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Interaktive Gedanken

Eigentlich wollte ich untersuchen, ob die ewige Beschwerde, Spiele seien früher interaktiver gewesen, zutrifft. Ich hätte als Datengrundlage die Spiele in der SdJ-Datenbank verwendet, weil diese immer einen gewissen Querschnitt des Jahrganges abbilden. Weit bin ich nicht gekommen, denn schon bald war mir klar: Die Überprüfung scheitert an der Unschärfe des Begriffes „Interaktion“. Ich hatte bereits darüber geschrieben, dass selbst so eine grobe Einteilung wie „positive“ und „negative“ Interaktion auch von der Perspektive abhängt, die man selbst einimmt. Prinzipiell haben wir es mit einem Spektrum zu tun, keiner binären Einteilung. Aber selbst die Menge der Interaktion hängt davon ab, was man gemau als Interaktion wahrnimmt. Und hinzu kommt noch, dass sich obenstehender Satz meistens auf eine ganz bestimmte Art von Interaktivität bezieht, die keinen eigenen Namen hat und zudemauch schwer abzugrenzen ist.

Vorweg: Jedes Spiel ist natürlich auf der Ebene Interaktiv, in der wie gemeinsam miteinander spielen. Selbst in einem komplett interaktionsfreiem Spiel, etwa einem Roll&Write, beobachten uns hören wir aufeinander, wir scherzen, wir machen eine gemeinsame Erfahrung, über die am Ende vielleicht auf die eine oder andere Art gesprochen wird. Für die absolute Mehrheit an Spielenden dürfte dies der Hauptgrund sein, überhaupt zu spielen (und warum die Erfahrung in online-Partien immer anders sein wird, als das vis-a-vis-Erlebnis). Ich werde diese Ebene aber ausblenden, denn es geht ja um die Interaktion im Spiel.

Schwieriger wird es bereits beim Meta-Spiel. Natürlich kann man das bluffen bei Showdown Tactics, das Lesen der anderen beim Poker oder Versuche die anderen davon zu überzeugen, bitte ihre Befindlichkeiten zurückzuschrauben, weil sonst schon wieder Alex gewinnt, mit Recht als „Interaktion“ bezeichnen, aber auch diese Formen will ich erst einmal außen vor lassen, denn es sind ja die Mechanismen des Spieles, die möglichen Handlungen auf dem Brett, die diese Formen des Metaspieles erst möglich machen: Der Hinweis, dass Alex immer gewinnt, würde bei Kniffel eben so wenig etwas ändern, wie bei einem Schach-Turnier.

Mit dem Hinweis können wir schon einmal eine erste Definition wagen: Interaktion bedeutet, dass die Handlungen einer Person Auswirkungen auf die Handlungen einer anderen Person haben. Doch selbst diese sehr allgemeine Definition hat bereits Grenzen. Zudem löst sie das Problem nicht, zwischen verschiedenen Interaktionsarten zu unterscheiden.

Beginnen wir einmal am unteren Ende der Interaktion: Es ist vermutlich am einfachsten sich vorzustellen, was „keine Interaktion“ bedeutet: Die Spielenden spielen zwar miteinander, aber ihre Handlungen haben keinerlei Einfluss aufeinander. Das erste derartige Spiel auf irgendwelchen SdJ-Nominierungslisten war Senso (später als Simon wiederveröffentlicht): Mein Drücken hängt nicht davon ab, was die anderen gemacht haben – nur in dem Sinne, dass wenn die anderen schon raus sind, ich nichts mehr zu tun habe. Das im letzten Jahr von der Jury nominierte Next Station: London hat eben so wenig Interaktion: Meine Züge haben keine Auswirkungen auf die anderen. So weit, so eindeutig.

Doch schon mit einer Variante bei Next Station kommt eine Prise Interaktion ins Spiel: Wer als erstes XY erledigt, bekommt mehr Punkte. Dies ist eine Form der Interaktion, die oft in sonst interaktionsfreien Roll&Writes genutzt wird. Nur: Macht diese Variante ein Spiel tatsächlich interaktiver? Meistens beeinflusst die Möglichkeit mehr Punkte zu kommen, meine Spielweise, aber interagiere ich wirklich mit den anderen? Und: wenn ich langsamer bin, bekomme ich weniger Punkte, doch das ist keine Interaktion, das ist eine Wertung. Ich will hier keine allgemeingültige Grenze ziehen, aber hier bewegen wir uns in der Grauzone. Wenn man die oben stehende Definition hart anlegt, dann handelt es sich nicht um Interaktion. Doch wenn man die oben stehende Definition hart anlegt, dann haben selbst Aktionskartenspiele manchmal keine Interaktion – denn wenn ich jemanden zwinge Strafpunkte o.ä. aufzunehmen, dann beeinflusse ich deswegen noch lange nicht dessen Handlungen, sondern nur dessen Punkte. Bei Spielen wie 6 Nimmt! ist die Interaktion zudem nur auf die Auswertung des Zuges bezogen: Alle wählen etwas und dann wird geguckt, was passiert. Auf die Züge der anderen gehe ich nicht mehr ein; das Abwickeln der Karten ist ein Automatismus, das was davor kommt, ist das von mir ausgeschlossene Meta.

Das sind viele Wörter, um zu zeigen, dass „Interaktion“ als Begriff schwer zu fassen ist. Wir brauchen neue Begriffe!

