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Spielregeln und Unterricht

Fragt man im Internet herum, was eine gute Spielregel ausmacht, dann hört man gerne etwas in der Art: „Eine gute Spielregel muss die Regeln des Spieles so präzise und vollständig wie möglich wiedergeben, damit die Spielenden genau wissen, wie das Spiel funktioniert“ Das ist sicherlich nicht falsch, ist aber in etwa so präzise wie „Guter Unterricht bedeutet, dass die Lernenden einen Sachverhalt so präzise wie möglich lernen und bei einem Test keine Fehler machen.“ Eine Spielregel (und Unterricht) soll ja durchaus noch mehr: Eine Spielregel soll den Einstieg in ein Spiel sein und das bedeutet nicht nur, dass die Spielenden wissen, wie das Spiel funktioniert, sondern auch warum sie das spielen sollen und was sie in etwa erwartet. Spielregeln werden gerne mit Gebrauchsanleitungen verglichen, aber der Vergleich hinkt doch arg: Wenn ich einen Kaffee möchte, muss ich wissen, wie die Kaffeemaschine funktioniert oder etwas anderes trinken. Wenn ich ein Spiel spielen will, muss ich zwar auch wissen wie das Spiel funktioniert, aber ich habe eine Alternative: Ich kann auf ein Spiel zurückgreifen, dass ich bereits kenne. Jedes neue Spiel muss mich erst einmal überzeugen gespielt zu werden – und eine schlechte Anleitung überzeugt mich eher vom Gegenteil. Etwaige Regelfehler mache ich gar nicht erst, wenn ich das Spiel nach einer verunglückten Regellektüre wieder in den Schrank zurückstelle. Umgekehrt sorgen Regelfehler vielleicht dafür, dass mir ein Spiel weniger Spaß macht, als möglich wäre, aber wenigstens verursacht ein Spiel bei unsachgemäßer Benutzung keine Schwelbrände. Mit anderen Worten: Der Schwerpunkt einer Spielanleitung sollte an anderer Stelle stehen, als bei einer Gebrauchsanweisung.

Wie die Überschrift subtil andeutet möchte ich stattdessen ein paar Parallelen aus der Unterrichtsgestaltung ziehen. Zumindest im Forschend-Entwickelndem Naturwissenschaftlichem Unterricht ist die Grobstrukutr des Unterrichts mit der Grobstruktur einer Anleitung zumindest vergleichbar (natürlich gibt es keinen „Universalstundenverlauf“ so wie auch Spielanleitungen in Abhängigkeit diverser Faktoren wie Zielgruppe oder Komplexität oder auch Druckkostenkalkulation voneinander abweichen werden. Außerdem soll es hier um die Vermittlung von neuem Lernstoff gehen und nicht um eine Übungsstunde o.ä.): Man beginnt mit einem Einstieg als Motivation für das kommende. Dann gibt es eine kleine Vorbereitungsphase, in der etwa Begriffe gesichert oder Beobachtungen (eines Experiments etwa) verglichen werden. Daraus folgt die Erarbeitungsphase, oft mit angemessenen Beispielen, um die Überlegungen der Lernenden zu steuern. Danach wird verglichen und in der Regel das Gelernte noch einmal vertieft, z.B. durch eine Anwendung. Die Stunde endet mit einem Stundenabschluss, z.B. einer kurzen Zusammenfassung oder einen Fazit.

Auch eine Spielanleitung sollte einen klaren und gelungenen Einstieg in das Spiel bieten und den Spielenden motivieren. Dabei reicht es nicht aus, ein paar Zeilen über die Hintergrundgeschichte zu fabulieren – in den meisten Euros ist diese Hintergrundgeschichte reiner Fluff und das wissen die Spielenden – Sie haben gelernt, dass diese Texte keinerlei Bedeutung für das kommende haben und lesen sie gar nicht erst. Auch das Spielziel mit „Die Spielenden versuchen durch geschickte Taktik und Handel am meisten Siegpunkte zu ergattern“ zu umschreiben sagt wenig darüber aus, was die Spielgruppe erwartet, wenn sie das Spiel aufgebaut hat. Man vergleiche dies mit diesem Text (Far Away von Alexander Jerabek / Cherry Picked Games):

 

Der Text ist nicht nur lustig zu lesen, er vermittelt sehr effektiv, dass das Spiel Humor hat, dass es kooperativ ist, voller Überraschungen steckt (die Spielenden wissen nicht, was sie erwarten können) und das ein hoher Grad an Kooperation notwendig ist, bei sehr limitierten Kommunikationsmöglichkeiten. Außerdem ist klar, was die Spieler eigentlich tun werden: Einen Planeten erkunden. Alles was danach kommt kann nun in diesem Kontext gelesen werden. Der Text motiviert die Anleitung zu lesen und er führt das Spiel ein. Das soll eine gute Einleitung erreichen!

