Was Spiele genau bieten und was sie besonders macht, darüber wird in manchen Kreisen viel und ausgiebig diskutiert. In seinem Buch „Games: Agency as Art“ fasst es Chi T. Nguyen mit dem Begriff „agency“ zusammen. Spiele sind ein Medium durch welches wir diese „agency“ erfahren können. Eine genaue Definition des Begriffs meidet er ausdrücklich, so dass man hier mit Annäherungen arbeiten muss. In Büchern etwa wird unsere Vorstellungskraft angeregt, um aus den gedruckten Worten lebhafte Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Filme bieten „Immersion“, wenn sie uns in Orte und Geschehnisse eintauchen lassen, die wir mit eigenen Augen und Ohren wahrnehmen. Spiele hingegen bieten uns den Rausch der Handlungsfähigkeit. Sie bieten uns ein Ziel und die Mittel dieses Ziel zu erreichen. Nach einer gewissen Lernphase sehen wir uns sogar in der Lage dieses Ziel oft und wiederholt anzupeilen.
Dem Begriff „agency“ kann man sich daher so annähern: es ist das Gefühl der Befähigung, welches es uns erlaubt einen selbst entwickelten Plan in die Tat umzusetzen lässt. Damit lässt sich eines der fundamentalen emotionalen Erlebnisse des Spielens umschreiben. Wir können die Möglichkeiten unseres eigenen Könnens entdecken, erforschen und auch beweisen. Das fühlt sich gut an.
Aber es ist auch der Grund, weshalb den Sieg zu holen so einen wichtigen emotionalen Teil des Spielerlebnisses darstellt. Dabei geht es nicht darum, dass der Sieg als solches von Bedeutung ist. Auch müssen wir dem Sieg keine weitere Bedeutung andichten, wie etwa Geldpreise oder Ansehen. Ein Spiel zu gewinnen ist der unumstößliche Beweis, dass wir die „agency“ innerhalb des Spiels tatsächlich besitzen. Wir waren nicht nur in der Lage unser Ziel (bzw. das Ziel des Spiels) zu erreichen, wir haben es durch den Sieg unwiderlegbar gezeigt.
Ein Spiel zu gewinnen ist keine Karotte, der wir nachrennen, um das Spiel zu spielen. Es ist ein schmeichelhafter Gedanke, dass man im Spiel die niederen Antriebe wie „Ehrgeiz“ und „Konkurrenzdenken“ nicht wirklich empfindet, sondern sie lediglich des Spiels wegen kurz darstellt. Reiner Knizia wird an dieser Stelle gerne zitiert: „When playing the game, the goal is to win. But it’s the goal that’s important, not the winning.“ Aber letztendlich fühlt sich kaum ein Spiel schlechter an, wenn man gewonnen hat. Eben weil ein Sieg den runden Abschluss des Spielerlebnis darstellt: man hat „agency“ erhalten und diese vollendet. Wie das Einfügen des letzten Puzzlestücks, oder der abschließende Band der langen Buchreihe. Sie sind nicht der Grund sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, aber sie sind die Punktlandung, die das Erlebnis abrundet.
Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die meisten modernen Brettspiele. Insbesondere die sogenannten Eurogames setzen ihren Schwerpunkt darauf Spieler*innen die Mittel in die Hand zu geben, um den Spielverlauf so weit es geht zu beeinflussen. Die Handlungsfähigkeit innerhalb des Spiels ist gleichbedeutend mit Einflussnahme. Und diese Einflussnahme füllt sich schnell wie Kontrolle an.
Entsprechend fällt es schwer, wenn dieses Gefühl der Kontrolle durch vermeintlich „fremde Einflüsse“ eingeschränkt, behindert oder verwässert wird. Diese Einflüsse können Würfel sein, das Ziehen von Karten eines Kartenstapels, den man nicht näher kennt oder einfach nur das unvorhersehbare Verhalten von Mitspieler*innen, die nicht nach einem klar erkennbaren Muster handeln.
Solche negativen, die eigene Kontrolle beeinträchtigenden Einflüsse, können aber auch schlicht die Handlungen anderer sein. Insbesondere wenn dadurch der eigene Fortschritt, die eigenen Errungenschaften nicht nur verlangsamt, sondern sogar ungeschehen gemacht werden. Ist man Einfluss und Kontrolle gewohnt, spricht man hier schnell von „fiesen“ Spielen mit „destruktiver Interaktion“. Eine Ausnahme wird dabei für „rationales“ Spielverhalten gemacht. Damit sind Entscheidungen gemeint, die ziel-orientiert und auf den eigenen Vorteil erpicht sind. Das gilt als angemessen und vertretbar. Aber wenn jemand am Tisch nicht den Spielsieg verfolgt, oder das Ranking zwischen den Spieler*innen zu den eigenen Gunsten verändern will, so gilt das als falsch und zumindest unpassend. Manche berufen sich hier sogar auf Huizingas „magischen Zirkel“, den man durch ein derartiges Verhalten bricht und damit das Spiel zerstört. (Um zu erklären warum diese Behauptung Blödsinn ist, bedarf es vermutlich einen eigenen Artikel.)
Dabei liefert Huizinga ein viel besseres Zitat, um das Wesen des Spiels und auch die Freude am Spielen zu umreißen: “To dare, to take risks, to bear uncertainty, to endure tension – these are the essence of the play spirit.” – (auf Deutsch etwa: Das Wesen des Spiels ist es etwas zu wagen, Risiken einzugehen, Unsicherheit und Spannung zu ertragen.) Mit anderen Worten: das Berauschende am Spielen findet sich nicht darin, dass wir Kontrolle über den Spielverlauf ausüben. Das Besondere des Spielens findet sich jenseits dieser Kontrolle wieder. Das Wesen des Spiels tritt erst in den Momenten zum Vorschein, wenn unsere Kontrolle nicht mehr garantiert ist. Dann werden Emotionen aus uns herausgelockt, die wir mit anderen teilen können.
Selbstwirksamkeit, Handlungsfähigkeit, Einflussnahme. Alles das bildet ganz ohne Zweifel das Fundament des Spielens. Ohne diese Dinge, haben wir es bestenfalls mit einem Buch oder einem Film zu tun. Erst durch den Gebrauch der Spielmechanismen und die Interaktion mit dem Spiel, entsteht eine Spielhandlung. Erst wenn wir in Aktion treten, nehmen wir am Spiel teil. Aber erst wenn wir damit an Grenzen stoßen, entsteht das Spielerlebnis. Erst wenn wir beim Versuch unsere Ziele zu erreichen Ungewissheit und Spannung leiden müssen, beginnt das Spiel. Dafür müssen wir aber gewillt sein Kontrolle aus der Hand zu geben.
Vielleicht sind das die Momente in denen unsere individuelle Persönlichkeit am Deutlichsten zu Tage tritt. Wenn das Spiel uns die Grenzen unserer Einflussnahme all zu deutlich vor Augen führt, wissen wir den sicheren Raum des Spielens besonders zu schätzen. Wir dürfen Spannung und Unsicherheit am ganzen Körper ertragen. Wir können Erfolge aber gerade auch Rückschläge so innig erfahren, wie wir es uns abseits des Spieltisches nur selten erlauben dürfen. Bücher, Filme, Musik, Sport, usw… alles das sind Beschäftigungen, die es uns erlauben Emotionen zu erleben und sie manchmal auch mit anderen auszuleben. Das gilt auch für Spiele. Das einzige was es dafür braucht, man muss dem eigenen Kontrollbedürfnis Grenzen setzen.
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