Autoren: Stefan Feld
Illustrationen: Dennis Lohausen
Verlag: Deep Print Games
Für 1-4 Spieler*innen
Ab 14 Jahren
Dauer: 90-180 Minuten
Der Philosoph Bernard Suits hat in seinem Buch „The Grasshopper“ einen oft-zitierten Satz niedergeschrieben: „Playing a game is the voluntary attempt to overcome unnecessary obstacles.“ (zu deutsch etwa: „Ein Spiel zu spielen ist der freiwillige Versuch unnötige Hindernisse zu überwinden“.)
Suits Zitat ist ein Bonmot, welches gerne ausgekramt wird, wenn man besonders gewitzt und belesen daherkommen will. Erwähnt es doch auf elegante Weise die grundlegende Absurdität des Spielens und betont dabei gleichzeitig den Wert der Anstrengung. So als würde man sagen: ja, natürlich ist ein Spiel nur ein Spiel; aber man kann sich darin hervorragend abarbeiten. Das ist eine kurze, aber treffende Zusammenfassung von Civolution.
In der etwas umfangreicheren Umschreibung von Civolution muss man erwähnen, dass es thematisch eine Computer-Simulation einer menschenartigen Zivilisation ist. Wohlgemerkt wurden die ausdrücklich historischen (und anachronistischen) Verweise auf unterschiedliche Kulturen der Menschheitsgeschichte entfernt. Während sich ein Sid Meier’s Civilization oder auch ein Through the Ages damit brüstet Karten mit realen Orten oder Personen zu schmücken, fehlen diese erzählerischen Verzierungen bei Civolution.
Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil es Civolution nicht an Optionen mangelt. Im Gegenteil, die Menge an unterschiedlichen Karten, Plättchen und symbol-basierter Spielsprache ist das große Argument mit dem Spielgruppen überzeugt werden sollen. Die Zahl der möglichen Kombinationen und Effekte, die man sich im Lauf des Spiels erschließen kann, ist enorm. Würde man sich die Mühe machen sie auszuschreiben, käme vermutlich die Telefonnummer von Stefan Feld heraus.
Civolution ist als Spiel im mechanischen Sinne ein beeindruckender Koloss. Das persönliche Spieltableau ist ausklappbar und nimmt dabei so viel Platz ein, wie andere Designer bei Spielbrettern für vier Mitspieler*innen beanspruchen. Man startet mit über 20 Standardaktionen, die sich noch verbessern und ausbauen lassen. Es gibt 15 verschiedene Ressourcen, die man sich zu Nutze machen kann und mindestens ein Dutzend unterschiedlicher Siegpunktquellen, die man im Laufe einer Partie möglichst effizient anzapfen möchte. Diese sind alle miteinander verknüpft, wie es derzeit Mode ist. Aber um dem großen Schreckgespenst dieser Designphilosophie („Was wenn man die optimale Siegstrategie ausrechnen kann?“) entgegen zu wirken, sind diese Verknüpfungen hochgradig variabel. Das bedeutet je nachdem welche Karten man zieht, welche Würfelergebnisse man hat und auch wie das gemeinsame Spielbrett aussieht, muss man die eigene Strategie anpassen und weiterentwickeln. Mit anderen Worten: in jeder Partie muss man sich erneut daran abarbeiten, wie man aus den vielen Kombinationen das bestmögliche Ergebnis herausholt. Zu diesem Zweck bietet Civolution die wichtigste und einzige Belohnung, die Spieler*innen bekannt zu sein scheint: Siegpunkte.

Das ist die Kernspannung, die Suits in Wort gefasst hat und die Civolution umsetzt: unter der Flut an Optionen, variablen Spielelementen und noch mehr symbol-basierter Spielsprache bleibt ein Spiel, welches unzählige Möglichkeiten bietet etwas zu tun. Aber alles davon fühlt sich etwas trivial an. Man hat lediglich einige unnötige Hindernisse überwunden.
