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Warum Spiele keine Geschichte erzählen

Spiele erzählen keine Geschichte. Es mag manche überraschen, dass ich das hier so schreibe und andere mögen das als Bestätigung dafür sehen, dass Spiele eben nur Spiele und keine Kulturgüter sind.

Das heißt nicht, dass Spiele und Narrative nicht eng miteinander verbunden sind. Denn ich bin durchaus der Ansicht, dass dem so ist. Eine Partie bleibt gerade deshalb so gut und positiv in Erinnerung, weil ihr eine Narrative zu Grunde liegt. Allerdings halte ich es für einen Fehler diese Narrative im Spiel selbst zu verorten. Anders gesagt: die Geschichte entsteht nicht aus dem Spiel heraus. Stattdessen findet die Geschichte bzw. die Erzählung mit dem Spiel statt. Es ist nicht das Spiel, welches eine Geschichte erzählt. Das heißt aber nicht, dass keine Geschichte erzählt wird.

Das mag sich als semantische Spitzfindigkeit lesen. Aber mir geht es durchaus um eine recht grundlegende Verschiebung unseres Verständnisses was ein Spiel zum Medium macht. Eine Verschiebung, die auch zur Folge hat, dass wir unsere Herangehensweise und auch die kritische Auseinandersetzung mit Spielen hinterfragen müssen.

Natürlich ist die Formulierung, dass ein Buch oder eben ein Spiel eine Geschichte erzählt zu einem gewissen Grad bildlich und nicht wörtlich gemeint. In beiden Fällen sind es Gegenstände, die nicht als solches sprechen. Sie breiten lediglich Text vor uns aus. Ebenso wie dieser Artikel nicht „spricht“, aber durchaus bei einigen Leser*innen als gesprochen wahrgenommen wird. Einen Text zu lesen, heißt in manchen Fällen ihn in gesprochene Worte zu übertragen, die wir in unserer Vorstellung wahrnehmen. Das Buch spricht im übertragenen Sinne zu uns. Es wird wie eine erzählte Geschichte, also eine Narration, wahrgenommen.

Es mag verlockend sein diesen Gedanken auch auf Spiele zu übertragen. Wenn ein geschriebener Text in einem Buch zu uns „spricht“, warum sollte ein Spiel mit seinen Regeln, Illustrationen, Komponenten und Begrifflichkeiten nicht ebenfalls mit uns „sprechen“? Warum sollte ein Spiel uns nicht auch seine Geschichte erzählen?

Der grundlegende Unterschied liegt bei Spielen darin, dass Spieler*innen mehr sind als lediglich das geduldige Publikum, dem eine Geschichte erzählt wird. Denn dafür müsste die Geschichte des Spiels in seinen Abläufen, Inhalten und auch Aussagen bereits feststehen und lediglich an das Publikum vermittelt werden. Die Geschichte des Spiels müsste als unveränderlicher Text in den Elementen des Spiels stecken und allein durch das Handeln die Spieler*innen erfahren werden. So wie die Geschichte in einem Buch bereits feststeht, und durch Leser*innen erst im übertragenen Sinne „gehört“ wird.

Entscheidungen führen zu Ereignissen

Stattdessen sind Spieler*innen die treibende Kraft, die eine Geschichte erst entstehen lassen. Erst durch ihre Entscheidungen, Handlungen und auch Reaktionen entsteht der Text, den wir als Geschichte wahrnehmen können. Diese Aussage ist wenig neuartig. Oft folgt darauf der Einwand, dass ja das Spiel vorgibt was Spieler*innen tatsächlich tun. Ob sie Länder angreifen, Bäume pflanzen, Habitate bauen oder Holz gegen Schafe tauschen, wird durch das Spiel vorgegeben. Demnach schreibt das Spiel auch die Geschichte vor und die Spieler*innen setzen sie lediglich zusammen.

