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Was Spiele vermitteln

Neulich habe ich einen Blogbeitrag gelesen, in dem die These vertreten wurde, dass Spiele uns Ideen vermitteln. Sofort sträubte sich etwas in mir und ich musste deutlich „Nein“ sagen. Ich konnte in dem Moment nicht gleich in Worte fassen, warum ich diese Aussage so abwegig fand. Ich habe versucht, meine Gedanken hier einzugrenzen, hoffentlich mit etwas Erfolg. Aber wenn sich das hier etwas wirr liest, liegt das nur daran, dass ich diese Vorstellung von Spielen, die ich in meinem Kopf habe, noch nicht genau zu fassen bekomme. Aber fangen wir mit meiner Grundannahme an:

Spiele vermitteln keine Ideen. Zumindest nicht mehr als jeder leblose Gegenstand, den man sich auf den Tisch stellt, eine Idee vermittelt. Eine Vase zum Beispiel. Oder eine Teetasse. Sie haben eine Funktion, aber diese Funktion besteht nicht darin, Ideen zu vermitteln. Das ist etwas, was wir Spielen (und anderen leblosen Gegenständen) andichten können. Es ist ein zusätzlicher Zweck, den wir ihnen verleihen können, aber es ist keine Funktion, die Spiele aus ihrem Wesen heraus besitzen.

Wenn wir unbedingt Ideen in ihnen finden müssen, über die wir sprechen können, dann können wir sie bestenfalls wie teure Weine schmecken. Dann sprechen wir in ausschweifenden Worten (hah!) über die Noten von Holz, Lavendel oder Sommersonne, die wir wahrnehmen, während wir uns am Alkohol und der Cleverness unserer eigenen Vergleiche laben. Das soll nicht heißen, dass eine solche Herangehensweise nicht möglich ist oder falsch sein muss.

Aber das Reden über die Ideen, die in Spielen zum Ausdruck kommen, ist bestenfalls ein sehr nischiges und selbstverliebtes Unterfangen. Es ist großartig, mit anderen „Ideen, die durch Spiele ausgedrückt werden“-Enthusiasten darüber zu sprechen, aber für die Mehrheit der spielenden Menschen ist es kaum mehr als ein flüchtiges Interesse.

Ehrgeiz, Heldenmut oder Ausdauer? Worum geht es hier?

Allerdings bin ich der Meinung, dass Spiele ein Populär-Medium sind. Sie sind nicht irgendwelchen belesenen Bildungseliten vorbehalten. Spiele sind ein Medium, das für jeden, der sich damit beschäftigt, zugänglich und verständlich sein sollte, und nicht nur für diejenigen, die über die Bildungsprivilegien verfügen, um Spiele in ihrer Gesamtheit wertschätzen zu können. Deshalb interessiert mich am meisten, wie Spiele gespielt werden, wie Menschen sich mit ihnen beschäftigen und wie wir diese Beschäftigung am besten ausdrücken und artikulieren können. Mit anderen Worten: Ich möchte darüber sprechen, wie das Medium genutzt wird, und nicht darüber, wie wir es interpretieren könnten.

Bei manchen Seiten des Brettspiels bietet sich eine Allegorie auf andere Medien an. Was die Entwicklung von Spielen angeht, scheint der Film gut zu passen. Es handelt sich in der Regel um eine Gruppenarbeit, die oft einer einzigen Person (Regisseur*in oder Designer*in) zugeschrieben wird, während man davon ausgeht, dass die Beiträge aller anderen Beteiligten die Vision des Regisseurs bzw. Designers unterstützen. Dies ist die „Auteur-Theorie“. Es ist die Annahme, dass ein komplexes kreatives Werk auf das Schaffen eines einzigen genialen Menschen zurückgeführt werden kann. Das schmeichelt zwar dem Ego dieser Person, ist aber in der heutigen Filmtheorie nicht besonders hoch angesehen. Es ist ein bequemes Modell, aber diese Bequemlichkeit könnte dazu führen, dass wir Wichtiges übersehen.