Zum Vergleich die Einleitung des Spieles Majesty von Marc André, erschienen bei Hans im Glück:

 

Hier erfährt man lediglich, dass es in Majesty um (sehr wichtige) Personen und Gold geht. Was es mit diesen Personen auf sich hat, ja was man eigentlich macht, ist unbekannt. Sicherlich hat Majesty im Vergleich zu Far Away das Problem, dass das Thema sehr viel schwächer ist und nur wenige narrative Anker bietet. Dennoch weiß selbst Hans im Glück, dass die Einleitung überflüssig ist und haben eine Seite weiter noch eine genauere Einführung geschrieben:

Diese Einführung ist schon etwas genauer: Immerhin weiß ich, dass mein Königreich aus Gebäuden besteht und das ich Personen anwerbe, um diese in die Gebäude zu stecken, auf dass sie mir Geld (und den Spielsieg) bringen. Der letzte Absatz ist aber in dieser Einleitung fehl am Platze: Es ist keine Regel, die ich brauche, um das folgende zu verstehen. Und das Konzept „Wenn ich Münzen nehmen soll, dann nehme ich mir die und muss ggf. wechseln“ ist nicht so spektakulär neuartig als dass es an dieser Stelle eine Hervorhebung verdient.

Ich möchte hier keine neue Einführung für Majesty formulieren – aber in diesem Fall wäre die Zusammenfassung am Ende der Anleitung absolut auch als Einführung denkbar, denn Majesty ist einfach zu erfassendes Spiel und die Zusammenfassung ist auch verständlich, ohne die Anleitung vorher gelesen zu haben. Ob diese Möglichkeit die größtmögliche Motivation das Spiel zu spielen auslöst sei allerdings dahingestellt Gerade Punkt 5 hilft aber gerade in der Einführung einen lockeren Ton zu setzen – während am Ende der Anleitung dieser Effekt eher verpufft.

Nach der Einleitung orientieren sich die meisten Anleitungen im Aufbau an der Struktur des Spieles: Aufbau – Spielverlauf – Spielende – Dinge für spätere Partien, z.B. Varianten, Archievements etc. Diese Struktur ist durchaus sinnvoll, denn sie ist sachlogisch und zudem haben sich die Spielenden daran gewöhnt, was es einfacher macht, Dinge nachzuschlagen. Sind Teile an anderer Stelle verwirrt das. Dennoch ist es wichtig, dass zwischen Einleitung und Aufbau durchaus noch Platz für die „Vorbereitungsphase“ ist, also das Einführen wichtiger Konzepte und -ganz wichtig! – des Spielmaterials. Ich bin überrascht, dass ich auch 2021 noch in zahlreichen Spielen selbst herausfinden muss, welche Karten wie aussehen. Gerade der Spielaufbau sollte einem möglichst leicht gemacht werden, ist es doch die Spielphase, die einem in der Regel am wenigsten interessiert und die möglichst schnell abgeschlossen sein sollte.

Die Einführung des Spielverlaufes sollte sich dem didaktischen Kredo: Vom Einfachen zum Komplexen unterwerfen. Das ist in der Praxis oft allerdings einfacher gesagt als getan: Einerseits ist es gut, wenn man erst die Grobstruktur erklärt bekommt, dann die Basiskonzepte und dann immer mehr ins Detail geht. Das hilft auch kleine Redundanzen aufzubauen, so dass eine wichtige Regel nicht nur an einer Stelle steht, sondern durchaus auch noch einmal wiederholt an einer zweiter Stelle. Auf der anderen Seite ist eine Regel. in der alles doppelt und dreifach erklärt wird auch länger als nötig. Und eine Seite „Weitere Regeldetails die irgendwie wichtig sind“, ist auch nicht dazu angetan, das Regelverständnis zu vergrößern. Hier tue ich mich schwer, eine allgemeine Regel (haha) anzugeben, aber ein paar Hinweise will ich doch loswerden:

