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James Watts und die Kramerleiste

Ich lese gerade Neal Stephensons neuestes Buch Anathem. Der Protagonist ist eine Art Mönch und als solcher wird fleißig philosophiert. Einmal bemerkt eine Verwandte zu ihm : „Das ist frustrierend! Ich hab das Gefühl, dass alles was ich sage, bereits irgendwo in deinen Schriften steht, also schon vor Hunderten von Jahren von jemand anderem gesagt wurde“

„Genau das ist die Aussage des Kanons von XYZ!“

Ähnlich ist es manchmal mit Spielen. Spiele werden gerne mit anderen Spielen verglichen. Und gar nicht so selten kommt es vor, dass jemand schreibt: „Ja, das war mal ne originelle Idee!“, nur damit jemand anderes widerspricht: „Naja, das ist nur eine Abwandlung von der Idee sounso. Das gabs schon mal.“

Die Frage ist: Wie viele neuen Ideen gibt es wirklich?

Antwort: Eine ganze Menge! Nur sind die meisten eher unscheinbarer Natur: Eine Mischung aus verdeckten und offenen Karten in einem Nachziehstapel kam (meines Wissens) zum ersten mal bei Kleopatra und die Baumeister vor. Bei Hab & Gut wurde (meines Wissens) zum ersten Mal die Kartenauslage für gemeinsame Nachbarn verwendet usw. Alles kleinere Mechanismen, die sicherlich bald auch in anderen Spielen auftauchen werden.

Was dagegen selten ist sind die echten Meilensteine – und da findet man nur schwer einen Anfang. Was sind in den letzten Jahren wirklich revolutionäre Mechanismen gewesen? Mechanismen, welche die Spieleentwicklung vorantrieben? Und welche davon kamen wirklich aus dem Nichts?

Ein prominentes Beispiel ist die Kramerleiste. Allein ihre fast allgegenwärtige Präsenz zeigt ihren Einfluß auf modernes Spieldesign. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit Punkte nicht aufschreiben zu müssen: Es ist oft ein Plus wenn man bei Spielende schnell feststellen kann, wer gewonnen hat. Bei klassischen Spielen ist entweder nur einer übrig (Schach) oder jemand hat ein Ziel erreicht (Gänsespiel). Dank der Kramerleiste kann man nun verschiedene Siegpunkte in verschiedenen Bereichen verteilen und hat dennoch den Vorteil, dass man sieht, wer am Ende gewonnen hat (Hinzu kommen noch Varianten, die mit der Leiste selbst spielen, wie z.B. bei Hekla, ber der die Position auf der Leiste Spielrelevanz besitzt. Hier ist auch noch viel Raum nach oben.)

Nun können die Kritiker anmerken: Hey, die Kramerleiste ist gar keine neue Erfindung! Cribbage benutzt seit 300 Jahren eine Punkteleiste! Das war gar keine originelle Idee!

Das mag sein. Doch möchte ich dagegenhalten: Welche revolutionäre Erfindung wurde denn schon ohne jegliche Vorarbeit geleistet? Beispiel: James Watts Dampfmaschine hat die Welt wirklich verändert: Sie hat das industrielle Maschinenzeitalter eingeläutet und den Weg für Eisenbahn, Auto und Stromnetze frei gemacht. Ihm zu Ehren ist die Einheit von Leistung Watt. Und doch hat Watts nicht „Die Dampfmaschine“  erfunden – Dampfmaschinen waren zu Watts Zeiten bereits seit 1600 Jahren bekannt. Watts Leistung besteht darin, sie so zu verbessern, dass sie zu einem konkreten Zweck eingesetzt werden konnte und hr Einsatz neue Möglichkeiten eröffnete. Erst durch Watts Verbesserungen wurden Dampfmaschinen weitläufig eingesetzt. Und daher ist es nur irgendwo konsequenz dass er mit der Erfindung der Dampfmaschine assoziiert wird, auch wenn das genau genommen gar nicht stimmt. (*)

Ähnlich mit der Kramerleiste: Kramers Idee ist weniger die Idee als solche -hier gabs ja in der Tat schon Cribbage – sondern ihr Einsatz in einem Brettspiel. Und das mit all den oben genannten Implikationen. Und so ist es kein Wunder, dass  300 Jahre lang die Punktleiste auf Cribbage beschränkt war, während Kramers Punkteleiste sich so schnell in der Spielewelt ausbreitete dass heute grob geschätzt ein gutes Drittel der (deutschen) Brettspiele von ihr Gebrauch machen dürfte.