Vom Standpunkt der Kritik aus betrachtet, bietet die Auteur-Theorie zwei Dinge, die ihre Anwendung auf Brettspiele attraktiv machen. Erstens vereinfacht sie das Brettspiel auf eine einzige Bedeutungsquelle (d. h. die Autorenabsicht), die interpretiert, deutlich gemacht und dann präsentiert werden kann. Das Spiel wird zu einem Versuch, herauszufinden, was der Künstler uns mit seinem Werk sagen will. Die Kritik dient im weiteren Sinne dazu, die „Aussage“ des Künstlers neu zu formulieren. (Vielleicht für das gemeine Fußvolk.) Zusätzlich bewirkt „Auteur-Theorie“ , dass dem Spiel selbst eine Botschaft zugeschrieben wird. Ein „Auteur“ schreibt einen Text, den wir lesen, um dessen Botschaft zu verstehen. Ein „Designer“ entwirft ein Spiel, damit wir als Spieler es spielen können, um dessen Botschaft zu verstehen. Was immer das Spiel angeblich aussagt, ist in in den Einzelteilen verankert, die in der Schachtel sind. Höchstens die Identität oder der Hintergrund des Autors bieten einen weiteren Kontext, um diese Absicht greifbar zu machen.

Aber wie wir alle wissen: Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache und elegante Lösung, die falsch ist.

Und um es klar zu sagen: Die Identifizierung des künstlerischen Potenzials und des kulturellen Werts von Spielen ist ein komplexes Problem. Denn bei Spielen im Allgemeinen (und bei Brettspielen im Besonderen) steht die Interaktivität im Mittelpunkt. Sie ist nicht nur die Art und Weise wie wir mit dem Spiel umgehen. Sie beschreibt auch, wie wir dem Spiel eine Bedeutung geben. Damit es beim Spielen nicht nur um das Platzieren von Spielsteinen, das Ausspielen von Karten oder das Werfen von Würfeln geht. Unser Spiel erfordert, dass wir den verschiedenen Elementen des Spiels eine Bedeutung und einen Wert zuschreiben. Siegpunkte sind nicht aus sich selbst heraus wichtig. Wir schreiben ihnen Wert und Bedeutung zu.

Die greifbaren Elemente des Spiels sind nicht die Dinge, die sie repräsentieren. Dennoch behandeln wir sie so, als hätten sie ausgewählte Eigenschaften der Dinge, die sie im Spiel darstellen. Ein gelber Würfel könnte für einen Strauch Bananen stehen. Wir behandeln diesen Würfel nicht als essbar oder schwer, aber wir behandeln ihn so, als ob er im Wirtschaftssystem des Spiels Geld (oder eine beliebige Währung) wert wäre. Wir nennen den gelben Würfel „Bananen“, und unsere Bewertung basiert nicht auf den Produktionskosten des Würfels oder seiner taktilen Qualität, sondern auf dem Wert und der Begehrlichkeit, die wir ihm im Spiel zuschreiben.

Wenn wir über Ideen sprechen würden, die durch dieses Element des Würfels repräsentiert werden, könnten wir philosophisch darüber sprechen, dass seine quadratische Holzform ein Kommentar zur Kommerzialisierung natürlicher Ressourcen ist. Es könnte ein Kommentar zur brutalen Natur des Kapitalismus sein, der die natürliche Kurve der Banane in die starre Form eines Würfels zwingt. Ihre winzigen Ausmaße könnten uns das Gefühl geben, wir seien buchstäblich Titanen der Wirtschaft, wenn wir unzählige Bananen über Kontinente transportieren, um uns so zu bereichern. Und wenn ich wollte, könnte ich noch ein paar Verweise auf Adam Smith, Friedrich August von Hayek oder sogar Karl Marx anbringen. Aber was ein solcher Bericht beleuchtet, ist nicht das Spiel, wie es gespielt wird, sondern das Ego der Person, die diese Worte geschrieben hat. (Und ich schreibe das als jemand, der sicherlich nicht bescheiden ist. Aber ich würde gerne denken, dass ich etwas Selbstwahrnehmung besitze.)

Wenn wir uns hinsetzen, um dieses hypothetische Spiel über den internationalen Bananenhandel zu spielen, haben die Würfel eine Funktion. Sie nehmen einen bestimmten Wert innerhalb des Spiels an, und wir bedienen die Komponenten des Spiels als Teil des Spiels. Daraus ergibt sich eine Erzählung. Durch das Spiel wird sie uns weder enthüllt, noch entdecken wir sie so. Sie entsteht erst durch unsere Interaktion.

