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An meinem Tisch ist noch Platz

Menschen sind Gewohnheitstiere. Wenn wir uns erst mal auf eine Vorgehensweise eingelassen haben, neigen wir dazu sie beizubehalten. Ganz unabhängig davon, ob man einzelne Situationen auf andere Weise vielleicht besser handhaben könnte.

Eine der Gewohnheiten unter Spieler*innen besteht darin, an Hand der Regeln abzuleiten wie viele Personen ein Spiel zusammen spielen können. Das führt zu skurrilen Angaben wie bei „Welcome To…“ in denen nach Schachtelaussage bis zu 100 Menschen zusammen spielen können. Aber es führt auch zu Aussagen, die Spiele wie Pandemic oder auch Dorfromantik als „eigentlich Solospiele“ umschreiben. Beides scheinen mir Behauptungen zu sein, die eher aus Koketterie gemacht werden als aus einer realistischen Einschätzung der jeweiligen Spiele. Aber sie deuten auf ein festgefahrenes Verständnis von Spielen, ihren Regeln und ihrer praktischen Anwendung hin.

Das gängige Verständnis von Spielregeln setzt voraus, dass jede teilnehmende Person eine eigene, individuelle Rolle innerhalb des Spiels zugewiesen bekommt. Diese Unterscheidung der individuellen Rollen soll dabei an Hand der Mechanismen und Spielkomponenten abzulesen sein. Jede*r Spieler*in erhält eine eigene Spielfarbe und einen Platz in der Zugreihenfolge. Wir bekommen ein Zeitfenster zugewiesen, in dem wir die Regeln und Mechanismen des Spiels anwenden dürfen, um unser Spielziel zu erreichen. Wenn das Spielziel dabei identisch zu dem der anderen Spieler*innen ist, entsteht zwangsläufig ein Wettstreit. Das ist es was den traditionellen Begriff des Spiels umfasst: Spiel als freundschaftlicher Wettkampf um den Sieg.

Wir unterscheiden uns nur in Oberflächlichkeiten

Nun hat Prinz Akeem Joffer bereits festgestellt, dass es auch Tradition ist, dass sich Dinge ändern. Das gilt auch für Spiele und ihre Designs. Zwar halten viele Spiele der ersten kooperativen Welle noch am Ansatz der unterscheidbaren Spielrollen fest, aber selbst in einem der ersten populären Spiele dieser Art („Pandemic“) begann dieser Gedanke – oft unter großer Kritik – zu bröckeln. Die unterschiedlichen Vektoren bzw. Spieler*innen-Rollen mit denen die Gruppe auf das Spielgeschehen einwirken konnte, schrumpften zu einem einzelnen Vektor zusammen. In Spielen wie Pandemie oder Ghost Stories fand dieses Schrumpfen auf Spieler*innen-Ebene statt und wurde mit Begriffen wie „Alphaspieler“ oder „Quarterbacking“ problematisiert. Man hält noch immer an dem Gedanken fest, dass nur wenn ein Spiel mehrere Vektoren anbietet, es auch von mehreren Personen gespielt werden kann. Aber das ist ein wenig so als würde man glauben, dass man eine Wanderung nur dann genießen und erleben kann, wenn man selbst Karte und Kompass in der Hand hält: „Nur wenn meine Hand meine Spielfigur auf das Feld zieht auf das ich es ziehen will, nehme ich am Spiel teil.“

Es ist absolut unbestritten, dass das Taktile und Haptische eines Brettspiels ein wichtiger Bestandteil des Spielgenusses ist. Es gibt einen Grund weshalb sich viele digitale Implementationen von Brettspielen meist steril und beliebig anfühlen. Das Anfassen und Verändern der Spielsituation mit eigenen Händen ist uns wichtig. Aber auf Ebene der Spieldynamik ist es unerheblich wer die Figur verschiebt, die Karte zieht und vorliest oder die Würfel wirft.