Es wäre falsch diese Dinge mit Langeweile gleich zu stellen. Civolution ist nicht langweilig. Auch wenn das Erschließen von Siegpunkten sich – zumindest wenn man für einen Moment die Augen vom Tisch nimmt – sinnfrei anfühlt. Thematisch zieht man die Strippen einer Zivilisation, die man allein auf die Nutzbarkeit ihrer Errungenschaften reduziert. Aber dafür, dass man hier eine „god-like“ Perspektive einnimmt (wie man sie aus Spielen wie Populous, Civilization u.ä. kennt), bleibt die Zivilisations-Marionette, vergleichsweise gesichtslos. Ihre Errungenschaften und Leistungen wirken austauschbar. Unser Wirken auf den Spielausgang ist eher ein Ablaufen von Effizienzentscheidungen, als ein Spielen eines Spiels.
Nachdem ich meine ersten Eindrücke von Civolution mitgeteilt hatte, wurde ich gefragt mit welchen Erwartungen ich an das Spiel gegangen bin. Ich antwortete kurz und knapp: „mehr Spiel und weniger Verwaltungsaufwand“. Damit hatte ich jedoch den typischen Kritiker*innen-fehler begangen: ich habe den Spielspaß in den Entscheidungen gesucht, die ich fällen konnte. Dieser Ansatz ist bei manchen Spielen angebracht, aber nicht bei allen. Einige Spiele leben vom Verhandeln am Spieltisch. Andere Spiele brauchen ein wenig Theaterspiel, wenn wir die uns zugewiesene Rolle darstellen und wie sie zu sprechen versuchen. Wieder andere Spiele sind ein visuelles und haptisches Fest, bei dem wir uns vorstellen können die wildesten Abenteuer zu erleben. Der Verwaltungsaufwand ist bei Civolution Teil des Spielerlebnis. Er trägt einen beträchtlichen Beitrag dazu bei Civolution erneut spielen zu wollen.
So wie ein 5000 Teile-Puzzle seinen Reiz nicht allein darin findet ein schönes oder auch schwieriges Motiv zu rekonstruieren. Ab einem bestimmten Punkt ist das Sortieren, Ordnen und systematische Vorgehen, um das richtige Puzzlestück zu finden untrennbar mit der Freude am fertigen Bild gekoppelt. Es ist eben dieser Aufwand und diese Mühe, die Civolution reizvoll macht. Die Verwaltung der 20 Aktionen, 16 Sonderfertigkeiten und 12 Siegpunktquellen ist eben kein störendes Element des Spieldesigns, sondern die notwendige Vorbedingung für das vollständige Spielerlebnis. Es ist diese Fülle und dieser Aufwand, der Civolution zu einem epischen Spiel macht. Das korrekte Ausführen der einzelnen Aktionen und Abläufe, sowie die Anwendung des verinnerlichten Regelwissens, führt dazu, dass wir uns fähig und kompetent fühlen. Obwohl dieses Gefühl die Vorbedingung für ein positives Spielerlebnis ist, wird nicht jedes Spiel auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Überraschend viele Designer und Verlage sehen es nicht als ihre Aufgabe Spieler*innen dabei zu helfen an diesen Punkt zu gelangen. Stattdessen werden wiederholte Spielpartien eingefordert, in denen sich „das Spiel entfalten soll“.

Civolution macht diesen Fehler dankenswerterweise nicht. Es ist der oft und wiederholt gelobten Arbeit von Viktor Kobilke zu verdanken, dass man diese Art der Spielfreude bei Civolution schon im Laufe der ersten Partie erleben kann. So werden die Grundlagen gelegt, um Spieler*innen zum Spielspaß zu führen. Sobald sie sich innerhalb der Regeln und Abläufe sicher fühlen, trauen sie sich auch zu unterschiedliche Strategien und Spielweisen auszuprobieren. Die notwendige kognitive Arbeit, um die unterschiedlichen Ideen und Konzepte des Spiels zu sortieren und einzuordnen wurde mit Hilfe des Spielmaterials und des Regelhefts wurde deutlich vereinfacht. Hier wurde Vorbildliches geleistet. Wie wirkungsvoll hier gearbeitet wurde, erkennt man auch daran, dass einige Experten die Komplexität des Spiels bereits herunterspielen. Man kann schwer damit angeben ein komplexes Spiel in kurzer Zeit erlernt zu haben, wenn Civolution diese Errungenschaft fast jedem möglich macht.
