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Ich kann es nicht glauben!

Im Zusammenhang mit Filmen und Büchern wird im englischen der Ausdruck „Suspension of disbelief“ benutzt, bei Wikipedia etwas holprig mit „Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ übersetzt (wobei das wohl die „offizielle“ Übersetzung ist). Damit ist gemeint, dass man, um in einer Geschichte eintauchen zu können, wieder besseren Wissens gewisse Dinge akzeptieren muss: Sowohl in der  Metaebene (das sind keine Schauspieler, die dort sprechen, sondern „echte Leute“) als auch auf der narrativen Ebene (Es gibt Zombies, Magie, Zeitreisen oder Bielefeld). Wenn ein Film zu häufig die eigenen Regeln bricht – etwa in dem Chris Pine sich als Deutscher Ausgibt, in dem er englisch mit deutschem Akzent spricht oder der hochhausgroße Godzilla nicht von Raketen getroffen wird, die auf ihn abgefeuert werden – dann gelingt diese Willentliche Aussetzung nicht mehr und das Filmerlebnis leidet.

Die narrativen Erlebnisse in einem Spiel funktionieren anders als in einem Film aber auch im Spielebereich kann man diesen Effekt beobachten. Inwieweit das ein Problem darstellt, hängt davon ab, wie und zu welchem Zweck die thematische Einkleidung im Spiel genutzt wird.

Dient die thematische Einkleidung in erster Linie dazu, Karten, Plättchen und Spielplan irgendwie mit Graphik und Namen zu versehen, ohne sich jedoch in den Spielehandlungen wiederzufinden (also die Art von Spiel, bei der von einem „aufgesetzten Thema“ die Rede ist), kann man bezüglich der willentlichen Aussetzung nicht viel falsch machen: Die Spielhandlungen laufen eh abgekoppelt von thematischen Einkleidungen und können diesen entsprechend auch nicht wiedersprechen. Als problematisch werden hier nur grobe Patzer wahrgenommen: Etwa falsche Bezeichnungen oder fehlerhafte geographische Zuordnungen. Wenn Hansepirat Störtebecker in der Karibik mit Rum handelt wird es schwierig den Bruch zu übersehen und das Thema wird nicht mehr nur als nette Einkleidung, sondern als unpassend oder gar störend empfunden.

(Kurzer Einschub: Diese Problematik ist natürlich auch vom Vorwissen der Spielenden abhängig. Dies gilt insbesondere natürlich für Spiele, die in anderen Kulturkreisen angesiedelt sind: Was hierzulande als „künstlerische Freiheit“ durchgeht, ist woanders ein störender Bruch, der wesentliche Teile der eigenen Kultur und Geschichte falsch darstellt. Bestenfalls wird dies dann als faule und unfreiwillig komische Aneignung anderer Kulturen angesehen, schlimmstenfalls als verfälschende Propaganda. Der Hinweis es sei ja nur ein Spiel hilft dann ebenso wenig, wie der Hinweis, man muss im Kino halt auch einmal das Gehirn abschalten; Das geht eben nicht unbegrenzt und verschiebt zudem die Verantwortung vom Schaffenden zum Rezipierenden. )

Das „Flugzeug“ existiert in unserem Kopf, verhält sich aber logisch kohärent

Dieser Effekt verstärkt sich natürlich je stärker unsere Handlungen mit der narrativen Ebene vernetzt werden. Sobald man beginnt, logische Verknüpfungen zu erstellen (die durch das Spiel ja in der Regel motiviert werden), fallen Handlungsoptionen, die nicht innerhalb der Narrative erklärbar sind, besonders auf. Aber um das noch einmal zu betonen: Das betrifft einzelne Handlungen, nicht die unter der Haube liegenden Kernmechanismen!

