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Chiffre: Player Agency

Es gibt in der englisch-sprachigen Spielszene einen Begriff, der gerne herangezogen wird, um die Stärke aber insbesondere die Schwäche eines Spiels zu benennen: „player agency“. Damit soll bezeichnet werden welchen Einfluss Spieler*innen auf den Spielverlauf nehmen können. Je größer der Einfluss, umso wertvoller gilt das Spiel. Aber in diesem Zusammenhang ist es vielleicht sinnvoll sich anzuschauen was sich hinter „player agency“ eigentlich verbirgt. Denn als Spieler*innen ist unser Einfluss auf den Spielverlauf durchaus größer als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Die erste und unstrittige Form der Einflussnahme findet auf mechanischer Ebene statt. „Player agency“ drückt in diesem Zusammenhang aus inwieweit wir Entscheidungen fällen können, diese im Rahmen der Spielmechanismen übersetzen um am Ende ein gewähltes Spielziel zu erreichen. Der Fachterminus dafür lautet: „gewinnen“. Diese Form der Einflussnahme wird allein durch das Spiel verliehen, damit Spieler*innen sie nutzen können. Mit anderen Worten das Regelwerk erlaubt und untersagt bestimmte Handlungen, um so zur spielerischen Interaktion zu führen. Man kann zum Beispiel nur dann den Sieg für sich beanspruchen, wenn man etwa die meisten Punkte hat. Diese Punkte jedoch kann man sich nur nehmen, wenn man vorher Karten, Marker, Plättchen, etc. auf sehr spezifische Weise genutzt hat. „Player agency“ im mechanischen Sinne kann man sich wie die freie Bewegung im eigenen Vorgarten vorstellen. Innerhalb des klar umzäunten Bereichs kann man sich frei bewegen, so lange man weiß wohin man nicht treten darf.

Mechanische Einflussnahme in Reinform

Aber die zweite und etwas weniger offensichtliche Form mit der Spieler*innen auf den Spielverlauf Einfluss nehmen, hat ebenfalls mit Rahmensetzung zu tun. Auch hier bietet sich ein Begriff aus dem Englischen an: „framing“. Damit ist der Kontext gemeint in den wir das Spiel setzen bzw. die Perspektive die wir auf das Spiel einnehmen. Konkret ausgedrückt liegt der Zweck unseres gemeinsamen Spielens bei uns. Wir sind es die einen Grund haben zu einem bestimmten Spiel zu greifen oder überhaupt spielen zu wollen. Das kann das Bedürfnis sein die eigenen Fähigkeiten mit anderen zu messen. Vielleicht haben wir Lust darauf uns mit Knobeln, Planen und Kombinieren zu beschäftigen. Vielleicht suchen wir einfach die Möglichkeit, zusammen Zeit zu verbringen. Oft wird angenommen, dass diese Rahmensetzung ebenfalls vom Spiel vorgegeben wird. Schließlich gibt es kaum eine Spielanleitung, die nicht vom Ziel oder Zweck des Spiels spricht. Aber das ist nur im Rahmen der Spielmechanismen zutreffend. Sobald wir das Spiel in den sozialen Kontext einbetten, in dem wir Spiele mit anderen (oder ggf. auch alleine) spielen, entscheiden wir über das Spiel, statt das Spiel über uns. Wir sind als Spielende in unserer Entscheidung warum wir spielen nicht an das Spielgenre, die Spielart oder das Spielthema gebunden. Manche Spiele erlauben unterschiedliche Ansätze. Klassische Beispiele dafür sind Catan und Carcassonne. Spiele, die hingegen nur einen bestimmten Ansatz unterstützen, führen bei erfahrenen Spielgruppen oft dazu, dass diese sich anpassen und versuchen dem Design zuzuspielen. Sie versuchen so zu spielen, wie sie glauben, dass das Spieldesign es von ihnen erwartet. In anderen Gruppen, fallen derartige Spiele einfach als „nicht unser Geschmack“ oder in besonderen Fällen „schlechtes Design“ durch. Dass es diese Spannung geben und sie manchmal erst mit der Zeit durch die Spieler*innen aufgelöst werden kann, ist ein Beleg dafür, dass wir jenseits der Spielmechanismen Einfluss auf das Spiel nehmen können.

Die letzte und womöglich kontroverse Form der Einflussnahme findet auf narrativer Ebene statt. Sie ist vermutlich deshalb kontrovers, weil die meisten Spieler*innen sich als Publikum der Geschichte verstehen. Man glaubt, dass man auf die Narrative eines Spiels keinen Einfluss nimmt, sondern lediglich die erzählten Ereignisse des Spielverlaufs interpretiert. Die narrative Einflussnahme auf das Spiel findet in den meisten Spielgruppen daher eher unbewusst statt. Das heißt, die meisten Spielgruppen verstehen sich nicht als Protagonisten und Erzählende der Geschichte des Spiels. Die Narrative des Spiels findet in ihren Augen eher beiläufig und ungesteuert statt, so wie uns Nachrichten aus dem Jenseits beim Gläserrücken erreichen. Diese Überzeugung rührt unter anderem daraus, dass oft geglaubt wird, dass die Einschränkungen auf mechanischer Ebene auch auf die narrative Ebene wirken. Kurz gesagt: wenn die Regeln es mir nicht erlauben bestimmte Spielhandlungen auszuführen, ich auch keinen Einfluss auf die Erzählung meiner Handlung nehmen kann.

