spielbar.com

Das Expertenspiel und das Problem der Zugänglichkeit

Wir müssen über Experten reden. Oder um es genauer zu sagen: über Expertenspiele, die damit einhergehenden Annahmen und die kulanten Beurteilungen, die Spiele dieser Kategorisierung manchmal erhalten. Aber dafür sollte man am Anfang anfangen.

Ein Expertenspiel ist eine Spielgattung, die sich primär vom Einsteiger- oder Familienspiel abgrenzt. Letztere soll man auch dann noch gut spielen können, wenn sie der erste Kontakt mit Spielregeln dieser Art sind. (Ob dieser Ansatz bei Erwachsenenspielen im Jahr 2022 noch legitim ist, mögen bitte andere Leute ausdiskutieren.) Expertenspiele stehen aber auch getrennt von Vielspieler- oder Kennerspielen. Diese setzen ein rudimentäres Vorwissen einzelner Spielkonzepte voraus, bevor diese im einzelnen Spiel kombiniert werden. Dieses Vorwissen vereinfacht den Einstieg ins Spiel. Es verhindert auch die kognitive Überbelastung, die Leute von modernen Brettspiel abschrecken kann.

Mein ehemaliger Nachbar stieß vor langer Zeit unangekündigt einer Partie Android zu. Keines der Regelkonzepte darin war ihm irgendwie bekannt, von ihrer Kombination ganz zu schweigen. Nach kurzer Zeit qualmte ihm der Kopf. Seitdem ist seine Motivation an einem Brettspielabend teilzunehmen sehr niedrig.

Das Expertenspiel nun geht noch einen Schritt weiter. Es sind Spiele, die eine umfassende Kenntnis der gängigen Regelkonzepte als bekannt voraussetzen. Sie richten sich an die Art von Spieler*innen, die ein Spiel eigentlich auch über die Regelzusammenfassung lernen könnten und das Regelwerk lediglich als Nachschlagewerk benötigen. In diesen Spielen wird vorausgesetzt, dass Spieler*innen Entscheidungsräume und deren Konsequenzen selbst bei komplexeren Regelkonstrukten eigenständig erfassen und abschätzen können.

Während Einsteiger*innen sich erst noch erschließen müssen wie sie in einem „worker placement“-Spiel ans Ziel gelangen, können geübte Spieler*innen schon in der ersten Runde auf viele Strategien und Ansätze zurückgreifen und damit experimentieren.

Eine Unterteilung in Einsteiger- und Expertenspiel ist sinnvoll und sollte auch in die Bewertung einfließen. Ein Einsteigerspiel muss seine Konzepte sehr viel gründlicher aufbereiten und ausbreiten, als es eben ein Expertenspiel tun muss. Man kann hier voraussetzen, dass die Gruppe weiß wie sie sich das Spiel erschließen kann.

Der Begriff Expertenspiel sorgt jedoch für Probleme, wenn man den Spielreiz einordnen will. Denn innerhalb des Expertenspiels, also den Spielen die Vorwissen bei Spieler*innen annehmen, gibt es auch Spiele, in denen es darum geht an Spielkompetenz zu gewinnen. Anders gesagt, es gibt Spiele, die deshalb reizvoll sind, weil man sich durch wiederholtes Spielen Expertise aneignet. Durch wiederholtes Spielen wird man in diesem Spiel besser, aber nicht unbedingt in Spielen als solchen.

Darum würde ich innerhalb der Gattung Expertenspiele hier nochmal das Expertisen-Spiel unterscheiden wollen. Ersteres sagt für wen das Spiel ist. Letzteres sagt was daran reizvoll ist. Es wäre falsch (und auch anmaßend) wenn man diese Dinge gleichsetzt. Denn das würde bedeuten, dass lediglich Expertenspieler*innen sich von Expertisen-Spielen angesprochen fühle. Dem ist nicht so.

Ich beobachte meine Kinder gerade dabei wie sie sich mit sehr großer Leidenschaft und Begeisterung mit Pokémon beschäftigen. Es ist deutlich, dass ihre Spielfreude und Motivation zu einem großen Teil auch darin besteht, sich mehr Expertise anzueignen. Das hat nichts mit ihrem Vorwissen über Spiele zu tun. Es zeigt viel mehr, dass ein einsteigerfreundliches Spiel ebenso ein Expertisen-Spiel sein kann, wenn es gut genug gemacht ist. Zum Teil liegt das natürlich auch daran, dass ein Videospiel weit weniger Vorwissen benötigt. Wenn eine Aktion gegen die Regeln verstoßen würde, dann ist sie einfach nicht ausführbar. In einem Brettspiel muss jemand den Fehler entweder bemerken oder die Regeltreue einer jeden Aktion prüfen. Das ist selten der Fall.

Aber auch unter nicht-digitalen Spielen gibt es Beispiele in denen das Expertisen-Spiel unabhängig von der Einsteigerfreundlichkeit des Designs existiert. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür ist vermutlich Magic The Gathering (und in meiner persönlichen Spiellaufbahn noch Android: Netrunner). Konzept, Design und Aufbereitung sind derart rund, dass man wiederholt spielen kann und en passent eine große Bandbreite an einzelnen Karteneffekten und ihrer Auswirkung auf die Spielsituation erlernt. Ohne es bemerkt zu haben, besitzt man bald ein fast enzyklopädisches Wissen der Kartenkombinationen. Es mag nicht das Ziel des Spiels gewesen sein, aber es ist dennoch seine Konsequenz.