So zum Beispiel die „zufällige Interaktion“: Wenn ich bei Uno eine Karte spiele, beeinflusst das die Möglichkeiten der nächsten Person – aber ich habe meistens keine „Agency“ (also bewusste Handlung zur Einflussnahme) welche, ich weiß ja nicht, welche Optionen diese Person hat. Ähnliches gilt für das Draften bei Salt, Sea & Paper. Hinzu kommen noch Spiele wie Mensch ärgere Dich Nicht, bei der ich Glück brauche, um interagieren zu können. Theoretisch sind MÄDN-Partien denkbar, in denen bis zuletzt niemand jemals die Möglichkeit hatte, jemand anderen zu schlagen, weil passende Würfelzahlen fehlen. Interaktiv oder nicht?  Interaktion sollte schon die Möglichkeit vorraussetzen, gezielt genutzt zu werden.

Oder?

Nehmen wir Memory. Hier liegt die Interaktion darin, dass wir Informationen miteinander teilen. Doch tun wir das nicht freiwillig, sondern immer dann, wenn wir in unserem Zug eben nicht erfolgreich sind. Wir haben da keine „Agency“. Dennoch ist deutlich, dass mein Zug den Zug der anderen Personen am Tisch beeinflussen kann. Offensichtlich handelt es sich um einen anderen Typus an Interaktion. Aber um welchen?

Kooperation ist natürlich eine Form der Interaktion, egal ob freiwillig (wie bei kooperativen Spielen) oder unfreiwillig (wie bei Memory) Dabei gibt es wieder zahlreiche Formen der Kooperation und manche gehen stark in den Meta-Bereich: Ist The Mind interaktiv? Die Sache wird noch kompliziert, wenn Spiele selbst die groben Interaktionsformen „kompetitiv“ und „kooperativ“ vermischen, wie es etwa Teamspiele tun. Nehmen wir Captain Sonar: Innerhalb eines Teames spielen wir jeder für sich kleine Minispiele. Wir sollten mit gewissen Rückmeldungen innerhalb eines Teams kooperieren. Unsere Handlungen beeinflussen aber die Handlungen des anderen Teams, aber nur mittelbar: Wir nehmen denen (meistens) nichts weg, aber wir beeinflussen deren Entscheidungen. Es ist keine Frage, dass Captain Sonar interaktiv ist, aber quantifizieren kann ich das nicht, geschweige denn aufschlüsseln, welche Formen von Kooperation welche Anteile hat. Bei Verräterspielen kommt noch hinzu, dass die Möglichkeit eines Verräters das Spiel beeinflusst, auch wenn es keine solche Person gibt. Kann man mit einer nicht-existenten Person interagieren?

Kommen wir aus dem Labyrinth heraus und versuchen zwei Arten von Interaktion zu unterscheiden: physische und psychische Interaktion. Bei ersteren interagiere ich direkt „auf dem Brett“ durch das Wegnehmen oder Herstellen von Karten, Geld, Plätzen etc. Bei letzteren interagiere ich durch mögliche Strategien, auch wenn diese sich nicht unmittelbar auf dem Brett wiederfinden, wie das bei Memory oder bei Captain Sonar der Fall ist. Auch diese Einsteilung ist nicht vollständig oder wiederspruchsfrei: Worunter fallen Stichspiele? Oder Versteigerungen?

Statt „physisch“ und „psychisch“ werden oft die Begriffe „direkte“ und „indirekte“ Interaktion genutzt. Gemein ist damit in beiden Fällen physische Interaktion. Es ist eine Beschreibung dafür, wie unsere Züge die anderen Beeinflussen: Eben direkt (durch gezieltes in den Weg stellen) oder indirekt (ich nehme etwas, was jemand anderes brauchte). Doch sind diese Begriffe ebenso irreführend wie die obenstehende Fragestellung; Die meiste „Direkte“ Interaktion ist eher „Gezielte“ Interaktion: Ich interagiere mit einer ganz bestimmten Aktion, auf eine Art und Weise, die ich bestimme. Bei indirekter Interaktion, beeinflusse ich andere am Tisch, aber eben nicht gezielt: Ich nehme etwas, weil ich das brauche, nicht weil es jemand anderen schadet (oder zumindest nicht, um jemanden bestimmten zu schaden, sondern nur um allgemein zu verhindern, dass irgendwer profitieren könnte).

Doch selbst wenn ich mich auf diese Kategorie konzentriere, stören die Mischformen: Bei Hase & Igel handelt es sich in erster Linie um indirekte Interaktion, nach oben stehender Regel. Aber Hase&Igel würde kaum jemand mit modernen Eurogames (auf die der Vorwurf der fehlenden direkten Interaktion meistens gemünzt ist) gleichsetzen. Der Grund ist der hohe Anteil an psychischer Interaktion. Bereits das erste Spiel des Jahres hat also Interaktionsformen, die der Ausgangsaussage nicht nur zuwiederlaufen, sondern gar nicht mit erfasst werden. Ähnliches ließe sich über Sagaland sagen, wo wir sogar einen Hauch Kooperation dabei haben (durch geteilte Informationen).

An dieser Stelle muss man einfach festhalten: Das Thema ist interessant. Die Aussage, die ich untersuchen wollte, ist aber so unscharf, so unmöglich zu bewerten, dass sie nicht nur nicht richtig ist, sie ist nicht einmal falsch

ciao

peer

 

Peer Sylvester
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