Vor einiger Zeit fragte mich jemand, ob ich wirklich denke, dass Spielende sich nicht kritisch mit den Spielen auseinander setzen, die sie spielen. Also dass sie die Themen nicht hinterfragen oder ihr eigenes Handeln reflektieren. Meine Antwort darauf war ein klares Nein, ich denke nicht, dass das passiert.
Dabei halte ich den Spieler*innen nicht zwingend fehlendes Interesse vor. Denn die Breite an Spielthemen findet durchaus Gehör in der Spieler*innenschaft. Auch ist mir bewusst, dass Spielgruppen ihre Spielaktionen nicht unentwegt bis zur Inhaltslosigkeit abstrahieren. Spiele wie Spirit Island oder Molly House werden ja gerade deshalb mit viel Begeisterung besprochen, weil man sich so nah an die Erzählebene hält. Aber das alleine ist in meinen Augen kein Beleg für eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit Spielen.
In den meisten Fällen drückt sich die Auseinandersetzung mit einem Thema dadurch aus, dass Spielende das Setting kurz bewerten. Kulturell gefärbte Spielthemen (z.B. im Spiel Kauri, welches in Neuseeland gesetzt ist) gelten oft als unangemessen oder verfehlt, wenn dahinter Personen stehen, die keinen direkten kulturellen Bezug zu dem Setting haben. Häufig wird dann noch geschaut, ob das Setting Stereotypen und Klischees bedient oder mit ihnen bricht. Die „Auseinandersetzung mit dem Thema“ des Spiels gilt besonders dann als kritisch, wenn man das Aufgreifen von Stereotypen benennen und begründet anprangern kann.
Ein Setting, das sich eher auf historische und real-weltliche Zusammenhänge beruft, wird darauf geprüft, ob es dem aktuellen (oder auch nur eigenen) Wissensstand entspricht. Tragen Orte und Objekte die richtigen Namen für die Zeit? Sehen die gezeigten Personen im Spiel so aus wie die Gruppen, zu denen sie gehören müssten? Entsprechen die im Spiel entstehenden Situationen unserem Verständnis der tatsächlichen Zusammenhänge? Spätestens hier wird deutlich, dass diese Beschäftigung mit dem Thema eher einem Abgleichen des Settings mit einer Liste von etablierten Tatsachen entspricht. Es ist nicht das Selbe wie ein Thema mit einem kritischen Blick zu durchleuchten und Fragen zu stellen.
Das Thema wird an Hand seines Settings bewertet, aber darüber hinaus nicht weiter betrachtet. Das individuell empfundene Immersionserlebnis wird vermutlich oft als Maßstab genommen, um ein Thema als besonders gelungen zu würdigen. Ein besonderes immersiv empfundenes Setting wird als Beweis für ein besonders gut ausgearbeitetes Thema angesehen.
Wenn es darum geht das eigene Handeln zu reflektieren, wird auch hier das Setting als Ausgangslage genutzt. Das bedeutet, die eigene Aktion wird zuerst in das Setting übersetzt. Je nach gewähltem Spiel kann das Platzieren einer Spielfigur hier das Verbreiten von politischem Einfluss sein, das Erobern einer Ortschaft oder auch das Bauen eines Gebäudes.
Wenn wir das Spiel zumindest in seinen Grundfesten ernst nehmen, nutzen wir dafür auch die Begriffe und Worte welche die Anleitung dem Spielmaterial selbst gibt („Meine Diebesgilde breitet sich in der Stadt aus und ihr verliert Geld und Ansehen.“) Ist uns das Thema eines Spiels egal, greifen wir auf schlichte Objektbezeichnungen zurück („Ich setze meinen blauen Würfel ein und ihr verliert 1 gelben und 1 roten Würfel.“). Wenn Spielende über ihr Handeln nachdenken, tun sie das darum immer als Reaktion auf die eigene Übersetzungsleistung. Je nachdem mit welchen Worten (bzw. Sprachbildern) sie ihre Aktion beschrieben haben, hat diese mal mehr und mal weniger erkennbare Reaktionen zur Folge. Einen Marker von Position 4 auf Position 2 zu bewegen, werden die meisten Spielenden nicht als besonders aussagekräftigen Schritt wahrnehmen. Aber wenn man wie in „Der Herr der Ringe – Das Schicksal der Gemeinschaft“ damit Hoffnung verlieren, dann ist es die Wortwahl alleine, die hier etwas Zusätzliches in uns auslöst.
Wenn wir also über das eigene Handeln reflektieren wollen, müssen wir zuerst den richtigen Wortschatz anwenden. Erst dann kann man von Handlungen sprechen, über die es überhaupt wert ist nachzudenken. Aber selbst wenn man einräumt, dass Spielende die sprachliche Auskleidung des Spiels aufgreifen und die erzählerische Fähigkeiten besitzen ihre Aktionen in ein größeres Narrativ einzubetten: das resultierende Handeln wird innerhalb der selbst gebauten Vorstellungswelt beurteilt. Man schaut innerhalb der Schneekugel des Spielthemas auf das eigene Tun und versucht es in diesem Rahmen zu bewerten.
