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Heul doch! – Gedanken zu Werwolf

Der Jahreswechel ist vollbracht. Wer jetzt noch einen Kater pflegt, hat vermutlich im Alkoholrausch zu Silvester ein Tierheim aufgesucht. Mein persönliches Jahresende hatte leider nicht die Form angenommen, die ich mir gewünscht habe. Statt in kleiner Runde Brettspiele zu genießen, habe ich zum späten Abend die Rolle des Moderators übernommen. Da das die einzige Möglichkeit war, um nicht an drei Runden Werwolf teilnehmen zu müssen.

Hallo, ich bin Georgios und ich finde Werwolf unerträglich.

Der hier ist aber ganz ok.

Es ist nicht schwer die Fehler des Spiels zu finden. Das Design offenbart schon nach einer Runde deutliche Lücken. Spielt man das Spiel mit Leuten, die man nicht gut bzw. kaum kennt, so eröffnet das Spiel keine Möglichkeiten Informationen zu sammeln. Es fehlt die Entscheidungsgrundlage nach der man eine Anklage ausspricht oder auch eine Anklage unterstützt bzw. ihr widerspricht. Man muss auf zwei, eher willkürliche, alternative Quellen zurückfallen. Man kann sich auf Geräusche berufen, welche während der Nachtphase des Spiels zu hören waren. Womit der Kniff des Spiels dann darin besteht dem Moderator  möglichst geräuschlos zu erkennen zu geben, welche Entscheidung man gefällt hat. Dem weltweit beliebten Partyspiel wird so ein etwas unbefriedigendes Geschicklichkeits-Minispiel hinzugefügt. Die andere Möglichkeit und von vielen favorisierte Vorgehensweise, wenn es um Werwolf geht, legt Wert auf Körpersprache und Spielerverhalten. Man versucht an Hand dieser Dinge herzuleiten, ob ein Spieler auf der eigenen Seite steht oder nicht. Prinzipiell ist das auch reizvoll und höchst interessant (The Mind gelingt es diesen Ansatz in ein 100% kooperatives Spiel umzulenken), aber um wirklich zu greifen, benötigt das Spiel mehr Struktur. Spieler brauchen einen Grund sich in irgendeiner Weise zu verhalten. Es gibt aber zu wenig zu tun, um irgendetwas zu tun. Ein Spiel wie The Resistance/Der Widerstand zum Beispiel führt eine weitere Phase ein, in der Abstimmungen einen Aufschluß darüber geben wie sich einzelne Spieler positionieren wollen.

Werwolf macht so etwas nicht. Entscheidungen müssen gezwungenermaßen auf die unbewusste oder unreflektierte Gruppendynamik zurückfallen. Dieser Umstand lässt sich durchaus auch positiv nutzen. Wenn zum Beispiel leichte zwischenmenschliche Spannungen gelöst werden müssen. Das Spiel selbst jedoch führt die Gruppe eher dazu einen lustigen Lynchmob zu gründen: ein Spieler wird willkürlich ausgegrenzt und darf dem Rest des Spiels als stiller Zuschauer beiwohnen. Sicherlich kann man hier schlimme Dinge im psychischen Unterholz befürchten, aber in der Regel bleibt ein Spiel nur ein Spiel und wird von den Leuten auch als solches verstanden. Aber das ist nicht der Grund, weshalb mir Werwolf so stark missfällt.

Viel interessanter ist ja, warum es gerade bei sog. Nicht-Spielern oder Seltenspielern so gut ankommt. Diese Gruppe ist dem Spiel um ein Vielfaches aufgeschlossener als es Hobbyisten (zu denen ich mich mal dreist zähle) sind. Als sich am Silvesterabend andeutete, dass Werwolf gespielt werden sollte, warf ich – als letzte Hoffnung – Vollmondnacht Werwölfe als Alternative ein. Als designierter “Spielefreak” konnte ich die Aufmerksamkeit der Gruppe kurz halten, aber als es hieß man müsste den Tisch dafür freiräumen, befürchteten die Anwesenden eine komplizierte Regelerklärung und winkten ab.