Das ist die Wirkungsmacht guten Spieldesigns. Komplexe Inhalte und Informationen von hoher Regeldichte werden unauffällig vermittelt, weil sie in ein interaktives System eingebettet sind. Wir spielen und verknüpfen dabei emotionale Reaktionen mit Elementen des Spiels. Unser Erinnerungsvermögen wird so direkt angesprochen und trainiert.

Gutes Design veranschaulicht Ursache und Wirkung zwischen den Bausteinen des Spiels. In einem Spiel wie Android Netrunner haben die Werte einer jeden Karte eine konkrete Funktion. Dank unserer praktischen Spielerfahrung fügen wir diese sofort in einen größeren, sinnstiftenden Kontext ein. Je früher wir das Spiel verstanden haben, umso schneller können wir uns dem eigentlichen Spielreiz widmen: unsere Spielexpertise zu vergrößern. Es macht einen Riesenspaß zu spüren, wie wir in diesem Spiel immer besser werden. Die wichtige Endorphin-Ausschüttung findet sich in einem Expertisen-Spiel nicht nur im Sieg (auch wenn dieser nett ist), sondern darin dazu gelernt zu haben.

Das lässt sich eben nicht an einer Punkteleiste ablesen. Vielmehr merkt man, dass das Spiel flüssiger und einfacher von der Hand geht. Die Fragen und Entscheidungen, mit denen man in den ersten Partien noch gehadert hat, weichen einer gewissen Routine. Die Selbstbestätigung, die daraus erwächst, fühlt sich gut an. Sie ermuntert dazu vergleichbare Spiele ausfindig zu machen und auch hier das gute Gefühl des „sich Verbesserns“ zu erleben. Es ist also naheliegend, sich immer komplexere und umfangreichere Spiele zu suchen, bis man das Niveau erreicht hat auf dem man sich gerne bewegt.

Nun ist dieser Drang sich zu verbessern und die Suche nach neuen Herausforderungen, die es zu meistern gilt, nicht immer sehr wählerisch. Manchmal ist es wichtiger zu wissen, dass ein Spiel schwer zu erlernen ist, statt sich darüber Gedanken zu machen warum dem so ist. So kann es passieren, dass ein Spiel deshalb für viel Freude und Spaß sorgt, weil es eben so viel zu lernen, entdecken und meistern gilt. Aber nicht unbedingt weil der Spielverlauf genug Facetten besitzt um daran ein tieferes und besseres Verständnis des Spiels zu erlangen.

Das Spiel zu begreifen und zu verstehen wird zur Herausforderung. Das kann so sein, weil die Regeln mit zu vielen Ausnahmen und Sonderfällen daherkommen. Oder weil der Spielablauf an den falschen Stellen sehr kleinschrittig und penibel umgesetzt werden muss, damit das Spielgleichgewicht nicht aus den Fugen gerät. Es mag daran liegen, dass der Kartensatz derart unüberschaubar ist, dass man nur durch stures Auswendiglernen versuchen kann dem Zufall etwas entgegen zu setzen.

Das Expertisen-Spiel aber lebt davon, dass man lernt wie man das Spiel gut spielt und nicht dass man noch die kleinsten Variablen des Spiels verinnerlicht. Die Expertise, die man sich aneignen will, drückt sich im Können aus nicht allein im enzyklopädischen Wissen. Eine hohe Feinkörnigkeit von Regeln und Effekten ist darum zuerst mal eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Erst dann kann das Spiel richtig gespielt werden und erst dann kann man darin besser werden. Gute Spielentwicklung und redaktionelle Betreuung greift hier, um den Zugang so weit es irgendwie möglich ist zu verkürzen. Ein gut konzipiertes Regelheft kann hier helfen. Auch die Entscheidung hohe Variabilität nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Qualität statt Quantität gilt auch – oder gerade – im Expertisen-Spiel.

Die hohe Wiederspielrate in einem Expertisen-Spiel ergibt sich eben daraus das Spiel zu durchdringen, und nicht die lange Liste an Kartenwerten immer auf Abruf zu haben. Wie bereits erwähnt, dieses Wissen ist eine Folge des Expertisen-Spiel; es ist nicht sein Zweck.

Eben dieser Unterschied kann und sollte meiner Meinung nach im Experten- und Expertisen-Spiel aufrecht erhalten werden. Ein Expertenspiel ist reizvoll, weil es auf hohem Niveau anfängt. Die durch viele Spielrunden gesammelte Erfahrung kann in einem Expertenspiel direkt angewandt werden. Ein Expertisen-Spiel hingegen ist reizvoll, weil man sich unabhängig vom Niveau auf dem man anfängt, immer tiefer und tiefer in die Feinheiten des Spielverlaufs bewegen kann.

Damit sind die Ansprüche an das Design in einem Expertenspiel, einem Kennerspiel und einem Einsteigerspiel an einer Stelle gleich: alle müssen sich reibungsarm erlernen und im Anschluss flüssig spielen lassen. Der Begriff Expertenspiel befreit ein Spiel nicht von der Verpflichtung in Anleitung und Design möglichst verständlich und zugänglich zu sein.

Georgios Panagiotidis
Letzte Artikel von Georgios Panagiotidis (Alle anzeigen)