Auf der Pressekonferenz am Mittwoch stellte eine sichtlich emotionale Carol Rapp glaubhaft klar, dass die Spieletage natürlich in Essen bleiben würden und dass es keinerlei Umzugspläne gäbe. Wie bei jedem guten Streisand-Effekt wurde diese doch recht eindeutige Aussage bei uns im Netzwerk lebhaft diskutiert: Die Messe platzt (mal wieder) aus allen Nähten. Zwar gibt es eine neue Halle, dennoch waren zwei Tage bereits vor Messebeginn ausverkauft, der Donnerstag folgte alsbald und selbst der Sonntag war am Ende komplett ausgebucht. Auch die Ausstellerseite war (wie man hört) bereits früh im Jahr ausgebucht Anders ausgedrückt: Die Messehallen sind an der maximalen Kapazitätsgrenze, die Stadt Essen (Hotels, Restaurants, Nahverkehr) auch, Besucher und Aussteller haben ihren Zenit aber noch lange nicht erreicht. Wie groß das Potential noch ist, vermag ich nicht abzuschätzen. Will zumindest ein Partner der Messe dieses Potenial abschöpfen, ginge das nur in einer Stadt mit größerem Messegelände. Und aus Besucher:innensicht schrecken die ewig steigenden Hotelpreise ab.

Die Diskussion beleuchtet aber auch einen generellen Konflikt, der mir dieses Jahr stärker aufgefallen ist, als sonst: Auf der einen Seite sind die Spieletage das Mekka der Spielenden, es ist Gelegenheit miteinander zu spielen, sich zu treffen und neues aus aller Welt kennenzulernen. Es ist ein völkerverbindendes Ereignis, wie es sonst nur sportlichen Monumentalveranstaltungen oder Konzerten von den Größten der Branche vorbehalten ist. Zudem sind die Spieletage traditionell in Essen verwurzelt, “Essen” ist unseren Kreisen ein geflügeltes Wort, ein Standortwechsel wäre ein gewaltiger Stil- und Traditionsbruch.
Auf der anderen Seite sind die Spieletage aber auch eine kommerzielle Veranstaltung. Die Messeleitung möchte natürlich die spielerische Tradition ehren, aber sie muss auch Gewinn abwerfen. So ist man natürlich ebenso dankbar wie sich der Verantwortung für die wichtigste Spieleveranstaltung bewusst. Doch wer zufällig auch in der Asmodee-Jubiläumsfeier zugegen war, hörte vom CEO Asmodess sehr ähnliche Worte: Die Spielenden stehen im Mittelpunkt, sie sind das wichtigste. Und doch ist Asmodee ein börsennotiertes Unternehmen, dass sich auf eben jener Veranstaltung rühmte, bei NASDAQ gelistet zu sein. Das Problemfeld zwischen dem spielerischen, “Wir sind doch alle Freunde” und der Geschäftsseite ist natürlich bei Asmodee sehr viel größer als bei der Messe, aber es gibt es bei beiden. Und manchmal trifft es sehr viel stärker zutage als sonst und dieses jahr ist es mir stärker aufgefallen.
Potentiell liegt es auch daran, dass die Masse an Neuheiten bei mir und meinem Umfeld einen kleinen Kipppunkt erreicht hat: Lebte die Messe in meiner Anfangszeit am Anfang des Jahrhunderts noch sehr stark davon, dass man alles entdecken und ggf. sogar ausprobieren konnte, ist jetzt der Punkt erreicht, wo selbst mit bester Vorbereitung nicht mehr genügend Zeit ist, um auch nur die Spiele zu

begutachten, die man sich vorher als “Interessant” markiert hat. Spielzeit ist streng limitiert und zum Teil auf die Nach-Messe-Zeit ins Hotel ausgelagert. Dadurch kommt es mMn zu weniger Spontanbesuchen. Ein Problem für Verlage mit weniger Möglichkeiten des Vorstellens oder weniger Standpräsenz. Zum Glück sind die Besucherzahlen so groß, dass dennoch viel abgesetzt wird.
Ein paar weitere lose Gedanken:

– Mir ist erst spät aufgefallen, dass in Halle 4 eine Bühne steht. Eine gute Idee, das Messe-Nebenprogramm aus den Konferenzsälen in die eigentlichen Hallen zu transportieren. Aber ich habe die Veranstaltungen dort nicht wirklich beworben gesehen. Vielleicht meine Betriebsblindheit, aber vielleicht ein Indiz, dass hier immer noch ein bisschen mit der “Talk”-Seite gefremdelt wird. Der Educators Day wurde hier gleich mitintegriert (kostenlos, aber 5€ wenn man einen Fortbildungsnachweis braucht). Sicherlich eine bessere Anbindung als im letzten Jahr, aber ganz rund wirkte das noch nicht (Danke an Martina für den Hinweis)
– Apropos Spontan: Der alte Reflex “Wo eine Schlange ist, stelle ich mich an” griff wieder. Die Arclight-Schlange war bereits um 9.40 am Donnerstag gute zehn bis zwanzig Meter lang und alle Spiele dort kurz nach Zehn ausverkauft (die nächsten Tage wurde nachgefüllt, aber immer wieder geleert). Einen Hype for der Messe habe ich hier nicht wahrgenommen, der entstand wohl auch durch die Schlangen. Ähnliches gilt für Ghost Lift, am selben Gang. Am Stand hörte ich en Satz “Das muss ich morgen haben, wenn das ausverkauft ist, muss das gut sein”. Immerhin hats das Spiel dennoch (oder gerade deswegen) auf die Fairplay-Liste geschafft (Stand jetzt zumindest).
– Apropos Schlange: Die Messeleitung ging wohl zum Teil gegen das Schlangestehen vor: Saashi berichtete, dass er Ärger für fehlende Ansteh-Organisation bekomme hatte, L´Oaf wurde wirklich erst um Punkt zehn verkauft, um ja keinen Ärger zu produzieren und bei Freyas Swamp wurde die Schlange wohl recht rabiat aufgelöst. Ein Freund berichtete, dass die Leute in der Schlange dort von einer Person der Messeorganisation angeschrien wurden, ohne so recht zu wissen wieso. Als Effekt, gab es keine Schlange nehr, sondern einen Haufen, als die Besucher zum Strand strömten und jede Menge Ärger. Soweit ich nachvollziehen kann, dass man Ausverkäufe an die Presse verhinder will – Stichwort “Publikumsmesse” – so sehr muss ich auch betonen: Auch wir Presseleute spielen gerne und sind freundlich und folgen gerne Regeln. Wenn wir sie denn kennen. Mein persönliches Erlebnis in der Kategorie: Ich musste einmal kurz ans Handy und bin aus dem Gang an eine Wand getreten, um einmal meine Lesebrille aufzusetzen. Sofort kam die Security und meinte, ich dürfte dort nicht stehen. Ich machte einen Schritt nach vorne und stand legal. Hatte bestimmt einen guten Grund.

– Apropos Ausverkauft: Neben Verlagen, die generell nicht mit dem Ansturm rechneten (Ghost Train), Profiteure von Hypes waren oder einfach gute Messe hatten (Tax the rich) gab es auch wieder Pechvögel: Ein Schiff war verspätet (Frosted), ein Streik in Amsterdam traf die Taiwanese von Mizo Games und deren Partner und das Personal eines Vietnamesischem Verlages bekamen keine Visa (der Stand wurde dann von einem Taiwensischen Verlag als Zweitstand benutzt).
– Letztes Jahr habe ich 3 meiner Top-5 Messepiele schon auf der Messe gespielt. Dieses Jahr habe ich nur ein Spiel nach Probepartie gekauft (Kampa). Viel Gutes, wenig Herausragendes. Ich werde alt und zynisch. Bid Coin hat mir aber sehr gefallen – ein Stichspiel… aber eines was selbst dieses Jahr für mich heraussticht. Und Take Time war auch spannend, aber das hole ich mir nach Essen.
– “Trends” sind bei solch einer Masse an Spielen auch eher Vibes, aber die große Stichspielschwemme aus Asien hat uns jetzt auch endgültig erreicht. Roll and Writes sind wenig geworden, Legespiele mit eigener Auslage aber nach wie vor stark, insbesondere mit Tierthemen.
– Essensangebote sind glücklicherweise mitlerweile reichhaltig und auch einigermaßen verteilt. Die Inflation macht sich aber bemerkbar: Die Öffnungszeiten entsprachen den Preisen.
– Nochmal “voll”: Gänge sind wohl immer noch breiter, als früher, aber es sind halt mehr Leute. Die verteilen sich nicht unbedingt gleichmäßig auf alle (jetzt mehr) Hallen, dadurch gibt es an den Engstellen noch mehr Gedrängel. Hatte noch nicht das Prä-Covid-Massenpogo-Feeling, aber war doch stellenweise sehr, sehr stauig.
– Unser Leser Florian hat mich darauf hingewiesen, dass die Spielfläche vermisst wurde. Tatsächlich! Die Kinderecke fällt weg, bzw. ist jetzt kommerzialisiert – sprich: Was es an Angeboten noch gibt, kommt von Kinderspiel- und Spielzeugverlagen. Der Platz dafür fehlt. Oder besser: Statt Spielangeboten, die von der Messe ja kostenlos angeboten werden müssten, füllt man die Flächen lieber mit Ständen von zahlenden Kunden. Das ist halt wieder das Stichwort “Kommerziell”
– Trotz Neuheiten-Ennui: Persönlich ist die Messe wieder ein kleiner Erfolg: Leute getroffen Leute kennengelernt, Prototypen an den mann gebracht und Interviews geführt. Alles bleibt anders, ist aber eben doch Die Messe.
ciao
peer
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