Das kürzlich prämierte Dorfromantik – Das Brettspiel bricht nun mit dieser Orthodoxie der einzelnen Spieler*innen-Rollen. Obwohl es mechanisch nur einen Vektor gibt, d.h. es wird nicht durch Regelmechanismen oder Spielkomponenten zwischen den teilnehmenden Spieler*innen unterschieden, ist es für mehrere Spieler ausgelegt. Damit wird ein sehr wichtiger Teil der Spieldynamik in die Hände der Spielgruppe gelegt. Sie tragen nun die Verantwortung dafür ihre Gespräche und Entscheidungsfindungen derart zu führen, dass das Erlebnis eben nicht von einem Haustyrann oder erfahrenen Solospieler dominiert werden.

Denn die Frage, ob ein Spiel solo gespielt wird, ist keine Frage der Mechanismen sondern des sozialen Gefüges am Tisch. In diesem Punkt ist Dorfromantik – Das Brettspiel für manche Gruppen vielleicht ein sehr forderndes und schwer zu erlernendes Spielkonzept. So schlicht die Mechanismen hier auch sein mögen, so anspruchsvoll kann die soziale Interaktion am Tisch sein, wenn bestimmte Personen zusammenkommen.

Entscheidungsfindung unter Experten

Man muss sowohl Kompromisse eingehen als auch Mitspieler*innen als gleichwertig behandeln. Unabhängig ihrer Expertise oder der Qualität ihrer Entscheidungen muss man die soziale Kompetenz üben abweichende Meinungen als legitim zu akzeptieren. Denn es geht nicht mehr allein darum die beste oder die richtige Entscheidung zu treffen. Kooperation ist kein Wettstreit, sondern das Praktizieren von Konsens und Gemeinschaft.

Das macht Dorfromantik – Das Brettspiel zu einem unerwartet subversiven Gewinner des Spiel des Jahres-Preis. Viele Menschen, die Brettspiele nur selten spielen, werden nun gezwungen sich aktiv mit ihrer Kommunikation und der Gruppendynamik am Tisch auseinander zu setzen. Da es keine Mechanismen gibt, die den Spieler*innen einen einfach zu begreifenden Vektor vorsetzen an dem sie sich individuell orientieren können. Es gibt kein „Du gegen alle anderen“. Sie müssen sich als Gruppe zusammenfinden und organisieren. Sie müssen sich selbst Gehör verschaffen, wenn es nötig ist. Sie müssen selbst Umsicht üben, um alle am Spiel teilhaben zu lassen. Sie müssen Widersprüche hinnehmen als auch ihre eigene Position auf konstruktive Art darlegen. Vor allem müssen sie die Entscheidungen anderer akzeptieren, selbst wenn sie nicht die eigene ist. Das ist gerade auch für erwachsene Menschen, die soziale Privilegien gewohnt sind, oft eine große Herausforderung.

Natürlich werden einige vor dieser Aufgabe kapitulieren und Dorfromantik und vergleichbare kooperative Spielen nur noch alleine spielen. Aber es ist meiner Meinung nach wichtig zu verstehen, dass Spielmechanismen Hilfsmittel sind. Wenn sie uns klare Rollen zuweisen, dann reduzieren sie dadurch lediglich die Komplexität unseres Miteinanders. Wenn sie einen menschlichen Gegner benennen, dann ist sofort klar was zu tun ist. Wenn die eigenen Mitmenschen jedoch das gleiche Ziel verfolgen wie wir selbst, müssen wir ganz andere Kompetenzen auffahren, um für ein schönes Spielerlebnis zu sorgen.

Das Überangebot an Spielen, die wir gegeneinander spielen, hat zu bestimmten Gewohnheiten unter Vielspieler*innen geführt. Eine davon ist das Ausblenden der sozialen Miteinanders als Spielelement. Es gilt oft nur als Nebenprodukt des Spiels. In manchen Fällen sogar als überraschendes Thema, wenn man „fun facts“ von einander erfährt, die man sonst nicht ausgesprochen hätte.

Spiele, die nur einen Vektor bzw. eine Rolle anbieten, sind eine Möglichkeit das soziale Miteinander zu einer tragenden Säule des Spielerlebnis zu machen, wenn man es will. Es eröffnet eine ganz neue Dimension in der sich Spieler*innen Kompetenzen aneignen, üben und zielführend anwenden können, um so ein positives, erfüllendes und damit auch erinnerungswürdiges Spielerlebnis zu haben. Aber dafür müsste man von der Gewohnheit ablassen in Spielen immer Einzelkämpfer*in zu sein.

Georgios Panagiotidis
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