Und ähnliches lässt sich wohl für alle revolutionären Brettspielentwicklungen sagen. Magic entstand z.B. aus den Baseball-Sammelkarten. Die Genialität lag darin das Prinzip mit einem Spiel zu verknüpfen (Und mit einem guten Spiel. Es gibt viele Sammelkartenspiele die Schrott sind, ob der Sammelkartenboom so grpß gewesen wäre, wenn Magic ein sehr viel schwächeres Spiel wäre?). Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Will man also die Brettspielhistorie aufstellen muss man nicht fragen: Wer hat als erster einen Mechanismen erfunden? Sondern: Wer hat als erster einen Mechanismus so geschickt eingesetzt, dass dieser Bestandteil der „Spielkultur“ geworden ist?

ciao

Peer

(*) An dieser Stelle eine Anmerkung die nichts mit Spielen zu tun hat: Es wird in Manager-Seminaren und -Büchern gerne behauptet, dass Watts einfach ein guter Marketing-Stratege war (Genau wie alle anderen Erfinder, die eine bestehende Idee zur Marktreife brachten) und man deshalb seinen Namen mit einer Erfinder assoziiert. Ich halte das für ausgemachten Unsinn: Watts hat den entscheidenden, den letzten Schritt gemacht. Und den behält man nun einmal besser in Erinnerung als den ersten…

Peer Sylvester
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3 Kommentare

  • „Wer baute das siebentorige Theben
    In den Büchern stehen die Namen von Königen.
    Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
    … “
    http://www.kerber-net.de/literatur/deutsch/prosa/brecht/fragarb.htm

    Mit
    „Watts hat den entscheidenden, den letzten Schritt gemacht. Und den behält man nun einmal besser in Erinnerung als den ersten…“
    gibst du uns eine plausible Erklärung dafür, weshalb man sich an Watts als Erfinder der Dampfmaschine erinnert und an Kramer als ‚Erfinder der Kramerleiste‘.

    Eine ganz andere Frage ist, ob das auch sinnvoll ist.

    Wenn du schreibst:

    „Will man also die Brettspielhistorie aufstellen muss man nicht fragen: Wer hat als erster einen Mechanismen erfunden? Sondern: Wer hat als erster einen Mechanismus so geschickt eingesetzt, dass dieser Bestandteil der “Spielkultur” geworden ist?“

    so frage ich: Warum?

    Weil man dann die richtige Frage hat zur vorgegebenen Antwort?

    Wäre es nicht besser, eine andere Antwort auf die – imho richtigen – Fragen zu finden: Wem alles verdanken wir die Dampfmaschine? Wem alles verdanken wir die – keinesfalls zu Unrecht nach Wolfgang Kramer benannte – Punkteleiste?

    Die Antwort ist dann wohl, dass der Erfolg einer Innovation – wie auch eines ganzen Spieles – viele Väter (und/oder Mütter) hat.
    Vielleicht kommen wir so auch zu dem Selbstverständnis, dass wir Autoren mehr miteinander zu tun haben als wir glauben, eng miteinander kooperieren, ohne das ausreichend wahrzunehmen.

    Anstatt die Fragestellung unserer beschränkten Wahrnehmung anzupassen, könnten wir auch versuchen die Frage zu beantworten und dabei unseren Horizont erweitern.