Dennoch bleibt Civolution im Kern ein mentales Ausdauerspiel. Man muss durchgehend den Fokus auf dem Spiel halten und abwägen welche Option die eigene Aktionskette effektiv weiterführt. So erzeugt das Spiel einen Quasi-Flow-State. Es fordert von Spieler*innen ein die eigene Konzentration über die gesamte Spieldauer auf einem bestimmten Niveau zu halten. Diese Menge an Handlungsmöglichkeiten induziert einen Zustand, den man am Besten als spielerischen Tunnelblick beschreiben kann. Damit bleibt Civolution der Aussage von Suits treu. Mehr noch, es erfüllt sie im Übermaß. In diesem Sinne wäre Civolution nicht nur ein Spiel, sondern der Inbegriff eines Spiels.
Aber das sehe ich nicht so. Ich halte ein solches Spielverständnis für reduktiv und oberflächlich. Natürlich gibt es Hindernisse in Spielen. Natürlich ist das Überwinden dieser Hindernisse eine Umschreibung des Spielakts. Die Leidenschaft, die Spiele entfachen können, lässt sich aber beim besten Willen nicht durch das Lösen irgendwelcher Aufgaben erklären. Ich möchte glauben, dass Spieler*innen nicht allein davon angetrieben sind mentale Kunststücke für Siegpunkte zu vollbringen. Ich denke, dass Spiele mehr bieten können als nur das Optimieren von Zügen und den abschließenden Vergleich zwischen den Teilnehmer*innen.
Hier nun kommt Civolution, trotz seiner Materialfülle und der akribischen Vorsortierung an Regelvorgaben und -einschränkungen, ins Straucheln. Denn obwohl man gottgleich über das Schicksal einer ganzen Zivilisation waltet und dessen Anpassung an die Umwelt vornimmt, bleibt außer der erlebten Anstrengung wenig übrig. Es gibt keine überraschenden Wendungen oder dramatischen Höhepunkte. Jedes Risiko, welches man eingehen könnte, setzt lediglich aufs Spiel wie effizient und mühelos der nächste Zug sein wird. Jeder Rückschlag schlägt sich in einem weniger produktiven Zug, oder ein paar Siegpunkten weniger nieder. Die emotionale Bandbreite von Civolution ist überschaubar. Das Design wagt es nicht die Entscheidungen von Spieler*innen an bedeutsame, oder gar frustrierende, Konsequenzen zu koppeln.
Selbst wenn wir kurz ignorieren auf welche Weisen feinjustierte Regelkonstrukte unser Spielerlebnis beeinflussen, fühlen sich die Zivilisationen, über die wir entscheiden, substanzlos an. Sie sind wenig mehr als eine Fortführung der Regeln selbst. Es fällt schwer sie als etwas mit eigener Identität wahrzunehmen. Darum lassen sie sich auch schwer als Ausdruck einer konkreten Idee oder eines thematischen Leitgedanken verstehen. In manchen Spielen wird man mit dem unabwendbaren Verlust erreichter Errungenschaften konfrontiert. Wieder andere Spiele feiern Mythen des Kapitalismus. Civolution kreist bestenfalls um seine eigenen Regeln. Es wird nur beleuchtet wie diese Regeln auf einander wirken und wie sie in einer Zahl an Siegpunkten münden.

Aber auch das muss nicht zwingend ein Nachteil sein. Ein Spiel darf auch nur aus der Ausführung seiner Regeln bestehen. Die meisten Roll’n’Writes funktionieren so und wissen zu gefallen. Viele kleinere Stichspiele sind vor allem eine Knobelaufgabe, die sich aus den Zwängen der Spielregeln ergeben. Es braucht keine „künstlerische Aussage“, um ein ausreichend rundes Spielgefühl zu liefern. Aber diese Spiele sind auch bewusst kompakt gehalten. Jede Regel und Option, die nicht zwingend notwendig ist, wurde entfernt. Die Entwicklung und redaktionelle Bearbeitung dieser Spiele zielte auf ein Design, welches genau so komplex wie nötig und so einfach wie möglich war. In Civolution wurde sehr ausdrücklich das Gegenteil getan.
