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Stich um Stich

Seit einigen Wochen denke ich vermehrt über Stichspiele nach. Warum? Nun zum einen ist es ein Genre, dass gerade -zumindest im Ausland – einen Boom erlebt. Das Spannende ist aber weniger, dass so viele Stichspiele erscheinen, sondern, dass so viele neue Stichspiele bewusst mit vielen Konventionen brechen, aber dennoch klar als Stichspiele erkennbar sind: Bei einem Stichspiel spielen die Spielenden nacheinander eine oder mehrere Karten und nach einer überschaubaren Zeit (in der Regel eine Runde, aber gelegentlich mehr) gewinnt eine Person den „Stich“, also quasi diese Runde. In der Regel gibt es dafür die meisten der gespielten Karten, obwohl es da auch Abweichungen geben kann. Wichtig dabei ist, dass a) alle Personen gespielt haben (oder zumindest die Chance dazu hatten) und b) die Person, die den Stich gewinnt eindeutig durch die gespielten Karten bestimmt ist.

Natürlich gibt es viele Genres und Unterkategorien von Brettspielen, die ebenfalls ihre klaren Identifikationsmerkmale haben. Aber nur wenige sind dabei strukturell untereinander so ähnlich. Jedes Verräterspiel hat zumindest theoretisch einen Verräter, aber alle anderen Mechanismen können eben komplett unterschiedlich funktionieren. Roll&Writes haben ebenfalls eine klare Struktur – Würfeln und Eintragen – aber die Implementation und Spielgefühl kann aber sehr stark varriieren: Ob man etwa auf Zahlenreihen wettet oder taktische Kombos baut oder Felder abträgt sind doch unterschiedliche Paar Schuhe. Zudem gibt es als Unterkategorien Roll&Writes bei denen nur eine Person die Ergebnisse einträgt (Kniffel), alle dasselbe, alle mit Variationen, alle sich etwas aussuchen…. Das Feld ist weit gesteckt. Und auch wenn es bei Stichspielen ebenfalls Unterkategorien gibt, sind diese nach meinem Dafürhalten deutlich enger beieinander als bei den R&Ws. Genres mit vergleichbar starren Korsett sind dann entweder andere Kartenspielfamilien (Shedding Games, Rommé-Ableitungen z.B.) oder Spiele, die sich an einem „Prototypen“, also einem Musterspiel orientieren, wie die 18xx oder die (aus der Mode gekommenden) Britannica– oder Diplomacy-Variationen.

Diese klare Identifikation ermöglicht es aber gerade herauszuarbeiten, wie sich die einzelnen Vertreter unterscheiden – was in der Regel in Kritiken geschieht, wo die Innovationen und ihre Wirkung herausgehoben werden (sollten) – aber auch welche grundsätzlichen Ansätze im Design gemacht wurden. Dabei geht es weniger darum herauszufinden zu versuchen, was der oder die Autor:in sich jetzt gedacht hat, sondern eben eine Orientierung, was bei einem Stichspiel X vom Spielgefühl her zu erwarten ist. Dabei möchte ich die Details bewusst ausblenden: Es ist für diese Frage erst einmal unerheblich, ob sich zum Beispiel die Rundenstruktur an westlichen Stichspielen (einmal rum) oder östlichen Stichspielen (so lange bis niemand „überbietet“) orientiert oder ob es ein Stichvermeidungs (Miseré/Null) oder Stichgewinnspiel handelt, geschweige denn ob es Ansagen oder Trümpfe gibt. Dass man diese doch eher groben Details ausblenden kann und dennoch eine aus meiner Sicht recht konkrete Aussage über das Spielgefühl eines Spieles machen kann, ist eben Zeugnis der klaren Stichspielstruktur.

Wie in meiner Rezension zu Prey und Rainbow bereits beschrieben, sehe ich zwei grundsätzliche Skalen, die zusammen die Fläche des „Stichspiellandes“ bilden: Zum einen ist da die Frage ob das Spiel eher strategisch („Kontrolle“) oder eher taktisch-situativ („Chaos“) angelegt ist: Bei einem strategischen geprägten Spiel „liest“ man am Anfang einer Runde sein Blatt und versucht zu überlegen, wie man am besten vorgeht. Skat oder Bridge sind die klassischen Beispiele. Bei einem Situativ geprägten Spiel wird man eher jedes mal wenn man dran ist, entscheiden, wie man im aktuellen Stich reagiert. Bei diesen Spielen ist das Lesen des Blattes entweder nicht möglich (weil sich etwa Wertigkeiten verändern, je nachdem mit welchen anderen Karten sie zusammenfallen) oder sinnvoll (weil es etwa zu viele Variablen gibt, die berücksichtigt werden müssten). Wohlgemerkt geht es hier nicht um den Glücksfaktor, sondern um die Herangehensweise beim spielen. Auch bei Hearts oder Wizard liest man sein Blatt, aber ob die Planung aufgeht, hängt von der Verteilung ab (bzw, davon, welche Karten überhaupt im Spiel sind). Oft werden situativere Spiele aber als „lockerer“ wahrgenommen, weil eben eine langfristige Planung wegfällt (Wobei es auch situativ gespielte Brainburner gibt).