Genau das umfasst eine der größten Berührungsängste bei Wenigspielern. Regeln lernen, verinnerlichen und klug einsetzen oder Gefahr laufen sich zu blamieren, ist das was viele vom Spielen abhält. Da hilft es auch nicht, dass ich auch unter erfahrenen Spielern zu oft an Menschen gerate, die sich innerhalb des Spiels gerne über andere lustig machen, die “Fehler” gemacht haben. In der etwas subtileren Variante wird der Erfolg als strategische Leistung gefeiert und als Indiz von überragendem Intellekt gedeutet. Beide Verhaltensweisen signalisieren jedoch nur, dass Sieg und Niederlage direkt auf das eigene Ansehen innerhalb der Gruppe zurückfällt. So als würde man nicht des Spiels wegen spielen, sondern um den Neid der anderen zu gewinnen.

Werwolf umgeht diese gesamte Problematik mehr oder minder geschickt, in dem Fragen des Spielkönnens gänzlich umgangen werden. Vorherige Erfahrung hat wenig bis gar keine Auswirkungen auf den Spielerfolg, so dass sich selbst der letzte Spielneuling auf gleicher Stufe mit den Profis wähnen kann. Selbst seine Mitspieler gut zu kennen bringt nur wenige Vorteile, sobald neue Gesichter hinzustoßen und die Berechenbarkeit der Lynching-Wahl völlig aushebeln.

Dieser Mann wusste wie man Werwölfe erkennt

Werwolf ist unter anderem deshalb so beliebt, weil es so zugänglich ist. Diese Zugänglichkeit wird sich jedoch mit fehlender Spieltiefe erkauft. Die Regeln und Mechanismen des Spiels sind selbst bei drei bis vier Zusatzrollen noch recht überschaubar. In unserem Fall war die Schmerzensgrenze jedoch mit der ersten Rolle, der Hexe, erreicht. Aber Spieltiefe ist nicht das selbe wie Regeldichte. Es gibt eine Vielzahl an Spielen mit wenigen, einfachen Regeln, die dennoch beeindruckend viel Tiefe zulassen. Die fehlende Spieltiefe drückt sich bei Werwolf auch darin aus, dass das Spiel nur erträglich ist, wenn man ihm keinerlei Bedeutung beimisst.

Der Ehrgeiz das Spiel gewinnen zu wollen, darf ein gewisses Maß nicht überschreiten, denn sonst begeht man den für Werwolf schwersten Fehler, den man begehen kann: man nimmt das Spiel ernst.

Dieser Satz ist sowohl innerhalb als auch jenseits des Hobbies sehr problematisch. Er weckt sofort die Vorstellung von erwachsenen Menschen, die mit großer Verbissenheit und Emotionsausbrüchen das Spielerlebnis begleiten. Es weckt die Erinnerung an Leute, die „nicht verlieren“ können und die auf vermeintlich kindliche und kindische Art und Weise auf Rückschläge im Spiel reagieren. Ich habe schon mal darüber geschrieben, warum die Tabuisierung von Gefühlen beim Spiel das Hobby nicht erwachsen werden lässt. Ich will hier versuchen dem Satz eine etwas präzisere und sinnvollere Aussage abzuringen, die mir gerade sehr nützlich erscheint.

