spielbar.com

Die εὕρηκα-Schwelle oder die Annahme der Handlungsfähigkeit

Aus der Filmwissenschaft, hat sich die Spieleszene irgendwann den Begriff der Immersion entliehen. Es ist das Eintauchen in eine Fiktion, welche unsere gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Damit das überhaupt möglich ist, benötigt es aber die „suspension of disbelief“ seitens des Publikums. Man muss in der Lage sein darüber hinwegzuschauen, dass alles Gezeigte nur gespielt und gestellt ist. Das lässt sich in Science-Fiction Filmen am Anschaulichsten zeigen. Das Aussehen von außerirdischen Wesen, das Reisen zu anderen Planeten oder etwa die Möglichkeit durch die Zeit zu reisen, muss von den Zuschauenden als valide und legitim akzeptiert werden, denn sonst kann die Geschichte nicht funktionieren. Man muss das Gezeigte dabei nicht für wahrhaft und authentisch halten, sondern nur gewillt sein es im Rahmen der Erzählung zu akzeptieren.

(Am Rande: das gilt natürlich auch für sogenannte „realistische“ Dramen, die oft von den Zuschauern einfordern ein bestimmtes Verhalten für nachvollziehbar und schlüssig zu halten. Etwa die ungehemmte Gewaltbereitschaft von Verbrechern oder auch die Kompetenz und Ehrenhaftigkeit von Polizisten.)

Immersion in einem Film ist nur möglich, wenn die suspension of disbelief gewahrt ist. Über Immersion möchte ich heute aber nicht schreiben. Interessanter – und Thema dieses Artikels – ist das Brettspiel-Gegenstück zur suspension of disbelief. Denn diese arbeitet in einem Brettspiel nicht darauf hin, das Setting des Spiels möglichst authentisch und glaubwürdig zu präsentieren. Es geht hier eben nicht darum, Zweifel an einer etwaigen Abbildung des Settings klein zu halten. Die gründliche und sorgfältige Recherche des Hintergrundes führt in der Regel nicht dazu, dass wir uns stärker und tiefer mit dem Spielerlebnis befassen. Auch ist die Einbeziehung repräsentativer und identitätspolitisch zugehöriger Personen bei der Spielentwicklung kein Garant dafür, dass das Spiel besser, runder und intensiver erlebt wird. (Mehr Diversität in der Spielentwicklung muss nie gerechtfertigt werden. Aber selbst wenn, wäre das Argument dafür nicht an dieser Stelle zu finden.)

Damit ein Spiel sich voll und ganz entfalten kann und die gesamte Aufmerksamkeit der Spielenden auf sich ziehen kann, benötigt es eben nicht die Unterdrückung des Zweifels (am Setting des Spiels), sondern die Annahme der Handlungsfähigkeit (die assumption of agency).

Das beschreibt das Vertrauen in die eigene Fähigkeit proaktiv am Spiel teilnehmen zu können. Es ist die Überzeugung, dass man in der Lage ist im Rahmen des Spiels handlungsfähig zu sein oder zumindest im Spielverlauf dazulernen und sich verbessern wird. Das mag für manche trivial klingen, aber ist dennoch ein ganz grundlegender Baustein, um überhaupt ein Spielerlebnis zu ermöglichen. Wenn Spieler*innen diese Annahme nicht aufrecht erhalten können, z.B. weil die Regeln besonders undurchsichtig wirken, die Mitspielenden auf einem weit höheren Niveau zu spielen scheinen oder der Spielverlauf als einschränkend und strafend wahrgenommen wird, funktioniert das Spiel effektiv nicht. Statt das Spiel zu spielen, experimentiert man lediglich und löst Regeleffekte aus.

Diese Hürde müssen Spieler*innen bei jeder neuen Spielerklärung und Anleitung zu nehmen wissen. Sie müssen das Gefühl haben, dass sie aktiv den Verlauf des Spiels verändern können. Etwa in dem sie sich Ziele setzen und diese dann verfolgen. Oder in dem sie sich zutrauen auf jede Spielsituation mit Hilfe der bekannten Handlungsmöglichkeiten reagieren zu können.

