Im Rahmen der Schul- und Erwachsenenbildung wird immer häufiger betont, dass Medienkompetenz ein wichtiges und zentrales Thema ist. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit sich mit Medien auseinanderzusetzen, aber auch ihre Inhalte zu reflektieren und richtig einzuordnen. Nun sind Medien ein sehr weites Feld. Darunter fällt alles zwischen Film, Fernsehen, Videospiele, Social Media und so weiter. Es ist deutlich, dass jedes Medium eine eigene Form der Kompetenz benötigt. Wir setzen uns mit einem Film anders auseinander als mit Social Media.
Im Videospielkontext wird von Ludoliteracy gesprochen, wenn es um die Fähigkeit geht sich inhaltlich mit Videospielen auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend hier zu schauen, was eine „ludoliteracy“ für Brettspiele beinhalten würde. Was zeichnet Medienkompetenz in Spielen aus?
Der erste Schritt ist natürlich, die Fähigkeit ein Spiel überhaupt spielen zu können. Die Regeln schnell zu erfassen in dem man zum Beispiel ihre Einflüsse und Vorgänger erkennt, ist dabei eine Hilfe. Aber auch die Zusammenhänge zwischen den Regeln und ihre Wirkung auf einander zu verstehen, spielt in „Ludoliteracy“ hinein. Am Rande: der Begriff ist nicht ohne Probleme; da „literacy“ bereits Annahmen in sich trägt, die sich nicht ohne weiteres auf Spiele und Spielen übertragen lassen. Man mag versuchen können eine Spiel zu lesen (so wie man einen Kaffeesatz lesen kann), aber dieses Lesen bzw. Interpretieren des Spielthemas ist nicht gleichbedeutend mit Medienkompetenz.
Stattdessen geht es hier um die Summe an kritischen Fähigkeiten, um das Spielerlebnis zu begreifen und es in Worte zu fassen. In der nächsten Stufe gilt es darum das eben Artikulierte auch zu bewerten. Was haben wir hier tatsächlich getan? Wie beurteilen wir das?
Gerade wenn es um die erste Frage geht, wird hier oft unsachlich geantwortet. So wird die thematische Umschreibung des Spielgeschehens herangezogen, um über das zu sprechen was wir tun. „Ich greife Nordamerika an.“ (Risiko), „Ich kaufe Einwohner als Arbeiter ein.“ (Archipelago) oder „Ich setze eine Atombombe in dieser Stadt ein.“ (Sid Meier’s Civilization). Wir tun natürlich nichts dergleichen, entsprechend ist es auch hanebüchen diese Aktion auf ihren Wortlaut hin zu beurteilen. Selbst der Vorwurf der Verharmlosung entsprechender Handlungen, muss zuerst annehmen, dass die beschriebene Aktion in irgendeiner – wenn auch nur symbolhaften – Form ausgeführt wurde. Aber auch das ist selten bis nie gegeben.
Wir verstehen, dass Sir Anthony Hopkins kein kannibalischer Serienmörder ist, auch wenn er einen in „Das Schweigen der Lämmer“ spielt. Ebenfalls ist uns klar, dass Vladimir Nabokov nicht seine persönliche Überzeugung ausdrückt, wenn der Erzähler in „Lolita“ von der eigenen Obsession mit einem 12-jährigen Mädchen schreibt. Unsere Medienkompetenz in Film und Buch ist in den meisten Fällen weit genug ausgeprägt, um zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Ebenso ist uns klar, dass Fiktion als Mittel vorliegt, um damit eine bestimmte Wirkung zu erreichen.
Wenn es um Spiele geht, scheint es aber üblich zu sein, dass wir diese Grenze vergessen. In einzelnen Momenten ist das auch vollkommen nachvollziehbar. In einem Buch können uns die Geschehnisse tief in ihren Bann ziehen. In einen Film können wir voll und ganz in die Erzählung eintauchen. Das führt nicht selten dazu, dass uns die Ereignisse darin derart stark beeinflussen, dass wir auf sie reagieren als wären sie real. Unsere Emotionen unterscheiden nicht zwischen einem echten und einem fiktiven Gefühlsauslöser. Es sind andere Teile unseres Gehirns, die dafür sorgen solche emotionale Reaktionen zu relativieren oder bereits im Vorfeld abzufangen.
Um uns mit einem Spiel zu beschäftigen, müssen wir zuerst die thematisch-mechanische Ebene (d.h. die Beschreibung unserer Spielhandlungen) als in sich schlüssig und valide behandeln. Erst durch diesen Schritt werden die koordinierten Entscheidungen der Spieler*innen zu einem Spiel. Huizinga beschreibt das als Eintritt in den magischen Zirkel. Dieser Schritt ist ähnlich dazu wie wir in einem Buch oder Film das Erzählte als „valide und in sich schlüssig“ betrachten. Darum fühlen wir uns im Spielerlebnis gestört, wenn mit der inneren Logik des Spiels gebrochen wird oder bestimmte Situationen unsinnig wirken. Das umschreibt jedoch nur die grundlegendste Medienkompetenz, wenn es um Spiele geht. Es sind lediglich die notwendigen Fähigkeiten, um ein Spiel zu spielen.
Wenn wir von Ludoliteracy sprechen wollen, dann liegt es auf der Hand, dass wir über das grundlegende Verständnis von Spielen hinausgehen müssen. Wir müssen Medienkompetenz auch als Fähigkeit begreifen, Spiele nicht nur als Freiraum für Fantasie zu verstehen. Stattdessen müssen wir auch Spiel als Medium bzw. kulturelle Praxis erkennen und entsprechend beurteilen. Dazu gehört das Verständnis, dass Spiele auf Inhalte Bezug nehmen und uns diese zur spielerischen Beschäftigung anbieten. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Inhalte von Spielen untrennbar mit dem Spielen damit verbunden. Das Spiel kann nicht getrennt von seiner Nutzung betrachtet werden, genauso wenig wie wir den Spielakt vom Spiel unterscheiden können. Das Medium Spiel liegt erst dann als solches vor, wenn wir beides als Einheit erfassen.
Aber dieses Bestreben ist nicht nur Selbstzweck. Dahinter steht auch das Bedürfnis die eigene Beschäftigung mit Spielen zu vertiefen und das eigene Spielerlebnis zu bereichern. Der Wert der Medienkompetenz, auch abseits von Spielen, liegt nicht allein darin, dass man sich gegen Manipulation von außen schützen kann. Es geht auch darum, bewusster und tiefgreifender mit Medien umzugehen. Ludoliteracy macht es einfacher sich das Spielerlebnis zu erschließen. Aber sie verlangt auch die notwendige kritische Distanz, um das was am Tisch geschieht zu reflektieren und in einen Zusammenhang zu stellen, der über die individuelle Spielfreude hinausgeht.
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