Spielfilme, Fernsehserien und Bücher wissen ihr Publikum in den Bann zu ziehen, weil dieses Publikum gelernt hat den gezeigten Ereignissen und Personen Glauben zu schenken. Selbst mit dem Wissen, dass wir uns mit Fiktion auseinandersetzen, sind wir gewillt vereinzelte Aspekte der Erzählung als wahrhaftig und authentisch zu sehen. Wir sind gewillt mit den nicht-realen Figuren mitzufühlen. Wir fürchten um sie, wenn ihnen ein Rückschlag droht. Wir freuen uns mit ihnen, wenn ihre große Anstrengungen sich auszahlen. Wir müssen die Figuren und auch die Ereignisse in ihrer Geschichte ernst nehmen, denn sonst ist das emotionale Erleben der Erzählung nicht möglich. Dieser Vertrauensvorschuss wird uns bei gelungenen Filmen, Episoden, etc. mit einer emotionalen Erfahrung und abschließender Katharsis zurückgezahlt. Wir nehmen die Dinge, die vor uns sind, ernst und werden mit Gefühlen belohnt.

Ernsthaftigkeit in Person

Werwolf kann man nicht ernst nehmen. Man sollte es sogar nicht ernst nehmen. Um es mit den Worten der Gastgeberin zu sagen: „Das wäre reinster Psycho-Terror. Das geht GAR nicht!“. Es scheint so, als wäre das der Schlüssel um den Reiz von Werwolf zu erfassen. Aber wenn Werwolf als Spiel nicht ernst genommen werden darf, wie erklärt sich dann die große Emotionalität bei diesen Runden? Warum ist Werwolf für seine Anhänger keine dröge Angelegenheit?

An dieser Stelle macht es Sinn zwischen Aktivität und Spiel zu unterscheiden. Nein, nicht im Sinne, dass es sich um zwei entgegengesetzte Pole handelt oder dass einzelne Spiele in die eine oder andere Kategorie gehören. Das Gegenteil ist der Fall: jedes Spiel basiert auf einer Aktivität. Es basiert auf eine bestimmte Handlung, die man wiederholt ausführt; auf eine Rolle, in die man schlüpfen muss oder auch auf eine abgezählte Menge an Aktionen, die das Gerüst des Spielerlebnis bilden. Bei Pandemie ist es die Absprache mit den Mitspielern. Bei Dominion ist es der Kartenkauf. Bei Werwolf ist es das kurze Gerichtsspiel, das jeder Anklage folgt.

Dank der geringen Spielstruktur rückt bei Werwolf genau diese Aktivität in den Vordergrund. Man schlüpft in (soziale) Rollen, die einem erlauben sich abseits vertrauter und akzeptabler Arten zu verhalten. Man kann pöbeln, hetzen und sich anfeinden. Hier darf man die Grenzen des duldbaren Verhaltens überschreiten und “böse” sein. Wer würde sonst gegen Freunde oder Familienmitglieder intrigieren? Wer würde sonst Halbwahrheiten verbreiten und Stimmung gegen andere Leute machen? Im harmlosen und folgelosen Rahmen eines Spiels kann so etwas berauschend und befreiend sein. Oder wie es im Volksmund heißt: es macht Spaß!

Es ist lediglich nicht das Spiel, welches Spaß macht, sondern die Aktivität innerhalb des Spiels. Das ist weder eine Seltenheit in diesem Hobby, noch ein Nachteil. Viele der sogenannten Partyspiele tun es Werwolf ähnlich: Concept, Argh-Itekt oder das bei älteren Kalibern bekannte Therapy. Dieses sind alles Spiele, in denen das Spiel mal mehr und mal weniger stark in den Hintergrund tritt und die Aktivität, die Spielgruppe unterhält. Gerade Concept ist dafür bekannt, dass die Punktevergabe oft unter den Tisch fällt.

Wer weder Zettel noch Stift zur Hand hat, kann Werwolf natürlich fertig kaufen.

Werwolf dient daher als gutes Beispiel dafür, warum Spaß ein unzureichender Maßstab ist, um ein Spiel zu beurteilen. Die Frage sollte eben nicht sein, ob ein Spiel Spaß macht, sondern wie und warum. Werwolf lebt eben davon laut und leidenschaftlich über nichts zu streiten, wer dem nichts abgewinnen kann, der wird auch mit dem Spiel wenig Freude haben.

Georgios Panagiotidis

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