Aus dem Bereich der kognitiven Psychologie– also der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Denken, Wissen und Verstehen – erreicht uns Spieler*innen das Konzept der kognitiven Verzerrung. Oder in ihrem geläufigeren, da modischeren, englischen Fachterminus: „cognitive bias“. Damit sind Denkmuster und Annahmen gemeint, die uns in unserer Wahrnehmung und Erfahrung von Spielerlebnissen beeinflussen. Das Bemerkenswerte daran ist, dass wir uns dieser Voreingenommenheiten oft nicht bewusst sind. Gerade das macht uns so anfällig dafür. Zwei dieser „cognitive bias“ möchte ich hier mal anschneiden.
Emotional bias – „Sieg oder Niederlage beeinflusst die Einordnung“
Dieser Punkt scheint auf den ersten Blick so banal und offensichtlich, dass sich die meisten Spieler*innen oft und gerne darüber lustig machen. Selbstverständlich sind Spiele super, wenn man gewinnt und total ätzend, wenn man sie verliert. In dieser Schlichtheit, ist das natürlich kaum der Rede wert.
Wenn man jedoch genauer hinschaut und bedenkt, dass Spielen auch immer eine emotionale Erfahrung ist, stellen sich interessante Fragen. Es ist Teil des normalen Spielerlebnis, dass man dieses eventuell im Nachhinein versucht in Worte zu fassen. Man versucht es einzuordnen und zu bewerten. Dabei greift man unweigerlich auf die eigene Spielerfahrung zurück.
Zeichnet sich diese Spielerfahrung durch positives Feedback aus, so liegt es nahe, dass man im Spiel mehr Handlungsmöglichkeiten sieht. Man leitet mehr Spieler*innenfreiheit aus der eigenen Erfahrung ab, oder erkennt an unterschiedlichen Details in Regeln, Präsentation oder Konzept weitere positive Facetten des Spiels. Für viele Spieler*innen zeichnet sich ein besonders gutes Spiel dadurch aus, wie groß das Potential ist, welches darin schlummert. Ein Potential welches man deutlich größer einschätzt, wenn die Spielerfahrung vor allem von positiven bzw. konstruktiven Feedback geprägt ist. Wenn ich im Rahmen des Spiels einen Rückschlag erleide, aber sowohl verstehe warum dieser entstanden ist und dass es in meiner Hand liegt, diesen in Zukunft zu vermeiden, kann ich besser verstehen welches Potential in dem Spiel steckt.
Im Gegensatz dazu, ist ein Spiel bei dem ich wiederholt unverständliches Feedback erhalte, eine höchst negative Spielerfahrung. Wenn meine Entscheidungen sich nicht auszahlen und ich auch nicht so recht erkennen kann, welches Verhalten zu positivem Feedback führen würde, so fällt es mir schwerer das Potential des Spiels auszumachen. Der Kern des Spiels bleibt mir verborgen und damit fehlt mir auch die Grundlage, um das Spiel angemessen zu beurteilen.
Das ist auch ein wichtiger Grund, weshalb Kritiken wie „ich hatte keinen Spaß“ eben so inhaltsleer sind. Sie sagen uns nichts über das Spiel aus, sondern nur über die individuelle Befangenheit der Person, die über das Spiel berichtet. Auch der Versuch die Gründe für den fehlenden Spaß zu benennen, ist nur indirekt hilfreich. Die „emotional bias“ macht das Erkennen des Spielkerns nicht unmöglich, aber sie beeinflusst sie und kann sie erschweren.
Aber auch die Gegenposition „ich hatte Spaß“ ist anfällig für einen zu rosigen Blick auf das Wesen des Spiels über das man spricht. Zu schnell übersieht man strukturelle oder individuelle Ungleichheiten beim Versuch das Spiel einzuordnen, da man selbst vielleicht nicht davon betroffen war.
Insbesondere die individuellen Unterschiede können uns für eine andere „bias“ anfällig machen.
