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Das Wichtigste an Spielen

Als ich neulich in meiner Musikbox blätterte (d.h. Podcasts hörte), da stieß ich auf folgenden Gedanken. Es wurden Spiele dafür gelobt, dass sie die Spieler*innen ermutigten neue Strategien zu probieren oder riskante Züge zu machen. Die Spiele wurden gelobt, weil in diesen Spielen durch solche Aktionen immer etwas passiert. Auch wenn diese dann nicht perfekt ausgeglichen sind und sogar zum Kingmaking oder ähnlichem führten. Etwas, das ja in bestimmten Kreisen zutiefst verachtet wird.

Ich musste diese Beobachtung eine Weile sacken lassen, um dann für mich mit etwas Nachdruck festhalten zu müssen: solche Spiele gibt es nicht. Was es jedoch durchaus gibt, sind Spiele welche eine andere Spielkultur am Tisch annehmen. Eben weil diese Spiele auch aus einer anderen Spielkultur heraus entstanden sind.

Anders als viele MINT-gefärbte Spieler*innen schnell zu glauben scheinen, sind Spiele keine Auflistung von Handlungsanweisungen. Wir führen die Regeln nicht blind aus und werden am Ende mit einem erfüllenden Spielerlebnis belohnt. Brettspiele mögen zwar Interaktion beinhalten, aber sie sind im Herzen ein partizipatives Medium. Meine Kaffeemaschine ermöglicht mir auch Interaktion: ich stelle eine Tasse rein, drücke auf einen Knopf und erhalte Kaffee. Ich tue etwas und die Maschine reagiert darauf. Voilà: Interaktion!

Aber ein Spiel ist mehr als das. In einem Spiel trete ich nicht nur abwechselnd als ausführender und dann reagierender Teilnehmer auf. Durch die Spieler*innen entstehen auch die Rahmenbedingungen, welche aus dem gemeinsamen Interagieren, dem Nutzen der Komponenten oder der Befolgung von Regeln ein Spiel machen. Genauer gesagt: was ich am Spiel für wertvoll und wichtig erachte, ist identisch zu dem was dem Spiel Wert und Bedeutung verleiht.

Es ist nicht genug, dass im Regelheft steht, dass Siegpunkte die wichtigste Ressource im Spiel sind. Ich muss auch gewillt sein diese Siegpunkte als wichtigste Ressource des Spiels zu behandeln. Wer sich hier an den von mir oft zitierten magischen Zirkel erinnert fühlt, liegt genau richtig. Entscheidend ist in meinen Augen, dass es nicht das Spiel ist, welches diesen magischen Zirkel vorgibt und wir entscheiden einzutreten. Vielmehr sind wir es, die ihn zeichnen und aufrecht erhalten. Es ist unsere stillschweigende Übereinkunft, dass bestimmte Elemente des Spiels wichtig und wertvoll sind, welche den magischen Zirkel erschaffen.

Darauf aufbauend entfaltet sich unser Spielerlebnis, die emotionale Bandbreite des Spiels und auch die Höhen und Tiefen, die wir beim Spielen erleben. Alles das hat seine Wurzeln darin, dass wir gemeinsam das Spiel Ernst nehmen und seine Bedingungen und Einschränkungen als verbindlich akzeptieren.

Ein Spiel kann uns jedoch nicht vorschreiben was uns wichtig ist und was nicht. Es kann uns nicht vorschreiben welche emotionale Reaktion wir auf bestimmte Ereignisse im Spiel haben sollen. Entsprechend kann es uns auch nicht für eine Entscheidung „bestrafen“ oder „belohnen“. Es mag sich zwar so anfühlen, weil wir dem Spiel eine lehrende Absicht unterstellen, aber das ist ein Trugschluss. Ein Spiel ist letzten Ende ein Satz an Regeln und einige greifbare Komponenten. Manche sehen Spiele auch als untrennbar mit der Person verbunden, welche das Spiel gemacht hat. Aber dieses Argument scheint mir so viel Substanz zu haben, wie die Behauptung, dass man als Leser eines Romans einen persönlichen Dialog mit dem Autor/der Autorin eingeht. Es mag einer emotionalen Wahrheit entsprechen, aber keiner rationalen. Es ist im besten Fall eine persönliche Entscheidung auf diese Art mit dem Buch bzw. Spiel umzugehen.

