wie ein Spiel selbst, müssen sich Regelhefte an ihre Zielgruppe richten. Das betrifft zum einen die Sprache. Spieler*innen, die das Medium erst noch für sich entdecken müssen, werden bekannte Begriffe aus der Szene kaum kennen. Ein „Deck“ ist kein sich selbst erklärender Begriff. Auch Nachziehstapel, Ablagestapel oder Kartenhand sind Begriffe, die man sich aus dem Kontext heraus erschließen muss, falls man ihnen vorher noch nicht begegnet ist. Aber auch der Aufbau eines Regelhefts muss für den Erfahrungsgrad der Spielgruppe angemessen sein.

Die Erwartungshaltung an ein Regelheft ist zu einem gewissen Grad auch davon abhängig mit wie viel Vorwissen die Gruppe an das Spiel tritt. Es hilft daher diese Erwartungshaltungen zumindest grob unterscheiden zu können.

Erwartung 1 – „Das Regelheft ist eine Anleitung.“

Die Funktion einer Anleitung ergibt sich aus ihrer Bezeichnung. Eine Anleitung nimmt Spieler*innen an die Hand und führt sie durch den Spielablauf. Das bedeutet es wird dargelegt, welche Handlung zu welchem Zeitpunkt ausgeführt werden müssen. Gerade unerfahrene Spielgruppen scheinen damit recht gut beraten zu sein, da der Vorgang das Spiel zu verstehen und nachzuvollziehen ins laufende Spiel übertragen werden kann. Man lernt das Spiel aus den Situationen heraus, die am Tisch ausgeführt werden. Erfahrenere Spielgruppen fühlen sich durch so ein Vorgehen jedoch meist gegängelt. Sie sind es meist gewohnt die groben Zusammenhänge schon vor dem ersten Spielzug erfasst zu haben.

Eine Anleitung muss nicht erklären warum man sich entscheidet während des Spiels das eine oder das andere zu tun. Die Funktion einer Anleitung besteht darin deutlich zu machen welche Regeln zu welchem Zeitpunkt angewendet werden müssen. Sie ist dafür da die Begriffe des Spiels zu erläutern und die Struktur des Spielablaufs so sauber und unmissverständlich darzulegen. Ein großartiges Beispiel dafür ist das Spiel 7 Wonders Architects. Die visuelle Darlegung des Spielverlaufs zeigt deutlich welche Regel wann anzuwenden ist.

Das wird alles Sinn ergeben, wenn wir erst mal anfangen

Erwartung 2 – „Das Regelheft erklärt uns das Spiel.“

Während eine Anleitung die Spieler*innen durch das Spiel führt, legt eine Spielerklärung eher die unterschiedlichen Inhalte des Spiels aus und lässt Spieler*innen die Möglichkeit sich selbst auf Entdeckungsreise zu begeben. Das bedeutet, dass eine Spielerklärung neben den mechanischen Regeln auch das Thema einbinden will, um gerade den Zusammenhang zwischen Spielmechanismen und ihrer Beziehung zum Thema nahezulegen. Der Aufbau eines erklärenden Regelhefts beginnt meist mit einem groben Überblick, bevor es Details aufgreift, um diese mit Hilfe des Themas zu erläutern. Diese Regelhefte können sprachlich etwas anspruchsvoller sein, da sie oft und gerne Spielbegriffe mit thematischen Begriffen ersetzen. Das hat nicht selten zur Folge, dass weniger erfahrene Spielgruppen an Sätzen wie „Legt eure Ernte in den Marktplatz und verkauft sie für je 100 Peseten an die Händler, die Reisenden (für 150 Peseten) oder an die Waisenkinder (keine Peseten, aber je +1 auf die nächste Ernte)“ verzweifeln. Ein Satz, der ohne ausreichend Erfahrung mit derartigen Regelheften, oft dazu führt, dass man etwas verwirrt hin und her blättern muss, um sich die Aussage zu erschließen.

Der Vorteil einer Regelerklärung lautet, dass sie die Gruppe schneller zum Spielthema führen kann. (Auch wenn gerade erfahrene Spieler*innen ironischerweise das Thema gerne ausblenden, wenn die Regeln eine gewisse Komplexität erreichen.) Aber sie kann auch den Weg ebnen, um sich die taktische und strategische Ebene schneller zu erschließen. Hier ist eine Erläuterung, weshalb man die eine oder die andere Aktion wählen sollte, oft gut aufgehoben. Sie dient als Starthilfe, um sich schon in der ersten Partie Ziele zu setzen oder zumindest zu erkennen, worauf man im Spiel achten sollte, um einen guten Zug zu machen.