Das gemeinsame Spielen ist hier die Inspiration für hypothetische Überlegungen innerhalb des Spielsettings. Darum ist es kein Wunder, dass sich manche Spieler*innen bei Themen wie dem 2. Weltkrieg stark unwohl fühlen. Es ist nicht die moralische Empörung oder Ablehnung der realen Geschehnisse, die hier im Vordergrund steht. Man reagiert vielmehr auf die Vorstellungen und Bilder, welche durch das Spielen impliziert werden. In die Perspektive eines Nazigenerals oder Wehrmachtssoldaten einzutauchen wird als abstoßend empfunden und entsprechend abgelehnt. Die Abscheu ist bereits vorhanden, aber das Spiel drängt nahezu auf, sich den entsprechenden Vorstellungen weiter auszusetzen.
In beiden Fällen steht der Gedanke der Immersion im Mittelpunkt. Gerade darum sehe ich diesen Umgang mit einem Spiel nicht als kritische Hinterfragung des Themas oder als ein Reflektieren über die eigene Handlung an. Wenn wir das Setting darauf prüfen, wie sehr es unserer Immersion dienlich ist, dann ist das nicht die Art der kritischen Auseinandersetzung um die es geht. Auch ist unsere Reaktion auf die Ideenwelt, welche sich aus den Begriffen des Settings speist und die wir sprachlich selbst konstruieren, kein Nachdenken über unser Tun. Wenn wir auf die Situationen im Spiel und ihre bildhafte Beschreibung reagieren, dann spielen wir einfach nur das Spiel.

Im Kreise unserer Mitspieler*innen erleben wir eine Fiktion welche sich aus den Spielhandlungen speist und von uns zu einer thematischen Spielerfahrung ausgeschmückt wird. Wenn ich meine Figuren auf dem Spielbrett verschiebe und anschließend würfele, dann vollziehe ich eine Spielhandlung gemäß der Regeln des Spiels. Wenn ich diese Handlung als „Angriff auf deine Schiffe im blauen Sektor“ umschreibe, dann schmücke ich meine Aktion thematisch aus. Wenn wir später darüber sprechen wie viele Tote dieser Angriff wohl gekostet haben mag und wie ich mich bei diesem Gedanken fühle, dann trete ich nicht aus dem Spiel heraus und reflektiere mein Handeln.
Stattdessen habe ich lediglich einen Spielimpuls weiterentwickelt, den Kinder bereits im Sandkasten kennen, wenn sie „Kuchen backen“ und sich diesen gegenseitig anbieten. Es ist der spielerische Akt selbst, wenn wir aus der Gegenständlichkeit des Spiels eine thematische Erzählung herleiten und uns dabei weigern diese Fiktion als belanglos abzutun. Es ist der gleiche Impuls, den Johan Huizinga erkannt hat, um damit den Bogen vom Spiel zur Kultur zu schlagen.
Wenn wir also über die Zahl der Opfer meines Angriffs im blauen Sektor sprechen und darüber urteilen, hinterfragen wir damit nicht unser Handeln. Stattdessen verlängern wir den Spielakt (bzw. den magischen Zirkel) über die Spielpartie selbst hinaus. Damit fehlt uns die kritische Distanz zur Fiktion, und ein Nachdenken über unsere Handlungen findet in diesen Momenten nicht statt.
Es kommt erst zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema eines Spiels, wenn wir uns genauer anschauen wie wir über unser Spielen sprechen und nicht wie wir uns beim Gebrauch bestimmter Begriffe fühlen. Wie ordnen wir unser Spielaktionen in die thematischen Begriffe des Spiels ein? Was klammern wir aus unserer Vorstellung des Spielverlaufs aus? Was fügen wir dem Spielthema durch eigene Ideen hinzu? Über all diese Einstiege in die kritische Betrachtung des Themas, steht letztendlich die Frage „Warum?“.
Warum produzieren wir diese thematische Erfahrung aus den Komponenten des Spiels? Erst wenn wir darauf eine Antwort finden, lässt sich meiner Meinung nach ernsthaft darüber sprechen wie lobenswert oder kritikwürdig ein Thema tatsächlich ist.
Die Frage was das Thema mit uns “macht” ist bei Spielen eben gerade nicht auf die rein emotionale Ebene beschränkt. Spiele sind ein interaktives “Medium”. Sie leiten uns an bestimmte Dinge zu tun und bestimmte Zusammenhänge in Kombination mit dem Thema zu denken. Gerade das gilt es meiner Meinung nach kritisch zu betrachten.
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