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Die merkwürdige Fixierung auf den Glücksfaktor

„Schöne Knobelei deren Glücksfaktor (…) verkraftbar ist“

„…spiele ich sehr gern, auch wenn man trotz guter Taktik [wegen des Glücksfaktors) chancenlos ist“

„Gutes Spiel mit hohem Glücksanteil“

„trotz hohem Glücksfaktor ein empfehlenswertes Spiel“

Das sind ein paar Formulierungen die mir in Rezensionen in letzter Zeit aufgefallen sind. An den konkreten Sätzen habe ich gar nichts auszusetzen, aber in der Menge, ist mir das schon aufgefallen: Warum die zusätzliche Information mit dem Glücksfaktor? „Gutes Spiel mit einem Kartenstapel“ würde ja auch niemand schreiben. Oder „Trotz einer Spieldauer von 33 Minuten ein empfehlenswertes Spiel“.

Das ist eine rhetorische Frage. Ich kenne die Antwort! Aber mich treibt dies doch schon ein bisschen um, denn es stecken da schon ein paar Missverständnisse drin, wie Brettspiele und Brettspielende ticken, die aber nicht mehr weiter hinterfragt werden. Das ist übrigens kein Vorwurf – natürlich wird eine Person, die rezensiert, auch auf bewährte Muster zurückgreifen: Ist das Material diskutabel? Sind Tippfehler in der Anleitung? Gibt es -juchu! – einen variablen Spielplan, also einen Garant für Wiederspielreiz? Nicht immer möchte man eine Kritik lesen, bei der es um die menschliche Psyche und Freud geht, manch Spielender möchte einfach eine gute Kaufempfehlung! Wer aber Spiele (warum auch immer) analysieren möchte, sollte auch bewährte Muster regelmäßig hinterfragen und überlegen, ob ein Update angebracht wäre.

Zunächst sollte man zwischen Zufalls– und Glücksfaktor unterscheiden. Beides basiert auf Zufallselementen, aber bei letzterem können einzelnde Spieleende einen gewissen Vorteil erlangen. Ersteres kann auch alle Spielenden gleichermaßen betreffen, z.B. bei einer zufälligen Startaufstellung. Der Glücksfaktor ist also ein Teilmenge des Zufallsfaktors und da ist schon die Frage, warum man sich für diese Teilmenge besonders interessiert. Der Grund ist in der Annahme zu finden, dass die oder der „Beste“ gewinnen sollte, also wer die beste Taktik hatte. In dieser Sichtweise ist der Glücksfaktor ein Störfaktor, der den reinen Wettbewerb verzerrt. Wohlgemerkt ist dies der ursprüngliche Kern des Problems, auch wenn die meisten Brettspielenden das in dieser Konsequenz nicht unterschreiben würden. Immerhin gibt es ja auch positive Seiten des Glücksfaktors! Etwa:

– Spiele ohne Glücksfaktor wie Schach benötigen gleich starke Gegner, um nicht frustrierend, sondern um spannend zu werden. Der Glücksfaktor greift hier nivellierend ein.

– Glücksfaktoren können von „guten“ Spielenden mit in die Planung einbezogen werden. Auch die Weltelite in Scrabble oder Backgammon kann mal gegen einen Anfänger verlieren, wenns blöd läuft (siehe letzter Punkt), aber auf lange Sicht, können die besseren auch besser mit dem Glücksfaktor umgehen. Besonders deutlich wird dies in Poker, bei der die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ein wesentliches Element darstellt.

Diese Argumente lassen allerdings ebenfalls außer acht, dass nicht alle Spiele ihren Spielspaß aus dem Wettbewerb ziehen. So leben viele Roll & Writes gerade von der Herausforderung, die der Glücksfaktor bietet; Man „setzt“ quasi auf ein bestimmtes Ergebnis. Das hat etwas mit der Beherrschung der Wahrscheinlichkeiten zu tun, aber nicht nur: Viele Spiele bieten eine höhere Punkteausbeute, wenn man auf ein Ergebnis mit geringerer Wahrscheinlichkeit abzielt. Von dem Hoffen und Bangen, ob man wortwörtlich „Glück hat“, lebt das Spiel. Can´t Stop ist ein weiteres Beispiel: Der Glücksfaktor erzeugt Spannung, Emotion, gerade weil er Spielende begünstigt – und ich könnte ja begünstigt werden!

Andere Spiele benutzen den Glücksfaktor um bewusst Ungerechtigkeiten zu erzeugen – etwa Der große Dalmuti – da Ungerechtigkeiten eben auch unterhaltend sein können. Bei Catan (und vergleichbaren Spielen) ermöglichen die kleinen Ungerechtigkeiten in der Rohstoffverteilung zudem Handel. Auch kann ein Glücksfaktor seine Begründung im Setting und der thematischen Einkleidung haben – ein Entdeckungsspiel oder ein Spiel zum Thema Gold suchen erwartet man einen gewissen Zufallsfaktor, ohne den sich das Spiel vermutlich wenig thematisch anfühlen würde.

Insofern ist es in der Regel ziemlich müßig festzustellen, ob es einen Glücksfaktor gibt und wie hoch der nun genau wäre. Was mit der Frage nach dem Glücksfaktor eigentlich gemeint ist: Wird das Spiel durch den Glücksfaktor frustrierend oder beliebig? Ersteres ist dann der Fall, wenn die Spielenden nicht das Gefühl haben, dass ihre Entscheidungen genügend positive Auswirkungen auf den Spielverlauf haben, letzteres wenn das Gefühl besteht, dass die Auswirkungen unabhängig von den Entscheidungen immer gleich sind. Beides kann auch durch einen unpassend eingesetzten Glücksfaktor passieren – das ist aber eine Frage eines schlechten Designs, nicht der Frage eines Glücksfaktors per se. Spiele können auch aus anderen Gründen frustrieren oder beliebig werden. Anders ausgedrückt: Der Glücksfaktor muss – wie jeder andere Faktor auch – zum Spiel passen. Ich hatte hier bereits einen längeren Artikel dazu geschrieben.

Das Problem bei einer einseitigen Betrachtung des Glücksfaktoren ist eben auch dass es zu Spielen führt, wo versucht wird, den möglichst klein zu halten – und das bedeutet eben: Wenig Zufallsfaktoren (und damit potentiell weniger Variabilität), weniger Überraschungen (und damit potentiell weniger Enotionaliät) und, weil der größte Glücksfaktor oft die Mitstreiter sind, weniger und nur indirektere Interaktion. Designentscheidungen werden dadurch potentiell eingeschränkt und damit am Ende auch die Bandbreite von Spielen.

Im Wesentlichen läuft der Artikel auf einen Wunsch hinaus: Auf den Wunsch nach besseren Analysen. Statt lediglich zu bewerten, wie wenig der Glücksfaktor das Spielvergnügen stört (eine höchste subjektive Geschichte) wäre mir wichtiger zu untersuchen, wie und nicht zuletzt warum der Glücksfaktor in ein Spiel eingebaut wurde; Welche Rolle hat er? Erfüllt er diese Rolle? Und wie gut tut er das? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht mir als Rezipienten eine deutlich bessere Übertragbarkeit des Gesagten auf meine eigenen Befindlichkeiten. Und als jemand, der Spieleanalysen mag, finde ich es deutlich interessanter.

ciao

peer

 

 

Peer Sylvester
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