Mir fallen in diesem Zusammenhang zwei Spiele ein, welche genau diese gedankliche Verknüpfung aufbrechen. Das eine ist The King’s Dilemma und das andere ist Oath. Sie nähern sich dabei aus gegensätzlichen Richtungen. Aber beide Spiele wollen Spieler*innen ihrer narrativen Einflussnahme bewusst werden lassen. Ob Spielgruppen in der Lage sind die Erkenntnisse aus diesen Spielen auch auf andere zu übertragen, bleibt abzusehen. Die gängige Überzeugung scheint weiterhin zu lautetn, dass erzählerischer Einfluss ausdrücklich von den Spielmechanismen erlaubt werden muss, bevor man ihn anwenden darf.

In The King’s Dilemma wird die Notwendigkeit auf die Erzählung Einfluss zu nehmen über Empathie erreicht. Unsere mechanischen Entscheidungen, die allein dafür dienen den Sieg zu holen, haben schon bald verheerende Folgen für das fiktive Königreich und sein Volk. Im Laufe der wiederholten Spielrunden liegt es uns frei, diese Fiktion zu ignorieren, um mehr Siegpunkte (ebenfalls fiktiv) zu erringen. Manche Spieler*innen können sich aber auch dafür entscheiden, die andere Fiktion des Spiels (das Königreich über das wir gebieten) zu wählen, und sich Ziele zu setzen, die nicht von dem Spielmechanismen abgedeckt sind. Wir können uns entscheiden das Schicksal unsere Königreiches auf Kosten unseres mechanischen Erfolgs zu wählen. Eine Entscheidung, die allein aus unserem Verantwortungsgefühl gegenüber der Fiktion erfolgt, die wir für wichtig erachten. Auch wenn wir uns weiterhin an die mechanischen Einschränkungen des Spiels halten, so tun wir das um die Geschichte des Königreichs zu lenken, statt Siegpunkte zu ergattern. Um sich narrative Einflussnahme vorstellen zu können, ist es wichtig den Spielverlauf als ein Aushandeln des Erzählten mit Hilfe der Spielmechanik zu verstehen. Es ist eben gerade kein Nebenprodukt unserer spielerischen Interaktion, sondern etwas dessen Richtung wir durch unsere Entscheidungen beeinflussen.

Oath nimmt hier einen anderen Ansatz, da es die erzählerische Einflussnahme durch die Spieler als Bindeglied zwischen den einzelnen Partien versteht, aber auch als Hauptantrieb um Konflikte und auch den Spielverlauf zu schaffen. Auf den ersten Blick, sind es die mechanischen Ziele, welche uns in Konflikt bringen und so den Spielverlauf vorantreiben. Alle Mitspieler*innen haben gegensätzliche Ziele und Ringen um die Vorherrschaft auf dem Spielbrett. Aber schon bald werden diese von der Gruppendynamik der Spieler*innen ersetzt und sie werden zum eigentlichen Grund, weshalb wir miteinander interagieren. Oath ist darauf angelegt möglichst weit offen interpretierbar zu sein, aber gleichzeitig genug thematischen Zusammenhalt zu bieten um seine wichtigsten Spieldynamiken zu verschleiern. Während sich die Spielkampagne entwickelt, verkörpern wir immer stärker die Rollen verfeindeter politischer Gruppen, deren Geschichte, Erinnerung und (freundschaftlichen) Fehden eine weit größere Auswirkung auf das Spielgeschehen nehmen, als es irgendwelche mechanischen Ziele durch die Spielregeln es könnten.

Natürlich versuchen wir alle der nächste Kanzler zu werden, aber Oath nimmt erst dann an Fahrt auf, wenn es allein darum geht „Dirk“ vom Thron zu stoßen oder unbedingt zu verhindern, dass „Stefan“ den Thron erklimmt. Es wird eine Spielrunde aus augenzwinkernden Ressentiments, Ehrgeiz und dem gelegentlichen, freundschaftlichen Akt der Rache. Die Erzählung Oaths ist nicht eine des Landes, seiner Merkmale oder sogar von sich wandelnden Bündnissen. Es ist eine Geschichte seiner Spieler*innen. Die erlebte Geschichte ist kein Ergebnis des Themas, sondern eine durch unser Spielen entstandene Geschichte, welche das Thema und seine Bestandteile lediglich instrumentalisiert, um unsere Geschichte zu erzählen. (Dabei schränkt sich das Spiel inhaltlich leider stark ein, da es auf gewalttätige Konflikte ausgelegt ist. Wie ein imperalistisches Verständnis von Geschichte, welches nur Schlachten erwähnt und Wert zuschreibt, jedoch nicht der Kultur, den technologischen Errungenschaften oder den Menschen, welche zu Zeiten des Friedens gedeihen konnten.)

Spieler*innen in Oath müssen sich nicht nur darüber klar werden, dass die Geschichte zwischen ihnen stattfindet (und nur zu einem kleinen Teil auf dem Spiel abgebildet wird). Sie müssen ihre Entwicklung auch bewusst in die Hand nehmen. Denn welche Bedeutung die Elemente auf dem Spielbrett für uns haben, wie wir zu ihnen stehen oder die Geschichte, die wir damit in Verbindung bringen, lässt sich nicht im Vorhinein ins Spiel schreiben. Die Geschichte in Oath kann erst existieren, wenn wir sie im Spiel erschaffen; wenn wir ihre Protagonisten werden und die Ereignisse wie ein griechischer Chor im Theater erzählen, neu erzählen und zu unseren Gunsten deuten.

Um erzählerische Einflussnahme in Spielen zu begreifen, muss man sich bewusst machen, dass Oath nicht grundlegend anders ist als jedes andere Brettspiel. Es ruft seinen Spieler*innen lediglich laut zu, endlich die Geschichte in die Hand zu nehmen, die sie durch ihr Spielen entstehen lassen. Es fordert Spieler*innen auf endlich anzuerkennen, dass sie Geschichten erzählen und nicht interpretieren.

Georgios Panagiotidis
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