Aber an diesem Punkt werden meiner Meinung nach die Bestandteile des Spielvorgangs falsch eingeordnet. Die Begrifflichkeiten des Spiels wie Nahrung, Geld, Arbeiter, Schiffe, etc. sind lediglich eine Metapher. Sie stellen nicht den Inhalt des Spiels (sprich seine Geschichte) dar, sondern sind lediglich dessen Übertragung in eine einfach zu fassende Bildsprache. Die Metapher des Spiels füllt das Erlebnis aus, sie gibt dem Spiel eine imaginative Ebene. Wir haben Bilder, Ideen und Konzepte die wir uns beim Spielen vorstellen und die unsere ansonsten reglementierte Interaktion bereichern. Aber diese Metaphernebene bildet nicht die Geschichte des Spiels.

Die Geschichte des Spiels ist an das gebunden, was wir tatsächlich tun und nicht daran was wir uns darunter vorstellen. In Memoir ‘44 kommt niemand ums Leben, wir verlieren allein unsere taktischen Vorteile. In Brass Birmingham bauen wir keine Fabriken, wir erweitern unseren Handlungsspielraum. In Agricola bekommen wir keine Kinder, sondern vergrößern unsere Aktionsmöglichkeiten.

Das Spiel erzählt uns nicht die Geschichte, sie bietet uns aber eine Sprache an, um diese einfacher und vor allem unterhaltsamer zu begreifen. Aber wenn das Spiel diese Geschichte nicht erzählt, wer tut es dann? Wie kommt die materielle Realität des Spielens (d.h. was wir tatsächlich tun) mit der ideellen Ebene der Geschichte (d.h. was wir uns darunter vorstellen) zusammen? Wer ist das Bindeglied zwischen diesen beiden Dingen? Die Antwort lautet: es sind die Spieler*innen selbst.

Wir liefern durch unsere Spielhandlungen den Plot der Geschichte. Dass dazu auch unsere Interaktion am Tisch zählen muss, zeigen sogenannte Social Deduction Spiele (wie Werwolf), Verhandlungsspiele (wie Chinatown), aber auch Spiele mit einem starken „metagaming“-Anteil (wie z.B. Netrunner) deutlich. Aber diese Erkenntnis ist auf alle Mehrspieler*innen-Spiele erweiterbar. Die Handlungen der Spieler*innen bilden das erzählerische Grundgerüst für die Geschichte. Das Spiel dient dabei als die Sprache mit der wir uns diese Geschichte erzählen.

Hat ein Spiel nun eine sehr strenge Grammatik, d.h. erlaubt sie uns nur wenig Freiraum bei der Wahl unserer Ziele, so ist die Geschichte, die wir uns erzählen repetitiv. Sie scheint immer in den gleichen Bahnen zu verlaufen und stets die gleichen Spannungsspitzen zu bieten. Wir haben das Gefühl immer das gleiche zu tun, um das immer gleiche zu erreichen.

Ob wir ein Spiel in seiner Grammatik als ausreichend unterschiedlich verstehen, hängt dabei nur zu einem kleinen Teil von einzelnen Regelmechanismen ab. Ausschlaggebend ist das Gefühl in unseren Entscheidungen frei genug zu sein, um selbst Vorgehensweisen (bzw. Ziele) zu wählen. Die Grammatik eines Spiels ist dann offen bzw. dynamisch, wenn sie uns verschiedene Wege und Ziele anbieten kann.

Spiele erzählen keine Geschichten, weil sie in Wirklichkeit die Sprache sind, mit der Spieler*innen eine Geschichte erschaffen, erzählen und erleben. In einem Wort: erspielen. Eine kritische Auseinandersetzung, Analyse und Interpretation eines Spiels als Kulturgut oder Medium, muss darum darauf abzielen, welche Werkzeuge und Erzählmittel der Spielgruppe an die Hand gegeben werden. Sie kann und darf sich nicht allein darauf beschränken welche Assoziationen das Spiel weckt oder real-historische Verweise es aufweist. Ein Spiel befähigt Spieler*innen dazu eine Geschichte zu erspielen. Sowohl das Wie als auch das Was sind dabei die interessantesten Frage für eine Kritik.

Georgios Panagiotidis
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