Die andere Skala ist die Frage Klassisch oder Ungewöhnlich? Auch dies ist bewusst keine Aussage zur Originalität oder gar der Qualität sondern nur die Frage: Wie sehr orientiert sich das Spiel an den klassischen (westlichen) Stichspielstrukturen? In der ersten großen Stichspielwelle Anfang der 90er Jahre kamen sehr viele Stichspiele auf den Markt, die alle einen Kniff hatten, sich aber grundsätzlich in ihrem Aufbau oft nicht von klassisches Spielen unterschieden – der Kniff bezog sich in vielen Vertretern auf die Wertung. Als Beispiel war Drahtseilakt genannt, bei dem man versucht, Stiche in Rot und Blau auszugleichen. In der neuen Welle wird dagegen sehr viel mehr mit der Struktur des Stichspieles experimentiert, so bekommen Karten beispielsweise oft erst durch das Ausspiel einen Wert zugewiesen. Hier würde ich Cat in the Box als Beispiel nennen. Auch Spiele die sich an den Shedding-Spielen orientieren durchbrechen das klare Stichspielmuster, durch die ungewohnte Rundenstruktur.

Als kleine Fingerübung habe ich ein paar Stichspiele aus allen Generationen in einen Graphen mit entsprechenden Achsen gepackt:

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Ein Skatfindet findet sich als klassisches Spiel mit Schwerpunkt auf Strategie rechts oben, während Saashis Take the A chord die andere Seite übernimmt: Bei diesem Spiel ist jede Karte nur in dem Kontext der Runde, in dem sie gespielt wird bewertbar (situativ) und die Art und Weise wie Karten zusammenwirken und wie die Karte, die den Stich gewinnt bestimmt wird ist höchst einzigartig. Der moderne Klassiker Sticheln findet sich eher in der Mitte: Grundsätzliche Entscheidungen (etwa die Wahl der Ärgerfarbe) werden am Anfang getroffen, aber da der Trumpf von der ausgespielten Farbe abhängt, ist der Grad der Unverhersehbarkeit hoch, was zu einem zumindest teilweise situativen Spiel führt. Die Struktur ist relativ bekannt, aber die Trumpfregel (Trumpf sind alle Farben, mit denen nicht herausgekommen wurde) bricht stark mit den Konventionen – auch wenn die Wirkung (Höchster Trumpf macht den Stich) wieder klassisch ist.

(Kleine Anmerkung: Die Wahl der Spiele ist recht willkürlich darauf gefußt, was ich gut genug kenne, um es einordnen zu können und ich wollte eine große Bandbreite abdecken. The Crew und Familiars Trouble fehlen aber bewusst – nach dem Credo „Jedes kooperatives Spiel ist in erster Linie ein kooperatives Spiel und erst in zweiter Linie das Genre, aus dem es stammt)

Natürlich sind die absoluten Einschätzungen subjektiv von mir gewählt, aber ich denke dass die relative Lage in etwa schon so hinkommen dürfte. Diese Landschaft der Stichspiele ist auch dahingehend interessant, weil es erlaubt, auch den eigenen Geschmack besser einzuordnen: Habe ich mehr Freude an Regelbrüchen oder dem „klassischen Gefühl“ eines Stichspieles? Oder spielt das gar keine Rolle und mein Geschmack fußt größtenteils darauf, ob ich taktisch vorgehen kann oder ob ich lernen muss, meine Hand lesen zu lernen etc.pp.

Natürlich gibt es immer die Frage, inwieweit solche Einteilungen sinn machen. Mir geht es hier um die Beschäftigung mit einer Sache (Stichspiele), die mir zum einen wichtig ist und mit der ich mich auch zum anderen auskenne. Die Kombination sorgt für ein Grundbedürfnis eine gemeinsame Sprache zwischen Gleichgesinnten zu finden, bei der man sich nicht jedes Mal über grundsätzliches einigen muss. Das gilt generell für Brettspiele und wurde hier entsprechend oft thematisiert (auch z.B. in der Rolle der Kritik). Stichspiele bieten als Nische einen guten Anhaltsounkt für eine derartige Betrachtung – die vielleicht auch für interessierte Außenstehende nachvollziehbar und interessant ist.

ciao

peer

Peer Sylvester
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