Das Volumen von Civolution ist die herausstechende Eigenschaft des Spiels. Von allem was es den Spieler*innen anbietet, gibt es eine Menge. Das schlägt sich im Regelumfang, in der Tischpräsenz und auch der Spieldauer nieder. Aber wenn eine solche Maximalisierung im Mittelpunkt steht, sollte sie auch irgendwie gerechtfertigt werden. Warum sollten sich Spieler*innen die Zeit nehmen sich mit diesem Koloss an Spiel zu beschäftigen? Warum müssen die Handlungsoptionen so weit gefächert sein? Was gewinnt das Spiel daran, an so vielen Ecken Variablen einzubringen? Ich habe den schleichenden Verdacht, dass niemand Stefan Feld diese Fragen gestellt hat, und Civolution darum während der Entwicklungszeit immer größer wurde. Aber damit wurden viele Aspekt des Spiels zum Selbstzweck. Civolution ist ein großes Spiel, weil es ein großes Spiel sein kann. Es benötigt einiges an Aufwand, es zu spielen; damit man beim Spielen einiges an Aufwand betreiben kann. Wir entscheiden uns Civolution zu spielen, nicht weil es einfach ist; sondern weil es schwer ist.
Dennoch merkt man jedem Aspekt des Spiels den Aufwand und die Mühe an, die darin investiert wurde. Aktionen, Ressourcen, Würfelmanipulation, Entdeckungen, Besiedelung neuer Regionen, Upgrades und Ernährungskosten. Bald schon befindet man sich selbst in einem Sog der immer aufwändiger werdenden Planungen und Kalkulationen. Die Eleganz mit der man diesen Schritt von anfänglicher Ahnungslosigkeit zu strategischer Weitsicht macht, wird von einigen gerne als seichtes Spieldesign missverstanden. Dabei ist es allen Beteiligten hoch anzurechnen, wie einfach es fällt die erlernten Regeln zielführend und bewusst anzuwenden. Es ist extrem motivierend etwas zu erlernen, das erlernte Wissen umgehend anzuwenden und sofort einen Vorteil daraus zu ziehen. Dennoch ist das resultierende Spielerlebnis am Ende des Tages nur ein Ablaufen der Punkteleiste.
Der emotionale Kern des Spiels findet sich nicht auf dem Spieltisch, oder in der Gemeinschaft mit den Mitspielenden. Stattdessen drückt er sich in den Berechnungen und Plänen aus, die man im Kopf durchgeht. Der thematische Überbau von Civolution – die Abschlußprüfung an der Zivilisations-Akademie – erhöht lediglich die Distanz zum Spielgeschehen, statt die Aktionen greifbarer und vorstellbarer zu machen. Das bedeutet, dass ein wichtiger Motor, um ein wirklich packendes Spielerlebnis zu haben, hier arg vernachlässigt wurde. Ist das Spiel erst vorbei, kann man zwar erzählerische Zusammenhänge in den ausgelegten Karten erkennen oder Bilder im Kopf entstehen lassen, warum die eigene Zivilisation erst das Bierbrauen und dann die Landwirtschaft entwickelt hat. Aber dann ist es zu spät. Ein starkes Spielerlebnis findet während des Spielens statt, nicht in seiner Nacherzählung.
Das Spielerlebnis in Civolution ist eines des Aufwands und der intensiven Beschäftigung mit Situationsanalysen und Handlungsprognosen. Was kann ich jetzt machen und was will ich für die nächsten Züge vorbereiten? Wir arbeiten uns an den Beschränkungen der Regeln ab, und ziehen das positive Feedback vor allem daraus, dass wir innerhalb dieser Beschränkungen im Rennen um den ersten Platz bleiben. Wer also spielt, um vor Hindernisse gestellt zu werden, die man mit ausgewählten Mitteln zu überwinden hat, wird sich bei Civolution zu Hause fühlen.
Civolution ist vor allem Fleißarbeit. Das ist vermutlich das höchste Lob und auch schärfste Kritik, die man dem Spiel machen kann.
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