Erst wenn sie sich zutrauen mit einer gewissen Wirkungsmacht im Spiel handeln zu können, kann man davon sprechen das Spiel tatsächlich zu spielen. Erfahrene Spieler*innen kennen diese Entwicklung nur zu gut. Beinahe jedes Spiel beginnt in einem gewissen Unvermögen das Spiel spielen zu können und geht – im Idealfall – in die Überzeugung über das Spiel begriffen zu haben. Es macht „klick“ und man versteht was man zu tun hat, die εὕρηκα-Schwelle wurde überwunden und ab diesem Punkt kann das Spiel richtig losgehen.

Dieser Anblick kann entmutigen, oder eine schaffbare Herausforderung ankündigen

Das Überschreiten dieser Schwelle bzw. diese Annahme der Handlungsfähigkeit muss von den Spielenden gemacht werden. Sie kann weder durch einen Regelpassus vorgeschrieben, oder durch einzelne Designentscheidungen garantiert werden. Es gibt jedoch durchaus Details an einem Spiel, welche es neuen Spieler*innen erschweren kann sich agency zuzusprechen.

Das beginnt bei Dingen wie der Menge und Feinkörnigkeit der Regeln. Je stärker ausgeprägt sie sind, umso schwerer fällt es sich zuzumuten diese aktiv und zielgerichtet zu nutzen. Als Beispiel sei hier etwa Civolution genannt, welches zwar mit dem Label „Expertenspiel“ bereits viele Leute abschrecken soll, aber auch unter selbst-ernannten Experten oft eine lange Reihe an „Versuchspartien“ einfordert, bevor diese sich genug Kompetenz zusprechen, um voll und ganz in das Spielerlebnis eintauchen zu können. Entsprechend ist die Aufarbeitung des Regelheftes in vielen Rezensionen so gelobt worden. Denn hier wurde konkret darauf hingearbeitet die εὕρηκα-Schwelle näher zu bringen.

Vergleichbares gilt natürlich auch für Spielkomponenten. So imposant hunderte von Miniaturen, Karten und Plättchen auch sein mögen, so schnell kann man daran zweifeln sie jemals in den Griff zu bekommen. Das Paradebeispiel dafür ist vermutlich Twilight Imperium, welches auch gestandene Expertenspieler*innen einzuschüchtern weiß, da neben der Masse an Spielmaterial auch eine sagenumwobene Spieldauer hinzukommt.

Anleitungen und vor allem Spielerklärungen profitieren darum davon, wenn sie nicht als eine Reihe von Verboten, sondern als ein weit gefächertes Angebot an Möglichkeiten präsentiert werden. Wenn der Fokus darauf liegt Spielende zum Spielen zu befähigen, statt sie lediglich über die Zwänge und Einschränkungen durch die Spielregeln zu belehren, macht man es ihnen einfacher den eigenen Heureka-Moment zu erleben.

Das zeigt meiner Meinung nach, dass es sich bei der assumption of agency (wie auch bei der suspension of disbelief) um ein psychologisches Verhaltensmuster handelt, welches erlernt und damit auch verändert werden kann. Es geht im Kern darum sich selbst die Fähigkeit und das Können zuzusprechen, welches für das Spiel benötigt wird.

Der Umgang mit Würfeln veranschaulicht dieses Phänomen recht gut. So gibt es Spielende, welche den Gebrauch von Würfeln als Mangel an agency verstehen. Erst wenn das Spiel Möglichkeiten bietet die Ergebnisse in irgendeiner Form zu verändern, sehen sie sich wieder als aktiv handelnde statt als passiv erlebende Teilnehmer*innen am Spiel. Tauscht man solche Würfel gegen einen Kartenstapel mit einer theoretisch erlernbaren Menge an Einzelkarten (z.B. mit verschiedenen Zootieren) aus, verschiebt sich der Blick auf das Spielgeschehen. Die Handlungsfähigkeit bzw. agency der Spielenden wird nun als möglich angenommen und man spielt darauf hin sie zu erwerben.

Damit ein Film immersiv erlebt werden kann, muss das Publikum versuchen das Gesehene nicht anzuzweifeln, sondern als geltend zu akzeptieren. Eine vergleichbare Situation findet sich auch in Brettspielen wieder. Damit der magische Zirkel überhaupt entstehen kann, müssen die Spieler*innen daran glauben können, handlungsfähig zu sein und gezielt auf den Spielverlauf wirken zu können. Sie müssen die εὕρηκα-Schwelle überschreiten und von “ich kann das nicht” zu “jetzt hab ich’s!” gehen. Erst dann ist das Spiel keine Lernaufgabe mehr, sondern kann einfach Spiel sein.

Georgios Panagiotidis