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Were making a list, and checking it (more than) twice

Vor kurzem erregte ein Tweet etwas Aufmerksamkeit, nachdem Reiner Knizias Euphrat&Tigris aus der Boardgamegeek Top 100 – Liste verschwunden war und er nun kein einziges Spiel in den Top 100 mehr hätte – und das als der produktivste Autor und vermutlich auch der mit den meisten gewonnenen Spielepreisen (Die Liste ist gerade um die 100 herum sehr fluide, im Moment ist er gerade wieder drin).

Natürlich war dem Verfasser des Tweets und den meisten Antwortenden klar, dass die Boardgamegeek-Top-100-Liste eine Spielerei darstellt, nicht mehr. Die Notengebung auf BGG ist zu individuell, die Liste zu sehr von Verfügbarkeit abhängig, um jetzt wirklich etwas auszusagen. Letztlich kann man festhalten: Gibt es eine Möglichkeit Noten einzusehen, so wird über kurz oder lang jemand auf die Idee kommen einen Durchschnitt zu bilden. Und dann ist der zwangsläufige zweite Schritt die Durchschnittnoten miteinander zu vergleichen. Das scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein (einzige Lösung wäre die Notenskala so klein zu halten, dass erst aber der 8. Nachkommastelle oder so Unterschiede auftreten. Aber selbst dann…).

Mir ist aber etwas anderes aufgefallen: In anderen Medien gibt es Listen, die genauso willkürlich daherkommen: z.B. die IMDB-Liste der besten Filme oder die GoodReads-Liste der besten Bücher (sortiert nach Jahrhunderten, ich habe die 20. Jahrhundertliste verlinkt). Beide Listen haben dieselben strukturellen Probleme wie die Boardgamegeekliste: Die abstimmenden Personen haben nicht nur (naturgemäß) unterscheidliche Geschmäcker, sie setzen auch völlig unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe an. Es gibt keine allgemeine Hinweise, ob die Bewertungen die persönliche Meinung über das Buch/den Film darstellen sollen oder eine objektiviertere. Vor allem aber sind die Medien komplett Amerika-zentriert. Was im englischsprachigen Raum nicht verfügbar ist, hat bei Boardgamegeek keine Chance auf die Top 100. Ähnliches gilt bei den anderen Listen: IMDB hat unter den Top 100 sieben nicht-englischsprachige Filme und Goodreads lediglich 5 Übersetzungen (wenn ich mich nicht verzählt habe). Dass verschiedene Ausgaben desselben Spieles mehrfach vertreten sind (Wie Through the ages, Twilight Imperium oder Agricola) finden wir in ähnlicher Form auch bei Goodreads. Die klassischen Probleme von Listen, die auf persönlichen Noten bestehen, also.

Doch in einem Aspekt hebt sich Boardgamegeek doch sehr stark von vergleichbaren Listen ab: „Klassiker“ sind vergleichsweise rar. Jemand der sich bis Ende der 90er intensiv mit Brettspielen auseinandergesetzt hat, im Jahr 2000 aber aufghört hat, wird lediglich drei Spiele der Liste kennen: Crokinole, El Grande und Euphrat&Tigris. Keines davon ist in den Top -50. Der erste Titel der Nullerjahre ist erst auf Platz 13 – Twilight Struggle. Alleine in den Top-5- sind drei Spiele aus den letzten 5 Jahren zu finden (darunter allerdings zwei Versionen von Gloomhaven). Die anderen Listen sind deutlich gemischter. Sicherlich finden sich auch dort neue Phänomene, die vielleicht etwas höher stehen, als sie in 10 Jahren stehen werden, aber die fallen nicht allzu groß auf. Warum ist das so?

Die erste Überlegung ist, dass Brettspiele einfach besser werden. Da ist sicherlich etwas dran, erklärt aber nicht die absolute Überlegenheit der letzten 10 Jahre. Es gibt zahlreiche Spiele, die nicht umsonst als zeitlose Klassiker gelten: Siedler von Catan, 1830 oder Cosmic Encounter etwa. Lediglich zwei Spiele des Jahres finden sich in der Liste (neben El Grande noch Azul). Auch unter Vielspielern beliebte Bestseller wie Carcassonne fehlen ebenso. An der Qualität alleine liegt es also nicht.

