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Ein Hoch auf das falsch spielen

Es ist kein großes Geheimnis, dass die meisten Brettspieler*innen einen Hang zur Überkorrektheit haben. Zumindest habe ich den Eindruck, dass es ihnen leicht über die Lippen kommt, andere Leute ungefragt zu korrigieren und Ungenauigkeiten, mögen sie auch noch so trivial sein, zu verbessern. Für manche mag das reflexhafte Besserwisserei sein, aber ich ziehe es vor es als Detailverliebtheit zu bezeichnen.

Viele sehen darin eine Stärke, die ihnen hilft, das richtige und damit hoffentlich auch beste Spielerlebnis aus einem Spiel zu holen. Dieser Hang zur Genauigkeit im Regelspiel ist gerade bei Kritikern beliebt, weil sie an eine saubere, nicht-kontaminierte Testumgebung erinnert, wie man es etwa in einer wissenschaftlichen Untersuchung voraussetzen würde. Wir reduzieren mögliche Faktoren, die zu einer falschen Messung führen, weil wir das Objekt exakt so nutzen, wie es die Anleitung vorgibt. Es ist eine Annäherung an eine neutrale, wenn nicht sogar objektive Ausgangslage, um ein Spiel zu beurteilen. Folgt man den Regeln aufs Haar genau, ist man in seiner Bewertung nicht angreifbar. (Anmerkung: LOL!)

Dadurch wird die Anleitung natürlich zu einem absolut zentralen Bestandteil des Spielerlebnis. Die Unfehlbarkeit der darin enthaltenen Worte wird mit diesem Ansatz vorausgesetzt. Im gleichen Zug ist die Verbindlichkeit an diesen Text bedingungslos und ausnahmslos. Es steht die Angst und auch die Überzeugung im Raum, dass wenn wir von den Inhalten des Regeltextes abweichen, das Spielerlebnis in sich zusammenbricht. Schlimmer noch, dass wir dann gar nicht das Spiel spielen, das wir gekauft haben, sondern irgendeine nicht-authorisierte Variante. Wir spielen das Spiel dann nicht mehr korrekt, richtig und wie von den Macher*innen gewollt, sondern nahezu widernatürlich!

Wir spielen falsch!

Das ist selbstverständlich überhaupt nicht tragbar. Wie jeder weiß, werden Leute, die etwas falsches tun, bestraft. Die Spielpolizei könnte jeden Moment an unsere Tür klopfen. Wenn schon nicht persönlich, dann zumindest als unser schlechtes Gewissen, dass wir unseren Ansprüchen, dem Spiel oder den Autor*innen nicht gerecht geworden sind.

Nun würde ich behaupten, dass es mindestens zwei dieser drei Gruppen vollkommen egal ist, ob wir die Regeln des Spiels richtig anwenden oder nicht. Selbst unter Kritikern ist eine falsche Regelanwendung erst dann ein Problem, wenn sie als Grundlage für die Beurteilung des Designs dient. Bis dahin ist es eine kleine Schludrigkeit, wie ein Fleck auf dem Smoking. Die meisten Menschen werden einen nicht allein danach beurteilen und die, die es tun, sollte man eh nicht ernst nehmen.

Erfahrungen mit falsch gespielten Spielen habe ich natürlich auch selbst gesammelt. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich ein Spiel auf den Tisch gebracht, welches wir – wie sich nach der Partie herausstellte – nicht richtig gespielt haben. Seitdem werde ich, wenn der Name des Spiels oder Regelfehler generell erwähnt werden, daran erinnert, dass wir die Partie des Spiels mal nachholen sollten. Ich bin von dieser Notwendigkeit weniger überzeugt. Der Regelfehler war sicherlich nicht vollkommen trivial, wie etwa Monopoly mit $50 mehr zu beginnen. Aber er war auch nicht so fundamental, dass das Spielerlebnis auf den Kopf gestellt wird. So als würde man bei Monopoly jedes Mal selbst entscheiden sich zwischen 2 und 12 Felder zu bewegen.

Der Regelfehler in unserem Spiel befand sich in seiner Schwere irgendwo dazwischen. Er hatte zur Folge, dass das Spiel länger dauerte. Das nahm einigen taktischen Entscheidungen den Zeitdruck. Statt sich frühzeitig auf ein bestimmtes Ziel festzulegen, konnte man ein paar Runden warten. Zugegeben, die taktische und strategische Dimension des Spiels hatte damit eine andere Gewichtung. Wenn wir das Spiel erneut und mit den „richtigen“ Regeln spielen würden, dann würden wir die Herausforderungen und Aufgaben des Spiels anders angehen. Die Spielstruktur hingegen, also der Rundenablauf, die Handlungsoptionen und auch ihre Verkettungen, blieb davon unberührt. Mit anderen Worten: das Spielerlebnis war, wenn auch nicht exakt so wie vom Design angelegt, zumindest deutlich erkennbar.

Die Erkenntnis, welche sich seit dieser Partie immer weiter in meinem Kopf festgesetzt hat, ist recht einfach: Regelfehler sind kein Drama. Es „entwertet“ mein Spielerlebnis nicht, wenn Regeln falsch verstanden und angewandt wurden. Auch die Qualität des Spielerlebnis wird nicht zwingend verändert, weil wir die Regeln höchst penibel eingehalten haben.

Natürlich ist es albern ein Spiel vorsätzlich mit falschen Regeln zu spielen. Das sollte klar sein. Aber ich halte es für ähnlich verfehlt, die exakte Regelanwendung zur höchsten Tugend am Spieltisch zu erheben. Zu oft lenkt dieser Anspruch unsere Aufmerksamkeit auf das Gerüst des Spielerlebnis, statt auf das Erlebnis selbst. Zu oft verbringen wir mehr Zeit damit unsere Regelanwendung zu hinterfragen und zu prüfen, statt uns darum zu kümmern, dass wir alle am Spiel teilhaben können.

Erst wenn wir alle keinen Spaß haben und unzufrieden sind, macht es Sinn sich die eigene Regelanwendung mit scharfem Blick anzuschauen. Vielleicht ist der Grund für den Unmut ja ein eben solcher, großer Regelfehler. Aber bis es dazu kommt, kann man sich durchaus die Erlaubnis geben ein Spiel auch mal falsch zu Ende zu spielen.

Georgios Panagiotidis
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