spielbar.com

Auf die ausbalancierte Waage gelegt

Eines dieser Wörter, die Spielende immer gerne verwenden ist „ausbalanciert“. Die Balance in einem Brettspiel geht es dabei ähnlich wie Schiedrichtern im Sport: Wenn man nicht drüber redet, ist alles gut. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Sicherlich kann man sich über Begriffe vorzüglich streiten, aber ich denke was die meisten meinen dürfen: Alle Spielende haben dieselben Gewinnchancen. Allerdings bedarf es da noch einer kleinen Ergänzung: Wenn alle äußeren Faktoren außer acht gelassen werden, dann haben alle Spielenden dieselben Gewinnchancen. Die kleine Ergänzung ist wichtig, denn die Spielenden selbst haben natürlich unterschiedliche Vorraussetzungen -einer ist vielleicht weniger geschickt, ein anderer kann sich Dinge schlechter merken und ich kann Spiele ums verrecken nicht, die darauf basieren, alle möglichen Züge zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zu bündeln.  Es wird nicht erwartet, dass Spiele die Fähigkeiten ihrer Spieler ausbalacieren – im Gegenteil: Dass der Geschickteste auch die besten Chancen haben sollte, ein Geschicklichkeitsspiel zu gewinnen, wird angenommen.

Doch auch mit der Einschränkung ist „Spielbalance“ anscheinend nicht so leicht zu fassen: Ich hatte eine (nicht repräsentative“ Umfrage auf Twitter gestartet, wo ich folgende Fragen gestellt habe:

In einem asymmetrischen Spiel mit 4 Fraktionen spielen sich drei intuitiv, die vierte muss erst erlernt werden – mindestens zwei Spiele sind dazu erfoderlich, in denen man gnadenlos verliert. Einmal verstanden, haben alle vier Fraktionen dieselben Gewinnchancen: Ist das Spiel ausbalanciert?“ und

Eine fünfte Fraktion kommt hinzu, die gewinnt, wenn die anderen so spielen wie bisher. Auch hier bedarf es 1-3 Lernpartien, bis alle gelernt haben, ihre Spielweise anzupassen. Dann haben alle 5 gleiche Gewinnchancen: Ausbalanciert?

Zu meiner Überraschung wurden beide Fragen mit überältigender Mehrheit (84,9% und 75,3%) mit „Ja“ geantwortet. In einigen schriftlichen Antworten wurde darauf hingewiesen, dass diese Lernkurven aber zu vermeiden sind, da das Spiel ja von Start weg Spaß machen sollte und es wurden Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, wie das (hypothetische) Spiel es einfacher machen könnte, die vierte Fraktion zu lernen. Der Ansatz ist nicht verkehrt, aber er geht an dem Punkt vorbei: „Balancing“ bedeutet hier eben nicht „Wenn alle äußeren Faktoren außer acht gelassen werden, dann haben alle Spielenden dieselben Gewinnchancen“ – denn das haben sie ja nicht. Wenn ich mehr Energie in das Spiel stecken muss, dann sind meine Gewinnchancen per Defintion geringer – dass ich die Widerstände überwinden lernen kann, heißt ja nicht, dass es sie nicht gäbe. Der Knackpunkt liegt daran, dass die Lernkurve eines Spieles (bzw. einer gespielten Fraktion) nicht berücksichtigt wird.  Das Problem ist, dass mangelnde Balance generell als etwas schlechtes wahrgenommen wird: Als ein objektiver (!) handwerklicher Makel. Nun würden aber eben jene Kritiker nicht behaupten wollen, dass ein Spiel mit einer asyymetrischen Lernkurve per se schlecht designed ist und deswegen, wird die Lernkurve bei der Bewertung der Balance ausgeklammert wird. Das wiederrum aber führt zu anderen Problemen: Auf eine entsprechende Frage antworteten (wenn man diejenigen ausklammert, die sich enthalten haben) ein gutes Drittel, dass es für die Balance keine Rolle spielt, wie viele Lernpartien es braucht, hauptsache es ist irgendwann ausgeglichen! Mit anderen Worten: So lange ein Spiel mathematisch ausgeglichen ist, gilt ein Spiel als ausbalanciert, auch wenn die Spieler Hunderte oder gar Tausende von Partien bräuchten, um diesen Zustand zu erreichen. Da sich die Balance in den meisten Fällen aber gar nicht so ohne weiteres berechnen lässt, gäbe es in der Theorie demnach keine nicht-ausbalancierten Fraktionen! Ähnliches würde gelten, wenn ich beispielsweise studieren müsste, um die fünfte Fraktion zu lernen, oder Apnoetauchen lernen oder JavaSkript – Offensichtlich absurd!

Natürlich ist das alles eine Wahrnehmungssache: Wie nehme ich ein Spiel wahr und wie bewerte ich das wahrgenommene? Ein wichtiger Designhinweis ist immer: „Das Spiel muss sich ausbalanciert anfühlen„, d.h. die Spielenden müssen das Gefühl bekommen, ihre Gewinnchancen seien nicht geringer als die der anderen – wenn eine Fraktion in den ersten Partien gnadenlos baden geht, dann muss das Spiel genügend Feedback geben, was nächstes Mal verbessert werden kann. Minimal muss das Spiel Hinweise geben, dass diese anderen Herangehensweisen existieren. Wenn die Spielenden das Gefühl haben, eine Fraktion hat es bedeutend schwieriger, dann hilft es nicht, darauf hinzuweisen, das wäre nicht der Fall – insbesondere wenn sich der Eindruck in einer zweiten Partie verstärkt. Ausnahmen können Erweiterungen von beliebten Spielen sein, die (wortwörtlich) neue Herausforderungen bieten – die sind aber gerade deswegen interessant, weil sie nicht ausbalanciert im Wortsinne sind, sondern weil sie mehr Energie benötogen, um mit ihnen zu spielen. Das funktioniert, weil sich Erweiterungen eben bereits an Fans richten, die bereits überzeugt sind. Für die meisten Spiele gilt dies aber nicht.

„Balancing“ bleibt ein wichtiger Bestandteil beim Spieldesign. Insbesondere muss ein gutes Spiel den Spagat hinbekommen, sich auch für Spielende mit unterschiedlicher Spielerfahrung immer ausbalanciert anzufühlen. Wie erwähnt ist das aber nicht nur eine Frage des reinen Balancings, sondern des Feedbacks, dass vom Spiel gegeben wird. Dieser Fokus sollte beim Design, aber auch in der Spielekritik, meiner Meinung nach häufiger entsprechend gesetzt werden.Wer sich um Fragen des Balancing streitet – etwa ob Britannia ausgeglichen ist, weil die Spielenden ja als Kollektiv die stärkeren Fraktionen angreifen könnten – stellt die falsche Frage. Die Existenz der Frage ist meistens bereits ein Zeichen dafür, dass hier unterschiedliche Hürden aufgebaut wurden. Die Frage ist daher nicht ob der Existenz dieser Hürden, sondern ob diese Hürden für ein negatives Spielgefühl sorgen und ob das Spiel deutlich genug aufzeigt, dass diese Hürden existieren und wie gut Umgehungsstraßen ausgezeichnet sind. Die Frage nach dem Balancing selbst ist dabei die Uninteressanteste.

ciao

peer

Peer Sylvester
Letzte Artikel von Peer Sylvester (Alle anzeigen)