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Oh Mission Tree, Oh Mission Tree, wie groß sind deine Blätter!

Eines der Trends der letzten Jahre sind sicherlich Kampagnenspiele. Nicht, dass es die nicht schon vorher gegeben hätte, aber doch meistens in erster Linie bei Wargames. Bei einer solchen Kampagne werden dann die Schlachten in mehr oder minder historischen Reihenfolge nachgestellt. Diese Idee wurde jetzt auf andere Genres übertragen und die Kampagne wird genutzt, um eine größere Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte kann einzelne Partien miteinander verbinden (wie bei Gloomhaven, wo die Kampagne zwischen den Spielen stattfindet), wie bei einer Serie in einzelnen Episoden immer wieder auftauchen (wie bei Forgotten Waters) oder verschiedene Kapitel der großen Geschichte bieten, die notwendig sind, weil eine Partie zu lange und episch wäre (Pandemic Legacy Season 2 etwa). Gemeinsam ist, dass durch die Kampagne eine mehr oder weniger kohärente Geschichte erzählt werden soll. Die Partien sollen Puzzleteile einer Narrative bilden und so beeispielsweise ein Gefühl für die Geschichte der Welt bieten, narrative Anker für die einzelnen Spielerlebnisse anbieten oder gar die Narrarive selbst bilden. Die meisten dieser Spiele sind entsprechend zumindest teilkooperativ.

Dabei gibt es nun aber ein Problem: Was passiert wenn die Spielgruppe verliert? Was bedeutet das für die externe Narrative? Insbesondere stellt sich die Frage was dies für die Figuren und Orte bedeutet, die von den Spielenden dargestellt werden: Sind die tot? Ohnmächtig? Natürlich hängt die Lösung von der eigentlichen Story ab, die hier „nachgespielt“ werden soll. Aber da die meisten Spiele den Schwerpunkt auf die externe und nicht die interne Narrative legen, sind die Lösungsansätze recht ähnlich.

Das einfachste wäre, wenn die Kampagne in dem Moment endet, wo die Spielgruppe verliert. Das wäre (meistens) ein logisches Ende: Die Figuren sind tot, die Geschichte findet ein abruptes Ende. Mir fällt auf anhieb kein Spiel ein, dass diesen Weg ginge und das zu Recht. Zwar würde ein solches Erlebnis den emotionalen Impakt deutlich erhöhen, es wäre aber auch extrem unbefriedigend, da man ja wissen möchte, wie es weitergehen würde. Und auch die wenigsten Narrativen anderer Medien enden mit einer Niederlage der Helden – das sind wir nicht gewohnt. Tatsächlich wäre nicht zuletzt dadurch der Impakt, der Druck so groß, dass die Spielenden aller Wahrscheinlichkeit nach einfach schummeln würden. „Ach wir haben doch nicht verloren!“ So lange sich das Spiel nicht gerade selbst zerstört, endet der Einfluss der Regeln auf die Spielenden an diesem Punkt. Die Spielenden spielen weiter, der Druck ab diesen Punkt ist aber deutlich abgeschwächt, da so die Regeln ihre Autorität eingebüßt haben. Die Hürde für das zweite (und dritte, vierte…) Schummeln liegt niedriger als für das erste. Insgesamt also eine für alle unbefriedigende Lösung, denn niemand bricht den magischen Zirkel gern.

Fast ebenso einfach ist der Weg, den Computerspiele in der Regel bestreiten: Wer den Level nicht schafft, wiederholt den einfach. Also: Wer eine Partie nicht gewinnt, wiederholt diese. Der Druck, der dadurch fehlt, dass die Spielegruppe defacto nicht „dauerhaft“ verlieren kann, wird dadurch wieder reingeholt, dass niemand wirklich ein Abenteuer noch einmal spielen will – das Zeitinvestment ist hier quasi der Einsatz. Statt es noch einmal zu versuchen, würde man ja lieber weiter in der Kampagne kommen! Das funktioniert durchaus, allerdings mit jeder verlorenen Partie weniger. Je häufiger eine Partie wiederholt wird, desto mehr verkommt das Spielen zur Pflichtaufgabe. Damit steigt auch hier die Motivation zu schummeln oder eine Partie nach einem unvorteilhaften Anfang abzubrechen und neu zu starten, bis es perfekt läuft. Diese Methode ist also riskant: Sind die einzelnen Partien nicht ausgeglichen genug, besteht die Gefahr, dass die Gruppe die Motivation verliert, überhaupt noch (regelgerecht) weiterzuspielen. Das wird von einigen Spielen dadurch mitigiert, dass entweder die Anzahl von Wiederholungen von vorne herein begrenzt wird (Pandemic Legacy) und/oder die Gruppe bei der Wiederholung Vorteile bekommt – das kann eine bessere Ausgangslage sein, aber auch schlicht mehr Informationen, was möglich ist (T.I.M.E Stories benutzt diese Idee als Mechanismus für die Spiele, aber auch bei Kingdom Death Monster oder Die Abenteuer des Robin Hood hat man bei Wiederholungen Informationsvorteile ). Eine wirkliche narrarive Begründung für die Wiederholung findet in der Regel allerdings nicht statt, so dass die externe Narrative an dieser Stelle gebrochen wird.