Spielregeln sind für sich genommen wertneutral. Allerdings stehen Spielregeln niemals alleine. Sie sind in vielen Fällen thematisch eingebettet und werden damit in inhaltliche Zusammenhänge gebracht. Vor allem ist die Summe der Spielregeln (und des Themas) dem sozialen Rahmen untergeordnet, den die Spieler*innen auf das gemeinsame Spielen anlegen. Dieser hat in meinen Augen mehr Gewicht als der Kontext, der sich durch die thematische Einbettung ergibt.

Dieses Bild beinhaltet womöglich einen Spoiler

Das Sammeln von Siegpunkten ist nur so wichtig, wie wir selbst es nehmen wollen. Wir entscheiden wie viel Mühe, Aufwand und auch Wettbewerb wir in das gemeinsame Spielen investieren wollen, um sie zu erreichen. Das Spiel selbst kann uns diese Entscheidung nicht nehmen. Das gilt auch für die Rückschläge, die wir im Verlauf des Spiels erleben werden. Es ist nicht das Spiel, welches festlegt wie frustriert wir dadurch sind: oder wie wenig eine schlechte Runde uns aus der Bahn wirft. Ob wir durch eine sich abzeichnende Niederlage die Lust am Spiel verlieren oder ob es andere Facetten gibt, die das gemeinsame Spielen für uns lohnenswert machen, kann kein Spiel für uns beantworten. Es hängt von uns ab.

War darunter eine Pippi-Langstrumpf-Einstellung zu Spielen versteht, macht dabei einen tragischen aber leider weit verbreiteten Denkfehler. Denn der magische Zirkel ist keine individuelle Handlung. Er kann nur im Austausch miteinander entstehen. Es ist das gemeinsame Einhalten der Werte (nicht nur der Regeln wie manche altklug tönen), welches aus dem Spielen ein mit anderen geteiltes Erlebnis macht. Es sind eben die Werte der Spielrunde, die bestimmen, welches Spielverhalten wir als wertvoll und konstruktiv einschätzen und welches nicht.

Hier nun präsentiert sich der Gedanke der „Spielkultur“ in seiner fundamentalsten Bedeutung. Im Spielen miteinander reagieren wir auf die Anwesenheit unserer Mitspieler*innen und entwickeln so die Wertgrundlage für die gemeinsame Aktivität: das Spielen. Aus diesem Miteinander kann sowohl der Wunsch nach nervenaufreibendem und anstrengenden Wettstreit entstehen; aber auch der Wunsch nach Beisammensein und Rücksichtnahme. Ob wir so spielen, dass jede*r am Spiel teilnehmen kann; oder nur jene ihre Ziele erreichen, die taktisch und strategisch am Klügsten handeln, ist eine Frage der am Tisch geltenden Werte. Entsprechend ist es eine ärgerliche Verschiebung der eigenen Verantwortung, wenn Regeln als Begründung herangezogen werden, weshalb man andere im Spiel benachteiligt. Vor allem weil es eben verkennt wie viel des Spielerlebnis in Wirklichkeit in unserer Hand liegt.

Ob ungewöhnliche Strategien, riskante Züge oder „Kingmaking“ als Teil des Spielerlebnisses akzeptiert werden, liegt an uns. Es ist immer Folge der Spielkultur, die wir an den Tischen anstreben wollen. Ob Sieg oder Niederlage der Fixpunkt ist, um den sich unser gemeinsames Spiel dreht, haben wir in der Hand. Ob erinnerungswürdige Momente oder thematisch aufgeladene Situationen den Spielabend besonders lohnenswert und erfüllend machen, entscheiden wir.

Es gibt keine Spielregeln, die uns absprechen kann, den Spaß am gemeinsamen Spielen dort zu haben wo wir zusammenfinden.

Georgios Panagiotidis
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