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Die Undefinierbarkeit des thematischen Spielerlebnis

Am Anfang steht ein Vergleich: der Stellenwert den die Graphik in Videospielen hat, entspricht dem Stellenwert den das Thema in einem Brettspiel hat. Die interaktive Umgebung des Videospiels verwandelt sich mit Hilfe der Graphik erst in eine Benutzeroberfläche (als Beispiel sei hier etwa Elite oder Asteroid genannt), dann in ein bildhaftes Szenario (Space Quest, Wing Commander, etc.) und irgendwann in eine virtuelle Welt (Grand Theft Auto V, Dragon Age III, etc.).

Dabei kann man als Spieler*in natürlich das Gesehene immer um eigene Ideen und Vorstellungen erweitern. Einem Buch nicht unähnlich wird hier aus rudimentären Andeutungen (und mit einem gehörigen Schuss Vorstellungskraft) eine plastische Spielwelt im Kopf der Spielenden erschaffen. Dabei greifen Videospiele selbstverständlich auf viele Mittel zurück (z.B. Dialoge, Sound Design, etc.) aber um diesen Artikel nicht völlig ausufern zu lassen, sei hier nur die Grafik als primäres Werkzeug genannt, um ein packenderes Erlebnis zu erschaffen.

Je weiter die Technologie voranschreitet, umso exakter und unmissverständlicher sind diese Andeutungen. Bis die Grafik wichtige spielerische Inhalte allein durch Bilder vermitteln kann. Wenn ein Objekt im Spiel visuell einem Fussball gleicht, muss nicht erst lang erklärt werden wie man damit umgehen kann. Diese Veränderung im Spielverständnis ist dabei nicht trivial. Im Produktdesign wird hier von „affordances“ gesprochen: Objekte die ihr Anwendungspotential allein durch ihr Aussehen vermitteln können. Ein Hocker ist zum Sitzen da. Ein Ball zum Treten. Ein Auto zum Fahren.

Dabei fällt auf, dass je detaillierter und realistisch anmutender die graphische Darstellung des Spiels ist, umso mehr Affordances werden den spielerischen Objekten zugesprochen. Ein besonders realistischer Hocker suggeriert, dass man ihn schieben, stapeln oder durch ein Fenster werfen kann. Ein besonders realistischer Ball lässt sich vielleicht auch aufheben oder balancieren. Ein besonders realistisches Auto hat vielleicht ein Handschuhfach in dem man Dinge finden könnte, einen Motor, den man reparieren kann oder sogar eine Rückbank um Dinge darauf zu lagern.

Eine solche Entwicklung auf einer Ebene über einzelnen Objekten lässt sich meiner Meinung nach an der Spielreihe Sid Meier’s Civilization festmachen. Der neuste Teil der Reihe würde auf Ablehnung stoßen, wenn die Handlungsmöglichkeiten im Spiel genauso eng gefasst wären wie beim ersten Teil aus dem Jahr 1991. Das Micromanagement für welches das Spiel – und auch das gesamte Genre – bekannt ist, geht Hand in Hand mit der technologischen Entwicklung voran. Es geht mir hier nicht darum diesen ersten Teil als einfach oder primitiv abzuwerten, sondern darauf hinzuweisen, dass die Erwartungshaltung – nicht zuletzt aufgrund unseres Verständnis der historischen Entwicklung in der Computerszene – zu großen Teilen daran gekoppelt ist, wie modern die Graphik eines Spiels aussieht. Vergleichbares ist auch bei Final Fantasy, Doom, Metal Gear und vielen weiteren zu erkennen. Je größer die Pixel, umso niedriger sind unsere Erwartungen welche Optionen uns diese Spiele bieten.

Eine funktionale Benutzeroberfläche

Das Thema eines Brettspiels funktioniert mit Hinblick auf die Regeln und die spielerische Interaktion effektiv genau so. Die interaktive Umgebung des Spiels verwandelt sich mit Hilfe des Themas erst in eine Benutzeroberfläche, dann in ein bildhaftes Szenario und irgendwann in eine virtuelle Welt. Anders als jedoch bei Videospielen, in denen die Rechenleistung des Computers mit der Zeit den Spielenden immer mehr Imaginationsaufwand abnehmen konnte, müssen Brettspiele hier anders vorgehen. Auch wenn Miniaturen, insbesondere in ihrer bemalten Form, in manchen Fällen den Versuch unternehmen das Thema umfassender zu präsentieren.