Das zum „Eine Niederlage beendet die Kampagne“ entgegengesetzte Extrem wäre, dass der Ausgang einer Partie gar keine Auswirkungen auf die Kampagne hat. Das ist was im wesentlichen ja bei den oben erwähnten Wargames passiert. Allerdings verliert eine Niederlage dann einiges an „Einsatz“ oder besser gesagt: Entweder hat die Geschichte keine Bedeutung oder Sieg/Niederlage macht keinen Unterschied. Beides geht nicht und damit fallen die Synergieeffekte zwischen den narrativen Ebenen weg. Die Frage stellt sich, welchen Zweck die Kampagne in diesem Fall erfüllen soll (Bei Wargames ist diese Begründung informativ, d.h. , man lernt etwas über die Historie. Bei fiktiven Narrativen fehlt dieser Aspekt aber natürlich).

Die in der Überschrift angedeutete Möglichkeit, die beschriebenen Dilemmas weitestegend zu umgehen, ist der „Missionsbaum“: Je nach Sieg oder Niederlage geht die Kampagne in unterschiedliche Richtungen. Dann bilden die Partien und die Narrative eine Einheit; es geht um was, die Spielenden fühlen, dass ihr Tun direkte Konsequenzen auf die externe Narrative haben. Gleichzeitig ermöglicht diese Lösung ein erneutes Durchspielen der Kampagne, da eine andere Abzweigungen plötzlich ganz andere Teilbereiche des Baumes „freischaltet“ und die Geschichte in eine andere Richtung gelenkt wird. Nur: Das ist natürlich extrem aufwendig zu planen. Selbst wenn sich die Pfade immer mal wieder kreuzen bedeutet diese Methode ein unglaubliches „Mehr“ an nötigen Missionen, die im Zweifelsfall ja auch testgespielt werden müssen. Die Gefahr auf der Seite der Spielenden ist die Befürchtung nur einen kleinen Teil des Ganzen gesehen zu haben, nicht das vollständige Erlebnis gehabt zu haben, weil große Wege unbeschritten blieben. Außerdem stellt sich die Frage in welche Richtung die Geschichte geht, wenn die Gruppe immer wieder verliert. Wird irgendwann ein Ende erreicht, so wie oben? Sinnvoll wäre das, da sonst der Druck zu sehr wegfällt – und auch möglich, da die Kampagne ja hoffentlich besser wiederholt werden kann (und es bietet sich ein Ausgleichssystem an; die Ausgangslage wird vielleicht schlechter, aber die Spielenden bekommen vielleicht irgendwelche Boni, so dass die Chance zu gewinnen größer wird).

Kleine Anekdote zum Einschub: Die Entwickler von Wing Commander hatten für den ersten Teil einen genau solchen Missionsbaum erstellt; Bei Niederlagen gab es andere Missionen als bei Siegen. Nur haben sie festgestellt, dass die meisten Spielenden nach einer Niederlage, neu geladen und es erneut versucht haben. Ein Großteil der Missionen war somit überhaupt kein Thema. Später haben sie daher den Missionsbaum deutlich kleiner gestaltet. Lässt sich diese Erfahrung auf Brettspiele übertragen? Nur bedingt, denke ich. Zum einen ist die Hürde eines Neuversuches alleine vor dem Computer deutlich geringer als in einer Gruppe am Spieltisch, zum anderen weiß die Gruppe, in der Regel dass die Kampagne auch so mit anderen Missionen weitergeht, ergo es wird „nichts verpasst“ (bzw. nicht mehr verpasst, als wenn man gewinnen würde).

Descent 2 und Imperial Assault sind keine reinen kooperativen Spiele – die Gruppe kämpft gegen den „Overlord“ – und da es zwei Seiten gibt, muss die Kampagne eine Baumstruktur haben. Dabei geht insbesondere Descent 2 einen interessanten Mittelweg: Es werden eine Handvoll Missionen gespielt und je nachdem, welche Seite wie viele davon gewinnt, verläuft die zweite Hälfte der Kampagne anders. Dadurch wird der Missionsbaum nicht zu groß, aber die Spielenden merken, dass ihre Ergebnisse Auswirkungen auf die Spielwelt haben. Und das ist wichtig für eine narrative Kampagne. Hier liegt also ein möglicher Kompromiss vor.

Wie eingangs geschrieben: Kampagnen sind im kommen. Wie jedes Rädchen hat auch die Kampagnenstruktur Auswirkungen auf das Erlebnis am Spieltisch: Frust oder Spannung? Einzelne Erlebnisse oder ein kohärentes ganzes? Wie so oft muss auch hier die Form dem Ziel angepasst werden. Insbesondere das Frusterlebnis, dass durch immer wiederholte Scheitern im selben „Level“ entsteht, sollte verhindert werden, da hier die größte Gefahr besteht, dass die Gruppe die Kampagne vorzeitig abbricht.

ciao

peer

Peer Sylvester
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