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Noten als Waffe

Die Kinobewertungsseite Rotten Tomatoes hat vergangene Woche ein Feature abgeschafft, mit dem nicht erschienene Filme bewertet werden konnten – so als „Wie heiß bin ich auf diesen Film???“-Button. Ich meine, nichts anderes haben wir bei BGG ja auch – die bestbewertesten Spiele sind die, die noch gar nicht erschienen sind. Der Grund für die Maßnahme war, dass zahlreiche „Alt“-Right-Trolle koordiniert die niedrigste Bewertung bei Captain Marvel gezogen haben, weil die Hauptdarstellerin Brie Larson sich kurz vorher in einem Interview für mehr Diversität ausgesprochen hat (die Kommentare waren etwas stärker fomuliert). Das war nicht das erste Mal, dass etwas ähnliches passiert ist, dasselbe konnte man schon bei Wonder Woman und der Neuauflage von Ghostbuster beobachten, teilweise auch schon vor erscheinen eines Trailers. Dieses Mal wurde dann die Reißleine gezogen.

Und was hat das ganze mit Spielen zu tun? Nichts. Aber ich habe mich natürlich gefragt, ob so etwas in der Spieleszene möglich ist. Nach kurzem Nachdenken ist mir die Unsinnigkeit der Frage selbst aufgefallen. Natürlich ist das möglich – das gibt es ja schon! Wenn auch bislang nicht in der Größenordnung.

Boardgamegeek ist eine unglaublich gute Datenbank. Und sie erlaubt den Usern individuell Noten und Meinungen zu jedem Spiel zu schreiben. Wie derartige Meinungen interpretiert werden, ist prinzipiell jedem selbst überlassen, aber wer bei einer Spielewertung von 4,7 nicht auf einen Blinnkauf verzichtet, der werfe den ersten Stein. Die Durchschnittsnoten (in welcher Geschmacksrichtung auch immer) sind natürlich absolut unperfekt, aber man nutzt sie ja doch bis zu einem gewissen Grade. Und da ist es immer ärgerlich, wenn einzelne User aus den merkwürdigsten Motiven heraus Extremnoten ziehen: Sei es damit ein Spiel auf Platz 1 landet (wie damals als Pandemic Legacy sich anschickte auf Platz 1 zu kommen und deswegen ein regelrechter Votingkampf zwischen Anhängern und Gegnern von Twilight Struggle entbrannte), sei es weil sie damit nur ausdrücken wollen, dass sie sich das Spiel nicht näher ansehen wollen, weil es das falsche Genre ist.  Und es gibt auch durchaus eine Reihe von Noten gegen bestimmte Personen:

Vor einer Dekade war ein gewisser Jeff Widderich auf Boardgamegeek so etwas wie Staatsfeind Nummer 1. Widderich war der Kopf hinter dem Verlag „Cardchess“ und als solcher für ein paar merkwürdige Praktiken verantwortlich. So drohte er die Spiel des Jahres Jury zu verklagen, weil Kreuzwort Pyramiden nicht zum Spiel des Jahres nominiert wurde, auf BGG stellte er massenhaft 10er-Bewertungen eigener Spiele ein und ging Kritiker heftig an. Daraufhin wurden seine Spiele massiv runtergewertet, aus Prinzip. Auf seinen Druck dann wurden die Spiele zeitweise aus der Datenbank entfernt und dann wieder neu eingestellt. Heute finden sich nach diesem An- und Ausschaltennur noch wenige Hass-Einser-Bewertungen – die Spiele sind mittlerweile in Vergessenheit geraten, so dass die Downvoter einfach irgendwann nicht mehr nachgehalten haben.