Eine Holzfigur auf das Spielbrett zu setzen und den dort umrissenen Bereich als mein Eigentum zu beanspruchen, ist keine Eigenschaft des Spiels. Es ist kein geschriebener Text, dessen Worte diesen Zusammenhänge festlegen. Es ist auch nicht wie ein Gemälde oder ein Film, der einen solchen Zusammenhang durch Bildsprache ausdrückt. Es ist nicht einmal wie ein Computerspiel, bei dem diese Verknüpfung im Programmier-Code steht und unveränderlich ist. In einem Brettspiel haben wir zwei unterschiedliche physische Objekte, die die Spieler zusammensetzen und ihnen eine zusätzliche Funktion zuschreiben, welche diese Objekte allein nicht besitzen.

Neben den physischen Gegenständen, die uns ein Spiel bietet, liefert es auch ein Vokabular, welches wir nutzen sollen, um den gelben Würfeln oder Bereichen auf dem Spielbrett eine Bedeutung zuzuweisen. Aber das bedeutet nicht, dass wir damit die Erzählung des Spiels ausführen. Wir könnten den Holzwürfel ein Familienmitglied, einen Arbeiter oder sogar eine Armee nennen. Wir könnten das abgegrenzte Gebiet auf dem Spielbrett ein Zimmer in einem Haus, eine Fabrik in einer Stadt oder sogar eine Nation nennen.

Der Punkt ist, dass dieses Vokabular nicht erzwungen werden kann. Es wird von den Spielern freiwillig angenommen und oft geändert, um den Vorstellungen der Gruppe zu entsprechen, wie die Elemente genannt werden sollten. In einigen Spielen gibt es eine Währung, die manchmal einen historisch begründeten Namen hat: Fiorin, Rubel, Credits, NuYen, usw. Meiner Erfahrung nach ist es üblich, dass die Spieler stattdessen einen natürlich klingenden oder vertrauten Begriff verwenden. Manchmal wird die Währung Gold oder einfach nur Geld genannt. Aber diese Praxis kann sich leicht auf andere Elemente des Spiels ausweiten. In dem in Verruf geratenen Brettspiel Puerto Rico weigerten sich viele Gruppen, die Arbeiterplättchen auf den Plantagenfeldern „Kolonisten“ zu nennen (wie es das Spiel vorschlug), und entschieden sich stattdessen für die naheliegendere und kontextuell offensichtlichere Bezeichnung „Sklaven“. Selbst in den Fällen, in denen die Gruppen das Wort nicht laut aussprachen, wurden die dunkelbraunen Plättchen als „Sklaven“ verstanden.

Die Arbeit, die nötig ist, um ein Spiel thematisch und immersiv zu gestalten, basiert auf der Erkenntnis, dass Spieler das Vokabular eines Spiels ablehnen können und dies oft auch tun, wenn es nicht mit ihrer Spielerfahrung übereinstimmt. Das liegt daran, dass das Thema eines Spiels, oder genauer gesagt, seine Erzählung, nicht durch das Spiel geschaffen wird. Es wird nicht durch seine Regeln oder seine visuelle Präsentation geschaffen. Weder für sich selbst genommen, oder wenn beide auf einander abgestimmt sind.

Wir Spieler sind es, die die Erzählung, die auf dem physischen Spiel liegt, erschaffen. Wir nutzen sie, um unser Spielerlebnis zu bereichern. Wir sind diejenigen, die über die Spielgegenstände vor uns hinausschauen und uns eine zusätzliche Dimension unserer Interaktionen vorstellen. Wir sind es, die die Fiktion schaffen, die das Spiel ausmacht.

In Film und Fernsehen wird vom „suspension of disbelief“ gesprochen. Damit ist unsere Bereitschaft gemeint, zu akzeptieren, dass der glatzköpfige Engländer im rot-schwarzen Overall in Wirklichkeit französischer Abstammung ist und ein interstellares Raumschiff kommandiert. Dass er eben doch kein Schauspieler in einem Fernsehstudio in Kalifornien ist. Im Film macht es der „Realismus“ der Darstellung einfacher diese Zweifel zu ignorieren und in die Fiktion des Films einzutauchen.