Aber in Wirklichkeit arbeiten wir bei Brettspielen immer noch primär mit der Vorstellungskraft der Spielenden. Sie konstruiert mit Hilfe der Andeutungen und Verweise im Spielmaterial ein Thema um die Mechanismen herum. Die Zusammenhänge zwischen den Regelmechanismen, den Bezeichnungen der Spielelemente und dem Spielablauf werden durch die Spielenden nicht lediglich blind ausgeführt, sondern geschaffen und als fester Bestandteil des Spielerlebnis verankert. Das bedeutet jedoch auch, dass die thematische Tiefe und Fülle eines Spiels zu einem deutlichen Teil davon abhängt wie gut die Spielenden in der Lage sind Zusammenhänge oder Erklärungen für bestimmte Spielsituationen zu artikulieren.

Dafür braucht es ein klein wenig Kreativität. Aber vor allem benötigt man Wissen, um das Thema eines Spiels am Tisch zu erschaffen. Ein Spiel kann den Spieler*innen dabei auf verschiedene Arten unter die Arme greifen. So können schon wenige erklärende Sätze helfen nachzuvollziehen, warum ein Aktionsfeld auf dem Brett manchmal erfordert, dass man als Spieler*in Ressourcen abgibt aber manchmal auch nicht. Oder warum eine in die Tischmitte gespielte Karte unterschiedliche Konsequenzen nach sich zieht, je nachdem in welchen Ablagestapel sie danach gelegt wird. Diese Erklärungen können als Hilfe dienen, um sich Regeln besser zu merken oder herzuleiten. Aber sie können auch tragendes Element des thematischen Erlebnis sein. Ob laut ausgesprochen, in Gedanken formuliert oder vor dem geistigen Auge ausgemalt: Erklärungen schließen das Thema des Spiels auf.

Dieser Vorgang hebt das Spiel aus dem Raum rein rationaler Entscheidungen und der blinden Ausführung vorgeschriebener Spielmechanismen heraus und macht es zu einem Spielerlebnis. Es fühlt sich an als würde das Spiel eine Geschichte erzählen; so als gäbe es eine „emergente Narrative“. Auch – oder gerade weil – man selbst einen abstrakten Regelmechanismus in eine detailliertere und umfassendere Vorstellung einer Spielwelt übertragen hat. Diese Transferierungsleistung der Spieler*innen ist der Hauptantrieb, um das banale Ausspielen von Karten, Würfeln und Platzieren von bunten Spielsteinen in ein packendes Spielerlebnis zu verwandeln.

Genau das ist aber auch der Grund, weshalb der Begriff „Narrative“ nur eingeschränkt benutzt werden sollte. Denn die erzählende Instanz – der Narrateur/die Narratrice – ist eben gerade nicht das Spiel oder Autor*in. Zu großen Teilen sind es die Spieler*innen selbst. Nicht das Spiel erzählt uns eine Geschichte; sondern wir nutzen das Spiel um uns selbst eine Geschichte vorzustellen.

Dass die Fülle und Tiefe des Spielens nicht voll und ganz in den Händen der Spielenden liegt, sollte aber in gleichem Maße selbstverständlich sein. Das Spielerlebnis kann nur Momente beinhalten, die nicht im Widerspruch zu den Regelmechanismen selbst stehen. So ist ein „friedlicher Kompromiss“ keine Lösung welche Spiele wie Root oder Undaunted zulassen. Ähnlich können kooperative Spiele wie Pandemic oder Sky Team keine plötzlichen Wendungen produzieren, in denen sich Verbündete gegen einander wenden. Dennoch liegt das Erlebnis innerhalb des durch die Spielmechanismen abgesteckten Rahmen in der Hand der Spielenden. Die Tiefe und Fülle des thematischen Erlebnis fußt dabei auf dem Wissen der Spieler*innen selbst. Aber erst ihre Fähigkeit das Sichtbare in den eigenen Vorstellungsraum zu übertragen macht diese thematische Fülle erlebbar.

Genauso wie Worte in einem Roman keine Geschichte (sondern bestenfalls einen Plot) erzählen bis man in der Lage ist, die feineren Töne, den Subtext, die Verweise und auch historischen Kontexte zu verstehen, profitieren auch Spiele davon wenn man als Spieler*in das Zusammenspiel zwischen Regeln, realem bzw. historischem Hintergrund oder auch Verweisen auf diese Dinge erkennen kann und in das eigene spielerische Erlebnis einfügt. Je mehr ich über den thematischen Hintergrund eines Spiels weiß (vom Speziellen: der Wohnungsmarkt in Barcelona um 1880 bis zum Diffusen: halb überhörtes Gemurmel über Angebot-und-Nachfrage), umso feinkörniger betrachte ich die Regelmechanismen und Spielabläufe. Lassen diese sich gut mit meinem Wissen vereinbaren, so ist das Spiel nicht nur intuitiv verständlich, sondern auch flüssig spielbar. In einigen Fällen empfinde ich es sogar als lehrreich, weil es das Wissen bestätigt welches ich selbst lernen musste. Alternativ ist ein Spiel aber auch problematisch, wenn es den Dingen widerspricht, von denen ich weiß, dass sie wahr sind.