Nach einer Spielerklärung sollte man zumindest ein grobes Verständnis davon haben worauf es in der Partie ankommt. Die Abläufe mögen vielleicht nicht zu 100% richtig sein, aber die Spieldynamik und ihre thematische Form sollte erkennbar sein.

Erwartung 3 – „Das Regelheft löst Regelstreitigkeiten.“

Dies ist die verlockendste aber auch heimtückischste Form des Regelhefts. Sie wirkt von außen betrachtet sinnvoll und sehr nützlich. Das Regelheft als zuverlässiger Text, um Fragen und unterschiedliche Interpretationen einer Spielsituation aufzulösen. Sie soll den Spieler*innen dabei helfen schnell wieder ins Spiel zu kommen, wenn sie sich nicht sicher sind, wie sie in einer Situation verfahren sollen. Das ist nachvollziehbar. Diese Form des Regelhefts wird dabei gerne wie ein Gesetzestext konzipiert. Sowohl von den wasserdichten Formulierungen wie auch dahingehend, dass Spieler*innen fest daran gebunden sind.

Das Problem an diesem Bild ist, dass Gesetze immer interpretiert und gedeutet werden müssen. Ihre Anwendung muss abgewogen werden und in ihrer Anwendung müssen sowohl das Für als auch das Wider berücksichtigen, bevor ein Urteil gesprochen wird. Das Regelheft liefert dafür lediglich einen Text. Es überlässt Deutung, Anwendung und auch Ausführung zu großen Teilen den Spieler*innen selbst.

Auch in den alten Schriften werden wir keine Erlösung finden

Wer schon mal das Pech hatte mit hoch-kompetitiven Spieler*innen an einem Tisch zu sitzen, wird wissen, wie schnell sich die Frage „Darf ich meine Figur da hin bewegen“ zu einem kleinen Gerichtssaal-Drama steigern kann.

Letztendlich müssen die Spieler*innen selbst eine Lösung finden und eine Entscheidung fällen. Dabei wäre es natürlich bequem, wenn das Regelheft einen Satz hat, den man lediglich finden und laut vorlesen muss, um die Unklarheit zu beseitigen. (Und gelegentlich passiert ja auch das.) Aber je vielschichtiger, komplexer und auch kleinteiliger ein Spiel ist, umso weniger ist irgendjemandem geholfen, wenn sich mehrere Spieler*innen am Tisch zu Hobby-Advokaten ausbilden müssen, um die Rechtsgrundlage „Spielregel“ zielführend einzusetzen.

Wenn das Spiel wegen einer Regelfrage ins Stocken gerät, braucht es entweder eine Person, die Entscheidungen fällen darf oder zumindest eine genaue Vorgehensweise um diese Momente zu lösen. Das Nachschlagen in mehreren Regelheften, das Absuchen von Querverweisen und Lesen von Online-Kommentaren ist genau das nicht.

Um Regelfragen und -unklarheiten beizukommen, benötigt es eine klare Methode. Die Mär des wasserdicht formulierten Regeltextes, der in unregelmäßigen Abständen mit allen möglichen FAQs und verbesserten Formulierungen verändert wird, trägt allein dazu bei, dass das Brettspiel weiterhin der Ruf eines sperrigen, verkopften und kleinlichen Hobbies anhaftet. Das Regelheft als verbindlicher, quasi-legaler Text bringt mehr Probleme mit sich als es löst.

Ein Regelheft muss auf seine Zielgruppe eingestellt sein. Je geringer der Erfahrungsschatz der Spielgruppe, umso enger sollte der Entscheidungsraum sein was den Spielablauf angeht. Je erfahrener die Spielgruppe ist, desto mehr Freiheit und Selbstbestimmung sollte man vermitteln. Gerade weil man im letzteren auf mehr Vorwissen zurückgreifen kann. Sowohl was Begriffe angeht, aber eben auch was Abläufe und das Spielerlebnis angeht.

Georgios Panagiotidis
Letzte Artikel von Georgios Panagiotidis (Alle anzeigen)