    Kathrin Nos und Wolfgang Friebe gehen auf http://fairplay-online.blogspot.com/search/label/Innovationen leider auch nur den einfachen Weg, verstärken den Effekt, demjenigen den wichtigsten Anteil an einer Innovation zuzuschreiben, den wir eh schon gedanklich am meisten damit verbinden. Das bringt keine neuen Erkenntnisse sondern festigt bestehende Vorstellungen. Kann man natürlich machen. Aber dann: Mehr Weihrauch bitte! :)

    Gruß, Günter

  • Ich gebe dir soweit Recht als dass ich nicht hätte „Spielehistorie“ schreiben sollen. In einer historischen Betrachtung sollte schon eine Erfindung mit all ihren Entwicklungsschritten aufgezeigt werden.
    Für den Hausgebrauch ist es aber imho durchaus ausreichend festzustellen, wer die Erfindung so modifiziert hat, dass man etwas damit anfangen kann. Ein Grund ist schlichtweg: Welche Vorläufer zählen, welche nicht? Was ist eine Dampfmaschnine? Muss ich Gleiter mitzählen wenn ich die Flugzeuge betrachte? Und gelten Striche, die man auch schon vor Cribbage gemacht hat, um Punkte visuell festzuhalten schon als Kramerleiste? Immerhin ist es eine entstehende Leiste ohne Pöppel – Dasselbe Prinzip oder nicht?
    Und was ist mit Otto Schneiders geheimen Prototype der in einer Auflage von 6 Spielen veröffentlicht hat und den Mechanismus vorweggenommen hat. Soll der auch zählen? Wir gelangen recht bald in einen Nebel von Grauzonen, die nicht immer eindeutig aufgelöst werden können, gerade wenn es um Bahnbrechendes geht.
    Ein weiteres Beispiel: Mr. Zero verwendet imho einen der originellsten Mechanismen überhaupt – aber man könnte genauso argumentieren, es wäre 1:1 von einfachen Computerlogarithmen kopiert. Originell oder nicht? Der Mechanismus selbst war bekannt. Sein Einsatz in einem Brettspiel war (imho) genial. Wem soll man den Mechanismus zuschreiben? Dem Autor von Mr. Zero oder den Entwicklern entsprechender Algoryhtmen?
    Was ganz anderes? Ich glaube nicht, denn bei der Kramerleiste gehts auch im Prinzip um die Frage: Ist der Einsatz eines aus einem anderen Bereich (Kartenspiel) bekannten Mechanismus nun eine neuartige Erfindung oder nicht? Ähnliches könnte man auch bei Dominion fragen, wo es vielleicht sogar noch deutlicher ist: „Deck Construction“ als Spielmechanismus – origenell oder nicht?
    ciao
    peer

  • Was ist der Hausgebrauch? Welchen Nutzen hat es zu wissen, wer den letzten Schritt gemacht hat, wenn man noch nicht einmal genau weiß, wo dieser begann?

    In Bezug auf die Kramerleiste besteht der ‚goldene Schritt‘ nicht darin, den Punktestand auf einer sog. Leiste festzuhalten, sondern darin, dass diese Leiste um den Spielplan angelegt ist, so dass man Punktestand und restliche Spielsituation gemeinsam wahrnehmen und handhaben kann. Das ist mehr praktisch als innovativ. Aber auch darauf muss man erstmal kommen.

    Das Wissen um eine Leistung ist umso nützlicher, umso besser man sie in einen Zusammenhang einordnen kann. Nur dann kann man eine Leistung auch angemessen würdigen. Und man hat die Möglichkeit, auf Einzelaspekte zu fokussieren oder auf umfasendere Projekte einzugehen.

    Beim Flugzeug z.B. kann man den ersten Motorflug hervorheben, den ersten Langstreckenflug etc. Was dabei wichtig ist, ergibt sich aus der Natur der Sache und dem engeren zeitlichen zusammenhang. Will man z.B. auf eine besonders innovative Flügelform verweisen, so kann es durchaus sinnvoll sein, auf ein Insekt oder einen Vogel zu verweisen.

    Zudem sollten wir Spieleautoren uns zwar auch aber nicht nur um die Innovation der Spielmechanik kümmern sondern um die Gestaltung des gesamten Werkes. Ist bei Bildern und Büchern doch auch so. Oder sind wir doch mehr Spieleerfinder als Spieleautoren?

    Gruß, Günter