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Regeltexte und ihre Gattungen

Der erste Kontakt mit einem neuen Spiel ist derzeit noch immer die Anleitung bzw. das Regelheft, welches dem Spiel beiliegt. Darin wird mit Hilfe von Texten, Illustrationen und auch Übersichten ausgeführt, wie man den Inhalt der Spielschachtel nutzt. Dabei lassen sich diese Regelhefte grob in drei Textarten unterteilen. Es mag sicherlich mehr geben, aber diese drei fand ich für diesen Artikel gut auszuarbeiten.

  • Das Gesetzbuch

In diesem Fall ist das Regelheft des Spiels mit einem Gesetzestext vergleichbar. Die Formulierungen der einzelnen Regeln sind als Grundlage zu verstehen, auf der man Interessenkonflikte zwischen den Spieler*innen auflöst. Entsprechend wird hier oft jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Der Unterschied zwischen „jedem“ und „jedem beliebigem“ kann hier schon mal heiß diskutiert werden. Auch kann ein Druckfehler aus einem „mind.“ ein „min.“ machen und schon muss sich die Spielrunde tief in die mutmaßliche Absicht des Spielautor/der Spielautorin einarbeiten, um die richtige Auslegung des Regeltextes zu ermitteln.

Was an diesen Regelheften in meinen Augen jedoch am Interessantesten ist, und die Spieldynamik nachhaltig formt, sind die Annahmen, die einem solchen Regelheft zu Grunde liegen. Denn ein Gesetzestext ist, ähnlich wie ein Vertrag, für den Fall entwickelt worden, dass sich mindestens zwei Teilnehmer*innen nicht auf gütliche Art und Weise einigen können. Ein solches Regelheft nimmt an, dass die Spieler*innen ihre unterschiedlichen Interessen nicht selbstständig und im gemeinschaftlichen Einklang klären wollen. Sie sind darum auf einen Text angewiesen, der klar und unmissverständlich eine Lösung dieses Konflikts zur Folge hat. Das hat zur Folge, dass ein solcher Regeltext einen Konflikt zwischen den Spieler*innen als unvermeidlich voraussetzt, denn sonst gäbe es keinen Grund die Spielregeln so zu schreiben. Ein solcher Text nimmt aber auch an, dass Spieler*innen zu einem gewissen Grad irrational oder zumindest nicht konsensfähig sind, um solche Konflikte selbst lösen zu können. Entsprechend gilt die unausgesprochene Übereinkunft, dass man sich dem Regeltext während des Spiels zu unterwerfen hat. Die Erklärung eines neuen Spiels am Spieleabend nimmt damit die Rolle einer Rechtsbelehrung ein. Diese Regeln wurden zu Beginn erklärt und mit der Teilnahme am Spiel verpflichtet man sich dazu nur nach diesen Regeln zu handeln.

Damit lässt sich auch leicht erklären, warum vermeintlich nicht erwähnte Regeln zu Beginn des Spiels von einigen Spieler*innen als großes Unrecht empfunden werden. Sie fühlen sich hintergangen, weil ihre Zustimmung und Verpflichtung unter falschen Vorzeichen eingeholt wurde.

  • Das Nachschlagewerk
Präzise Durchführung ist oberstes Ziel

Die nächste Art des Regeltextes hat zwar gewisse Ähnlichkeiten zum vorherigen, ist aber auch eigenständig genug, um so besprochen zu werden. Auch hier wird sorgsam auf die Formulierung der Regeln geachtet, jedoch ist die Zielsetzung eine andere. Statt Konflikte zu lösen, werden die Texte mit der Absicht gelesen (und auch unter der Annahme geschrieben), dass das Spiel am Tisch einer bestimmten Idealvorstellung nahe kommen soll. Das gemeinsame Spiel ähnelt ein wenig einem Experiment oder einem vorgefertigten Baukasten, den man alleine oder mit Mitspielenden nachbaut. Situationen, die unklar oder vom Text nicht abgedeckt sind, fallen in den Ermessensspielraum der Spielgruppe. Darin unterscheidet sich die Spieldynamik am Tisch am Deutlichsten von der vorherigen. Hier verstehen sich Spieler*innen als Teilnehmende an einem vorgefertigten Spielablauf. Sie folgen den Anweisungen und Erklärungen des Regeltextes und erwarten durch die genaue Einhaltung ein erfüllendes und auch zufriedenstellendes Spielerlebnis. Entsprechend wird ein Regelfehler oder auch eine zu spät erwähnte Regel nicht als Vertrauensbruch verstanden, sondern eher als eine Verfälschung des Spielerlebnis. Sollte sich nach der Partie herausstellen, dass eine Regelanwendung vom Text abweicht, entscheidet die Gruppe selbst, ob das Spielerlebnis dadurch „falsch“ war oder noch in einem gewissen Toleranzbereich vom „richtigen“ Spielerlebnis abweicht.