Zu obskur? Generell unsympatische Person? Als Agricola rauskam war es ein ziemlicher Hit. Dann hatten einige BBGler die „tolle“ Idee das Spiel nach einem Gathering of friends komplett herunterzuvoten, weil sie es lustig fanden, sich vorzustellen, wie „the cool kids come back from the Gathering to find their beloved game has a very low rating“. Ein Lookout-.Mitarbeiter fand das weniger lustig und regte sich ziemlich auf. Das wiederrum nahmen ihm einige der Leute übel und behielten ihre 1er-Wertung statt sie (wie vereinbart) wieder rauszunehmen. Keine Ahnung ob noch welche 1er aus der Zeit übrig sind, zumindest entsprechende Kommentare sind keine mehr dabei (aber, mein Gott, können sich Leute aufregen, wenn ein Spiel, das sie nicht mögen, eine hohe Wertung hat…). Die Reaktion des Mitarbeiters ist auch durchaus nachvollziehbar, denn im Kennerspielbereich sind gerade die frühen Noten nicht unwichtig – ein früh hochgelobtes Spiel schaut sich die Zielgruppe eher an, während ein Spiel mit niedrigen Noten untergehen kann – Das Spiel wird vom flüchtigem Beobachter als „uninteressant“ abgetan (letztlich zielen die Downvoter ja auch auf diesen wirtschaftlichen Effekt).

In beiden Fällen sollte das Verhalten einer Person bestraft werden. Aber beide Fälle sind dennoch nicht mit Captain Marvel zu vergleichen, denn selbst in der Hochphase waren es deutlich weniger „Hass-Bewertungen“  und es fehlt die politische Seite: Es wurde nicht speziell außerhalb von BGG dazu aufgerufen worden, hier gezielt die Noten herunterzuvoten, um gegen das Spiel zu protestieren. Und selbst wenn die Spieleszene eher linkslastig ist (eine im Spielbar-Hauptquartier nicht ununmstrittene Theorie) ist doch nicht ausgeschlossen, dass Spiele in das Kreuzfeuer von Trolls gelangen könnten. Insbesondere gerade weil die Spieleszene diverser und Spiele potentiell politischer werden:

Gegen CO2 liefen tatsächlich Klimaleugner Sturm („No chance I would ever buy this game. Leftist politics are mind blowing in real life. There is no way getting the Jack boot of leftist ideology crammed down my throat would constitute entertainment. Could you imagine the UN taxing developed countries based on the hoax of global warming? That’s a good way to make the whole world the third world. Political hoaxes and games don’t mix. Do not buy.“ ist immer noch auf BGG zu lesen) und weil bei One Deck Dungeon nur weibliche Charaktere mitgemacht haben, gab es schon Beschwerden („The most überfeminazi game in the world.“) .

In beiden Fällen gab es aber keine koordinierten Angriffe und die politischen Kritiken verschwanden im Rauschen. Sind Brettspiele also doch immun? Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Ich denke es ist auch eine Frage der Verbreitung. Im Moment sind Brettspiele einfach noch nicht gesellschaftlich relevant genug, um Captain-Marvel-ähnliche Attacken zu provozieren. Auch lösen die wenigsten Brettspiele so tiefe „Ownership“-Gefühle aus Comicfiguren oder Filme aus der Kindheit – Warum das so ist, ist aber ein Stoff für einen anderen Blogpost… Auf jeden Fall hätte dies, sollte die These stimmen, also auch eine positive Seite.

Nun könnte man natürlich auf die Idee kommen, meine Argumentation gegen mich zu verwenden und zu fragen: Was ist denn wenn ein Spiel runtergevotet wird, weil der Autor eine toxische Person ist, der Minderheiten auf sozialen Plattformen angreift? Ich würde sagen, dass eine „Runtervote“-Kampagne dann immer noch der falsche Weg ist. Natürlich kann ich diese Person blocken, seine Spiele boykottieren und auch auf BGG und anderswo Artikel schreiben, aufklären. Es steht mir natürlich auch frei, die Spiele aus Prinzip runterzuvotem, doch muss mir klar sein, dass ich damit auch die Funktion der Seite ein Stückweit sabotiere, weil die Durchschnittsnoten eben eine andere Aussage bekommen. Eine gerichtete Kampagne um Noten quasi als Waffe zu verwenden sehe ich aber in jedem Fall als nicht unkritisch an. Sicherlich wäre ich weniger traurig in diesem Fall über eine entsprechende Kampagne. Aber das Bewerten eines Spieles trifft mehr Umherstehende als das eigentliche Ziel. Der geeignete Weg ist das nicht unbedingt.

 

ciao

peer

 

Peer Sylvester
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