  • Eine gute Einleitung sagt mir bereits was ich tue, dann brauche ich das nicht genauso zu wiederholen
  • Wirklich elementare Konzepte sollten ausgegliedert werden. Bei Leaving Earth gibt es ein ganzes Kapitel zur Berechnung der nötigen Schubkraft. Und ja, dass ist tatsächlich Raketenwissenschaft, die dort eingeführt wird, aber da dies vor dem eigentlichen Spiel passiert, mit zahlreichen Beispielen und Erklärungen, ist das didaktisch absolut vorbildlich.
  • Bei der Gelegenheit: Regeln nach der Einführung thematisch zu begründen, hilft es ungemein, den Sinn zu verstehen. Bei Far Away ist jede Regel thematisch begründet – das ist nicht nur lustig zu lesen, sondern hilft auch ungemein ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie das Spiel funktionieren soll.
  • Aber narrative Anker und thematische Einbettungen helfen nur, wenn sie den Spielenden auch intuitiv bekannt sind. So sind thematische Regeln, die sich auf Wissen beziehen, das nicht vorrausgesetzt werden kann, durchaus Quellen für Verwirrung. Im Unterricht wird so etwas „vorentlastet“, d.h. es sind Kompetenzen oder Fakten, die in Vorstunden trainiert werden. Im Spielebereich sind eine ganze Reihe von Konzepten vorentlastet – z.B. Blind Bidding, Mehrheiten oder das machen von Stichen – und je nach Zielgruppe müssen die nicht mehr ganz detailreich erklärt werden oder können zum Nachlesen nach Bedarf in Kästen ausgegliedert werden. Obskurere Konzepte -oder die erwähnten thematischen Regeln – müssen dagegen ausführlicher erläutert werden, z.B. im Rahmen einer längeren Übersicht was wo warum passiert ist, auf die dann wieder bezug genommen werden kann.
  • Sonderbegriffe für bekannte Strukturen wie „Karte spielen“, „Runde“ oder „Spielstein“ sind keine thematische Begründung, sondern bestenfalls thematische Einkleidungen. Sie erhöhen die Verständnishürde. Ihr Einsatz will wohlüberlegt sein!
  • Beispiele sind hilfreich und hier empfiehlt die Didaktik: Je nach Sachverhalt 2-4 Beispiele, angefangen bei einem absolut einfachem Fall, und dann immer weiter in Grenzbereiche steigern.
  • Bilder sind wie Beispiele. Nur lockern sie auch noch den Text auf.
  • Regeln für Grenzfälle sollten als solche gekennzeichnet sein und können durchaus kursiv gedruckt werden. So geschieht eine Gewichtung und der Lesende weiß, auf was er sich beim Durchlesen konzentrieren sollte.
  • Ein einfaches Spiel sollte das in den Regeln wiederspiegeln. Wenn sich ein Spiel leichter und flüssiger spielt, als die Regel andeutet, ist die Regel schlecht. Hier ein paar Gedanken dazu.

Das wichtigste ist allerdings dass die Struktur der Regeln und des Spieles klar erkennbar bleibt. Regeln müssen priorisiert werden, die Spielende müssen wissen, was sie gerade lernen und warum. Eine gute Struktur erschließt sich dem Lesenden intuitiv. All das wird nicht zuletzt mit der Einführung angestoßen – Regeln früherer FFG – Spiele waren auch deshalb so furchtbar, weil diese Struktur fehlte: Oft wurden z.B. anfangs Karten vorgestellt und dabei Regeldetails eingeführt, bevor klar war, wie diese Karten ins Spiel eingebettet waren, ja bevor klar war, was die Spielenden überhaupt machen. Letzteres ist die wichtigste Frage, deren Beantwortung so früh als möglich geschehen sollte (und auch nicht nur allgemein in der Einleitung, sondern auch konkret in der Spielverlaufserklärung).

Nach der Bearbeitungsphase – dem Spielverlauf – kommt im Unterricht die Vertiefung. In der Spielregel entspricht dies weiterführenden Regeln für „Profis“ oder Kampagnen, aber auch Erklärungen der Kartentexte, der Gebäudefunktionen usw. Nicht jede Spielregel braucht diesen Teil natürlich, aber wenn es ihn gibt, sollte der vollständig sein. Nichts ist ärgerlicher, als wenn einige Karten in der Kartenübersicht fehlen, weil sie schon an anderer Stelle erwähnt wurden (ja, auch das habe ich schon erlebt).

Am Ende des Unterrichts folgt hoffebtlich eine Abrundung und wenn die Spielregel nicht ohnehin in wenigen Sätzen zusammenfassbar ist, ist eine Regelübersicht am Ende sinnvoll, zur Not mit Seitenzahlen zum nachschlagen. Eine gute Kurzregel erlaubt es einem Regelkundigem das Spiel anhand der Kurzregel zu erklären. Eine unvollständige Kurzregel nützt wenig – minimal sollten alle Kernregeln untergebracht sein (Sonderfälle können ja nachgeschlagen werden). Sollte das Spiel zu komplex für eine solche Zusammenfassung sein, sollten zumindest „Regeln die man leicht vergisst“ und die wichtigsten Tabellen und Symbole abgedruckt werden.

Es gibt vieles was man beim Schreiben einer Regel besser oder schlechter nachen kann: Von der Schriftgröße angefangen über das gendern (ich empfehle „Die Person, die…“ statt „Der Spieler, der …“) über Regelunklarheiten usw. Aber die wichtigsten Punkte sind Struktur und Einstieg, hier sind didaktische Grundprinzipien hilfreich. Denn auch wenn Boardgamegeek-User in den Diskussionen dort anders denken mögen: Wenn ich ein Spiel erstmal im Konzept verstanden habe, dann kann ich auch Regelunklarheiten besser auflösen. Wenn ich zwar weiß, was die Regeln sind, aber ich nicht weiß, warum ich eigentlich mache, was ich mache, bin ich davon abhängig, dass jeder Satz unzweideutig formuliert ist. Und das geht nicht. Daher denke ich, dass der Aufbau der Regel essentieller ist, als die genaue Formulierung einzelner Sätze.

ciao

peer

P.S. : Weitere Lektüre auf der Spielbar: Hier von Georgios über die Motivationsfrage bei Spielregeln und hier noch was über Tutorials von mir

Peer Sylvester
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