Das Nachschlagewerk fordert von Spieler*innen darum weniger den Regeln streng zu gehorchen, sondern setzt voraus, dass die Gruppe aus eigenem Interesse den Konsens sucht, um das Spiel korrekt und fehlerlos zu spielen.

  • Die Anleitung

Die letzte Form des Regeltextes findet, das muss ich zugeben, eher bei der Erklärung am Spieltisch statt, als in gedruckter Form. Zumindest kenne ich kein gutes griffiges Beispiel für ein solches Regelheft. (Vorschläge oder Hinweise dafür nehme ich aber gerne entgegen und füge sie notfalls dem Artikel im Nachgang ein.)

Die Anleitung versteht sich als didaktisches Werkzeug. Das bedeutet, sie versucht in ihrem Text zuerst das Wissen über die Spielaktivität selbst zu vermitteln. Sie beantwortet die Frage: „was tun wir eigentlich?“ zuerst. (Dass man hier zwischen thematischer Erklärung und realer Spieleinweisung unterscheiden muss, sollte eigentlich klar sein, wird aber oft und gerne vergessen.) Aber das Vermitteln dieses Wissens ist lediglich die Vorstufe. Denn es reicht nicht allein über die Spielabläufe und Einschränkungen informiert zu sein. Das Spiel selbst bietet vielmehr die Möglichkeit dieses soeben angelernte Wissen praktisch anzuwenden. Das Spiel schafft und liefert Situationen, in denen Spieler*innen ihr Wissen und Können nutzen dürfen und auch sollen. Diese einfache Feedback-Schlaufe trägt viel dazu bei, dass Spiele bereits während des Spielens als erfüllend und motivierend empfunden werden. Wir bemerken, dass unsere Entscheidungen Veränderungen bewirken und wir so ein wichtiger und auch unverzichtbarer Teil dieser gemeinsamen Aktivität sind. Damit lässt sich auch erklären weshalb „Interaktivität“ (auch wenn manchmal damit nur das Angreifen anderer Mitspieler*innen gemeint ist) als so wertvoll empfunden wird. Aber es erklärt auch, warum fehlende Wirkungsmacht auf den Spielverlauf – etwa weil man ausgeschieden ist, eine Runde aussetzen muss oder im Vergleich zu anderen am Tisch nur minimale Veränderung bewirken kann – so unangenehm und enttäuschend ist.

Eine Anleitung hat das Ziel Spieler*innen zum Spielen zu befähigen und ihnen genau so viel Teilhabe am Spielgeschehen zu geben, wie sie einnehmen möchten. Statt auf Gehorsam oder Genauigkeit setzt eine Anleitung darauf Spieler*innen zum selbstbestimmten Handeln zu bewegen. Eine Anleitung hat in dem Moment ihren Zweck erfüllt, wenn die Spieler*innen die Initiative übernehmen und das Spielziel aus eigener Motivation verfolgen.

Wie anfangs erwähnt, sind Regelhefte lediglich der erste Kontakt mit einem Spiel. Sie sind der erste Schritt, den wir machen, um ein Spiel spielen zu können. Aber ein Regelheft welches mit einer klaren Zielsetzung und sicherem Selbstverständnis geschrieben ist, kann einem zufriedenstellenden Spielerlebnis den Weg ebnen.

Georgios Panagiotidis
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