Das faszinierende an der Suspension of disbelief in Spielen ist nämlich nicht wie schlecht, sondern wie gut sie funktioniert- Spiele werden als besonders thematisch, vielleicht sogar als „Simulation“ wahrgenommen, obwohl wir Würfel werfen oder Karten spielen – etwas, dass meines Wissens in der Realität noch keine Schlacht beeinflusst hat (Ich muss immer an das Rollenspiel denken, dessen Kampfsystem als „Ultrarealistisch“ bezeichnet wurde und ich mich immer gefragt habe, wie das funktioniert). Wir -als Spezies- sind sehr gut daran, die eigentlich abstrakte Wirkung abstrakter Handlungen zu anthropomorphisieren. Uns ist bewusst, dass wir uns auf ein Spiel „einlassen“ müssen, also die Prämissen des Spieles als gegeben annehmen, um abtauchen zu können. Bei Sky Team setzt man etwa Würfel auf ein Brett. Diese Handlung hat kein reales Abbild beim Fliegen eines Flugzeuges. Dennoch wird der Effekt der Handlung (das Flugzeug fliegt langsamer oder kippt zur Seite) als „thematisch“ wahrgenommen. So lange wir die Effekte unserer Spielhandlungen mit der von uns wahrgenommenen spielerischen Narrative in Einklang bringen können, gelingt es unsere Ungläubigkeit auszusetzen und ins Spiel einzutauchen. Das ist eine wichtige Lektion, auch für Spieleschaffende, die den Hebel für ein „immersives“ Spielerlebnis an der falschen Stelle anzusetzen versuchen.

Aber die Suspension of Disbelief kann noch mehr! Nicht umsonst kann ein Film einem Zuschauenden erst einmal alles erzählen („Dieser Film basiert auf der Prämisse, dass X gilt“) und einiges an möglichen Logiklöchern wird in „Infodumps“ wegdiskutiert, was zumindest teilweise auch klappen kann, selbst wenn die Erklärung nicht wirklich zwingend ist (man denke an die Zeitreise-Erklärung in Avengers: Endgame). Ähnliches funktioniert in Spielen auch: Wir sind das Volk basiert auf der Prämisse, dass sich Ost und West einen Wettstreit um den Lebensstandard liefern. Twilight Struggle basiert auf der wiederlegten „Dominostein-Theorie“, The Wolves auf der wiederlegten Alphatier-Theorie und viele Wirtschaftspiele auf dem seit über 20 Jahren toten Homo Ökonomicus. Diese Prämissen werden von uns für die Dauer des Spieles akzeptiert, weil sie uns ein erfüllenderes Spielerlebnis ermöglichen.

(Zusatz zum Einschub oben: Wenn es sich um problematische Prämissen handelt – etwa dass die Bevölkerung in Afrika oder Südamerika nur Hindernisse der eigenen Ausbreitung darstellen – haben wir den Bereich der Propaganda betreten, die aber gerade deswegen so überzeugend ist, weil die Ungläubigkeit zugunsten des Spielerlebnisses ausgeschaltet wurde. Auch das geschieht eben besonders leicht dann, wenn das entsprechende Vorwissen fehlt. Wer nichts weiß, muss alles glauben – und nimmt zweifelhafte Prämissen eher an. Das Spiel vermittelt dann kein „Wissen“ sondern zweifelhafte Prämissen. Wobei prinzipiell die meisten Spiele primär ihre Prämissen vorstellen)

Die Prämissen des Spieles und ihre Implikationen können dabei explizit oder implizit sein und ihr Realismus spielt ebenso wenig eine Rolle für unser Spielerlebnis, wie der „Realismus“ von Herr der Ringe eine Rolle für unser Film/Bucherlebnis spielt. Die Frage wie realistisch ein Spiel ist, führt daher in die irre. Die Frage ist eher: Wie kohärent ist die Fiktion? Wie leicht kann man die Prämisse „schlucken“ und wird unsere Fähigkeit zum Aussetzen der Ungläubigkeit auf die Probe gestellt oder nicht? Die Ungläubigkeit in einem Film gewinnt immer dann die Oberhand, wenn sich offensichtliche Brüche zu den Regeln des Filmes ergeben. Entsprechendes gilt für Spiele – Regeln, die der Prämisse wiedersprechen oder die thematische Einkleidung konterkarieren, werden als Bruch empfunden. Sowohl thematisch als auch spielerisch. Das ist nicht immer vermeidbar, aber eine gute Erklärung für diese Brüche kann helfen, das Spielerlebnis zu verstärken.

ciao

peer

 

Peer Sylvester
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