Die zweite Möglichkeit wäre Verfügbarkeit. Anders als Bücher oder Filme, die zumindest ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad eher leicher als schwieriger zu finden sind, kann man nicht einfach ein klassisches Spiel „streamen“. Alte German Games hatten einfach nicht die Verbreitung im englischsprachigem Raum, um die Liste zu knacken. Auflagen sind heute im allgemeinen höher als früher, da die spielerische Basis gewachsen ist. Doch auch das Argument ist bei näherer Betrachtung nicht haltbar: Gerade die erwähnten Klassiker sind allesamt mehrfach aufgelegt worden. Von exotischen Sonderfällen (wie Ludoliere-Spiele oder lange Zeit Dune)  wo Recte blockiert sind, finden sich genügend Verlage die bereit sind mit alten Schätzen neue Kohle zu machen. An dieser Stelle funktioniert der Kapitalismus – es ist kein Zufall, dass Spiele als Spekulationsobjekte seltener geworden sind. Was gut ist, kommt wieder, was schlecht ist, will keiner haben – und kommt eh nicht in die Top-100.

Die einfachste ubd logischte Erklärung ist, dass es einen Bias gegenüber neuen Spielen gibt. Das ist sicherlich der Fall, aber die Frage bleibt, warum das so sein sollte. Ich glaube dass der Grund im Connoisseur-Verhalten der Spieleszene liegt: Ein Brettspiel-Connoisseur- sowie der Begriff IIRC von Eric Martin mal definiert wurde – ist ein vielspielende Person, die weniger die Tiefe von einem oder wenigen Spielen erforscht -wie es ein:e Schach- oder Skatspieler:in tun würde- sondern in die Breite geht und möglichst „alles wichtige“, also alle für ihn oder sie relevanten Titel ausprobiert. Es geht ums Kennen lernen, weniger um das erforschen. Das ist kein Makel (ich bin ganz klar ein „Brettspiel-Connoisseur“ nach dieser Definition), sondern nur eine Frage dessen, was interessiert. Der große Unterschied zu der entsprechenden Person im Film oder Buchbereich ist die Fokussierung auf das Neue. Ein:e Filmliebhaber:in dagegen wird zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit (auch) die Klassiker sehen wollen. Wer sich selbst als Kenner:in amerikanischer Literatur versteht, wird früher oder später auch Wen die Nachtigall stört oder Der Fänger im Roggen anfassen. Dieser Wunsch die Klassiker -etwa ein Civilization oder Pit oder Catan – auszuprobieren ist im Spielebereich sehr viel geringer ausgeprägt; Ja, es reizt vielleicht schon einmal Hase&Igel zu spielen, aber der neue Lacerda reizt mehr. Ein Grund dafür wird sein, dass viele Klassiker (zur Recht oder zu Unrecht) einen schlechten Ruf haben. „Brettspiel-Klassiker“ wie man sie in der Bevölkerung versteht, sind ja Spiele wie Risiko, Monopoly, Fang den Hut, Malefiz oder Scrabble. Also genau die Spiele, von denen sich ein modernes Brettspiel abzusetzen versucht. Dieses Bild von „Klassiker“ hat sicherlich das Bild vom modernen Spiel geprägt, das um so besser ist, desto neuer es ist.

Der zweite Grund ist m.E, in der Austauschkultur der Brettspielszene zu suchen. Anders als Bücher oder Filme konsumiert man Spiele ja nicht allein, sondern immer im Austausch miteinander. Während ich ein langes Wochenende nutzen könnte, um mir (z.B.) die mir noch unbekannten Filme von IMDBs Top 20 anzusehen, bin ich bei einem Brettspiel davon abhängig, was die Mitspielenden kennenlernen wollen. Und die wollen (vielleicht) ebenfalls nicht die Klassiker, sondern lieber auch die Spiele, über die „man“ gerade spricht. Das sind nun einmal die aktuellen. Ein Austausch über ältere Spiele findet kaum statt (eigentlich nur wenn eine besonders schicke Neuauflage auf den Markt kommt) – das hat etwas mit der -nicht unberechtigten – Angst vor Gatekeeping zu tun, ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Spieleszene im Vergleich mit Büchern oder Filmen immer noch eher klein ist; Es sind schlicht zu wenig Leute da, um über die neuen UND über die Klassiker zu philosophieren, also konzentriert man sich auf aktuelles. In der wachsenden Spieleszene werden also die aktuellen Spiele mehr gespielt und mehr diskutiert und bekommen daher mehr Stimmen bei Boardgamegeek und werden daher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Top-100 knacken. Wenn die Spielszene irgendwann ein zahlenmäßiges Plateau erreicht hat, dann kann die Top-100 auch eher die Form annehmen, wie sie mit anderen Top-Listen vergleichbar ist. Im Moment wird das Dazugehörigkeitsgefühl am ehesten dadurch befriedigt, dass man über die aktuellen Hits oder angekünfigte Kickstarter spricht.

ciao

peer

Peer Sylvester
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