Wer mich hier regelmäßig liest und hört, weiß, dass ich durchaus einen kleinen Faible für Taxinomie habe. Insbesondere finde ich interessant, was Spielegenres definiert. Zufällig bin ich nun gerade auf die sogenannte Prototypensemantik gestoßen (engl. „Prototypetheory“), die nicht mit spielerischen Prototypen zu tun hat. Die Idee dieser Semantik ist jetzt, dass es sogenannte Prototypen gibt, die als „typisch“ für die entsprechende Kategorie angesehen werden und Menschen Dinge unbewusst danach bewerten, wie weit sie von diesem Prototypen entfernt sind. So ist der Pinguin zwar ein Vogel, aber ein sehr untypischer und liegt daher eher am Rand der Kategorie. Die Ränder sind dadurch nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern gehen eher ineinander über: Eine Fledermaus ist kein Vogel im biologischen Sinne, wird aber als nicht viel weiter weg vom „Prototypenvogel“ entfernt wahrgenommen, als ein Pinguin. Wie bei der Fuzzy Logic auch, ist der Bereich zwischen „Ist Vogel“ und „Ist kein Vogel“ keine klare Grenze sondern ein Kontinuum mit den Ufern „Klar ein Vogel“ (Amsel) und „Klar kein Vogel“ (Tankstelle).
Nun sind Vögel biologisch gesehen eindeutig zuordbar, hier beruht dieses Kontinuum eher auf der Wahrnehmung der Menschen; Mehr Menschen halten eine Drossel für einen Vogel als ein Huhn als einen Pinguin als eine Fledermaus. Außerdem würde ich argumentieren, dass die Kategorie „Vogel“ prinzipiell eher deutlich ist, im Vergleich zum Beispiel zum Begriff „Beere“ (also sowas wie Gurken oder Bananen aber natürlich nicht so was wie eine Erdbeere). Aber auch bei Beeren gibt es einigermaßen klare Definitionen.
Bei Spielegenres ist genau das ja nun anders und gerade deswegen halte ich die Prototypensemantik hier für besonders wertvoll. Wir alle wissen wie ein Versteigerungsspiel, ein Roll and Write, ein Civilisationsspiel, ein Dungeon Crawler, ein Eisenbahnspiel… aussieht. Aber sobald man versucht eine feststehende Definition zu finden, wird es haarig und plötzlich ist „alles irgendwie ein Versteigerungsspiel“ oder man stellt fest, dass ausgerechnet das aktuelle Lieblingsspiel des Genres nicht so recht passen mag- Der A la Carte – Preis hat in der Vergangenheit schon Probleme gehabt, ein „Kartenspiel“ fest zu definieren. Die Prototypensemantik kann hier ansetzen, in dem sie eben einen Prototypen des jeweiligen Genres deklariert und dann untersucht, was an diesem Spiel als eben so typisch für das Genre angesehen wird. Davon ausgehend kann man dann weitere Spiele dahingehend untersuchen wie dicht sie an diesem Prototypen sind, ob die Unterschiede für Kategorisierung entscheident sind oder eine untergeordnete Rolle spielen. Es wird einen nicht gelingen da zu einem absoluten Ergebnis zu kommen (Das Spiel ist 85% ein Versteigerungsspiel), aber eine derartige Untersuchung ist ergiebiger als das simple Auflisten von Mechanismen oder dem Äquivalent zum „Musical Hairsplitting“ das Douglas Coupland so schön in Generation X definiert hat.
Doch das wichtigste: Genau diese Untersuchung ist es, was die Beschäftigung mit Genres so spannend macht. Durch diese Untersuchung kann man nicht nur eine genauere Sprache mit der Leser:innenschaft vereinbaren, sondern vor allem überlegen, was es ist, dass wir als Spielende von einem Spiel aus dem Genre X erwarten. Das ist eine spannende Frage, sowohl für eine Kritik (Werden diese Erwartungen erfüllt? Wenn Nein, Warum nicht? Und sorgt das für eine Desorientierung oder eine Überraschung?) als auch für die Spieleentwicklung (Mit welchen Erwartungen kann ich brechen? Wo könnte ich etwas gänzlich anderes machen, ohne das Genre zu wechseln? Was muss ich unbedingt im Spiel haben, um Erwartungen nicht zu enttäuschen?). Was natürlich der Grund ist, warum ich auf dieser Frage alle paar Monate hier herumreite.
Und nur zur Klarstellung: Ob ein Spiel jetzt ein typischer Vertreter eines Genres ist oder nicht, sagt erst einmal nicht viel über die Qualität aus, sondern eben nur an die Erwartungen, die an das Spielerlebnis geknüpft werden. Ein Brechen mit einer Erwartungshaltung kann sich dabei frisch oder sperrig anfühlen. Ein „typisches“ Spiel kann sich „altbacken und bekannt“ anfühlen oder genau das sein, was man sich von dem Spiel erhofft hat. Auch das ist ein Punkt, den man untersuchen kann.
ciao
peer
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