Curse of Expertise – „Persönliches Vorwissen ist Allgemeinwissen“
Dieser schmissige Begriff umschreibt ein Phänomen, welches Vielspieler*innen sicherlich bereits erlebt haben. Wenn man ein bestimmtes Spezialwissen besitzt, fällt es schwer die Perspektive einer Person einzunehmen, die dieses Wissen nicht besitzt. Das beginnt mit ganz simplen Begrifflichkeiten wie Deckbuilding oder Worker Placement. Es sind Fachbegriffe aus der Spielszene, welche sich außerhalb der Szene nur schwer ohne Vorwissen erschließen lassen. Aber das gleiche gilt auch für Formulierungen wie „Farbe bedienen“ oder „Stich holen“. Auch hier kann es schnell passieren, dass erfahrene Spieler*innen etwas als intuitiv verständlich wahrnehmen, weil sie das nötige Vorwissen dafür nicht mehr bewusst aufrufen müssen.
Dieser Gedanke lässt sich aber noch weiter führen. Abseits des Szenevokabulars gibt es auch Spielverhalten, taktische Abläufe und strategische Überlegungen, die sich langjährige Spieler*innen erarbeitet haben und nun kaum noch als besondere Expertise wahrnehmen. Stichspiele wie „Die Crew“ sind dafür exemplarisch. Die meisten Vielspieler*innen sind sich oft nicht bewusst wie viel Vorwissen sie bereits besitzen, um leicht und direkt in das Spielgeschehen eintauchen zu können. Im Vergleich dazu müssen sich unerfahrene Spieler*innen die Grundlagen des Stichspiels erst über viele Partien erschließen.
Dabei geht es nicht darum, dass man hier von „Expertenspielen“ spricht, bei denen eine starke Vertrautheit mit den unterschiedlichen Karten und Karteneffekten nötig ist, um zielführender spielen zu können. Es geht um das vermeintlich rudimentäre Verständnis über die Abläufe und Zwänge innerhalb des Spiels, welche bestimmte Entscheidungsmuster nahelegen. Die sogenannten Standardtaktiken in einem Worker-Placement-Spiel oder einem Deckbuilder sind eben gerade nicht selbsterklärend, sondern beruhen auf Erfahrungen, die man derart oft und vor so langer Zeit gemacht hat, dass man sie kaum noch als erwähnenswert wahrnimmt.
Das „persönliche Vorwissen“ wirkst sich aber nicht allein auf der mechanischen Ebene des Spiels aus. Gerade auf thematischer Ebene wird die Grenze zwischen persönlichem Vorwissen und allgemein verfügbaren Wissen bzw. aus dem Spiel entstehenden Wissen oft und wiederholt verwischt. Womöglich ist das sogar der mit Abstand größte blinde Fleck, der in der Spielszene vorhanden ist.
Denn es ist gerade unser Wissen über Orte, historische Begebenheiten, natur- oder sozialwissenschaftliche Abläufe usw. usf., welches uns erst ermöglicht die thematische Tiefe und thematische Komplexität zu erfahren. Ohne zumindest etwas Grundwissen über diese Dinge, wären wir nicht in der Lage eine Verbindung zwischen Regeln, Illustrationen und unseren Handlungen zu ziehen. Wir könnten keinen Spielstein auf das Brett setzen und es in unserer Vorstellungskraft in etwas verwandeln, welches Gewalt, politische Macht oder wirtschaftliche Ausbeutung repräsentiert. Um unsere Köpfe mit den nötigen Narrativen und Motiven zu füllen, legen einige Verlage Ergänzungsmaterial oder sogar eine kleine Literaturempfehlung bei. Das Thema eines Spiels kann erst richtig aufblühen, wenn es auf ausreichend fruchtbaren Boden trifft.
Unser Blick auf ein Spiel und sein Potential, gerade auch in thematischer Hinsicht, wird sehr stark durch dieses spezialisierte Vorwissen gefärbt. Darum ist es so wichtig, dass wir uns unserer eigenen Expertise immer bewusst sind, wenn es darum geht ein Spiel zu beurteilen und zu begreifen was es genau ist.
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