An diesem Punkt nun ist es wichtig zum anfangs erwähnten Vergleich mit Videospielen zurückzukehren. Die Graphik eines Videospiels weckt bestimmte spielerische Erwartungen. Photorealistische Grafiken suggerieren, dass man es hier mit mehr zu tun hat als einem einfachen Reaktionstest wie bei einem Spielautomaten aus den 1980ern. Im Umkehrschluss, rechnet niemand mit einer voll-interaktiven Spielumgebung wenn man sich grafisch auf dem Niveau eines Atari 2600 bewegt. Die spielerische Erwartung orientiert sich daran wie viel man grafisch geboten bekommt.

Alles was man hier sieht (oder fühlt), legt in der Texturen-Datenbank während des Spielens bereit

Vergleichbares gilt auch für Brettspiele. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Leistung der „graphics engine“ hier nicht allein durch das schöne Spielmaterial geboten wird. Die Spielregeln und das Spielmaterial liefern uns ein Gerüst. Sie bieten das spielerische 3D-Model ohne eigene Texturen. Die Illustrationen und Begriffe des Spiels sind etwas, auf das wir als Spieler*innen zugreifen können; aber nicht müssen. Sie können unser Wissen erweitern damit wir aus Mechanismen und Interaktionen ein Spielerlebnis erschaffen.

Oft nehme ich jedoch wahr, dass diese „Texturen-Datenbank“ von Spieler*innen nicht oder nur sehr selektiv genutzt werden. Spielbegriffe werden ignoriert oder durch geläufigere ersetzt. Illustrationen werden selten als Impuls für die eigene Vorstellungen des Spielereignis genutzt. In viele Fällen treten sie in den Hintergrund und spielen nur als diffuses Ambiente oder farblicher Akzent eine Rolle. Das sollte nicht als Vorwurf verstanden werden. Es ist eine Feststellung und eine mögliche Erklärung warum ein „thematisches“ Spielerlebnis in ein und demselben Spiel für manche so naheliegend aber für andere so unverständlich sein kann.

Ein Spielerlebnis braucht eine aktive – aber nicht immer bewusste – Beteiligung der Spieler*innen an der Erschaffung des Themas. Wir müssen die abstrakten Spielereignisse in eine thematische kohärente Spielumgebung übertragen. Je umfassender unser Vorwissen ist, desto weniger mühsam ist es das Ausspielen einer Karte oder das Ergebnis eines Würfelwurfs in einen kleinen erzählbaren Moment zu verwandeln, der sich in das Gesamtbild des Spielerlebnis einfügt.

Wie thematisch ein Spiel sich „anfühlt“, hängt darum an mindestens zwei wichtigen Faktoren. Wenn wir viel über das Spielthema wissen und verstehen, so fällt es uns leichter Spielsituationen zu übertragen und sie uns vorzustellen. Allerdings werden wir auch sehr viel sensibler dafür, wenn die Spielmechanismen oder Spielpräsentation hochproblematische Inhalte heraufbeschwört (z.B. König Leopold II. in Brüssel 1897, Claus von Stauffenberg in Black Orchestra, usw.). Gleichermaßen kann ein Spiel dazu beitragen, dass das thematische Erlebnis leichter fällt. Etwa in dem man Hilfestellungen bietet, wie sich einzelne Spielhandlungen in das Thema übertragen lassen. In der Vergangenheit wurde hier auf Begriffe und Bilder zurückgegriffen. Spielfiguren und Aktionsfelder bekamen ausdrucksstarke Namen und Illustrationen. Einen eigenen Spielstein platzieren um mehrere andere zu erhalten ist ein sehr karger Mechanismus. Es fiel leichter sich vorzustellen wie ein Bauer in einen Wald geht, um dort Holz zu sammeln. Aber je abstrakter die Mechanismen werden, umso schwieriger fällt es oft eine thematische Entsprechung zu finden. Eine exemplarische Spielerklärung und -anleitung kann hier helfen. Aber auch hier besteht die Gefahr, dass zu viele Details und Erläuterungen zu einem sehr mühsamen und umständlichen Spielerlebnis führen. Hier die richtige Balance zu finden, ist die große Herausforderung, der sich Designer*innen, Redaktionen und auch Spielerklärer*innen stellen müssen.

Denn genau dort findet man das „thematische erlebte” Brettspiel. Es ist ein erstrebenswertes Ziel, wenn es auch ohne das nötige Know-How nur schwer zu fassen ist.

Georgios Panagiotidis

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