Bei Brettspielen sind wir jedoch viel aktiver. Es reicht nicht aus, unsere Zweifel zu ignorieren und einen gelben Würfel für einen Haufen Bananen zu halten. Das Thema oder die Erzählung eines Spiels ist nicht etwas, dem wir ausgesetzt sind. Wir müssen sie nicht bereitwillig aufnehmen und akzeptieren. Ein Spiel ist nichts was man uns vorsetzt und welches wir ohne Widerspruch empfangen.

Wir sind kontinuierlich daran beteiligt, den alltäglichen, physischen Objekten des Spiels eine zusätzliche, wenn auch fiktive Bedeutung zu verleihen. Wir erschaffen das Thema des Spiels, indem wir die Fiktion als vorübergehend wahr ansehen und sie weiterführen. Für die Dauer des Spiels erhalten die Gegenstände diese zusätzliche Bedeutung, diesen zusätzlichen Wert und werden in eine Beziehungen zueinander gesetzt. Wir tun dies, um ein Spiel zu spielen.

Ob Tragödie oder Heldenepos liegt am Ausgang des Spiels und damit an unseren Entscheidungen.

In einem sehr wörtlichen Sinne sind wir diejenigen, die die Geschichte des Spiels erzählen. Das Spiel selbst liefert uns die narrativen Bausteine und einen von möglicherweise vielen Rahmen, die wir verwenden können, um ihnen einen Wert zuzuschreiben. Aber es ist unsere Beschäftigung mit dem Spiel, unser Spielen des Spiels, das es uns ermöglicht, aus den greifbaren Komponenten in der Schachtel eine Erzählung zu schaffen. Wir sind nicht nur Schauspieler eines Drehbuchs oder Zuschauer eines Theaterstücks. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes die Mitgestalter der Erzählung des Spiels.

Wenn wir akzeptieren, dass die Erzählung eines Spiels von uns geschaffen wird, müssen wir auch feststellen, dass wir nicht auf das Spiel reagieren. Wir führen kein Skript des Spiels aus, welches für uns gemacht wurde oder versuchen eine Botschaft zu empfangen, die das Spiel ausdrücken will.

Wir übernehmen die Elemente, die im Spiel enthalten sind und machen sie uns zu Eigen.

Was eigentlich nur eine sehr blumige Art ist, zu sagen, dass ein Spiel keine Ideen vermittelt. Stattdessen gibt es uns Konzepte in die Hand, um damit zu spielen. Was wir aus diesen Werkzeugen machen, kann sich zu etwas zusammenfügen, das einer Idee oder sogar einer Aussage ähnelt. Aber genauso gut auch nicht. Aber das liegt an den Entscheidungen, die wir beim Spielen treffen. Es liegt nicht daran, dass in den Spielen Ideen oder Aussagen vergraben sind, die wir ausheben müssen.

Damit wird nicht die Gültigkeit der Versuche von Designern, mit ihrer Arbeit etwas zu vermitteln, in Abrede gestellt (und sollte es auch nicht). Es ist eine Art zu sagen, dass ein Spiel den Spielenden ermöglicht, ein Thema, eine Erzählung und den Ausdruck einer Idee zu erschaffen. Das Design ist ein Instrumentarium, ein Sandkasten, wenn man so will. Aber es ist kein Text, den man entschlüsseln muss, um zu verstehen, was er aussagt. Ein Spiel auf die Ideen hin zu untersuchen, die es angeblich vermittelt, ist bestenfalls so, als würde man den Kaffeesatz lesen, um zu verstehen was das Café-Personal einem sagen will. Sie einfach zu fragen, ist hier vielleicht der bessere Ansatz.

Wenn wir über Ideen oder Aussagen sprechen wollen, die beim Spiel in Erscheinung treten, sollten wir nicht das Spiel analysieren, sondern unsere Spielweise. Wir sollten schauen was wir tun und wie wir uns zu einander verhalten. Wir sollten schauen in welchen Bahnen wir denken. Die Ideen, die aus einem Spiel heraus entstehen, sind nicht durch das Spiel kommuniziert worden. Aber sie werden durchaus von ihnen unterstützt, wenn wir mitspielen.

Georgios Panagiotidis
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