Nächstes Jahr wird Catan 30 Jahre alt. Über das Spiel ist schon viel geschrieben wurden, aber was mir in den letzten Jahren immer wieder auffällt, sind geäußerte Vorwürfe Catan würde kolonialistische Themen verwenden oder verbreiten, vielleicht sogar glorifizieren. Ich möchte mich im folgenden einmal mit diesen Vorwürfen befassen: Was ist da dran, wo kommen sie her und was folgt daraus? Das wird wohl ein etwas längerer Post, also Anschnallen bitte!
Kolonialismus in Eurogames
Beginnen wir einmal abseits von Catan. Viele Eurogames aus derselben Generation wie Catan – und auch aus den nachfolgenden Jahren – benutzten Kolonialismus implizit oder explizit als Thema. „Das Zeitalter der Entdeckungen“ spielt als Setting in viele Stärken von Eurogames: Es geht um Rohstoffe, es geht um Entdeckungen, man baut Handelsposten, man erweitert seinen Einfluss… Das findet auf einer ähnlich abstrahierten Ebene statt, wie Co-Sims die das individuelle Leid vor Ort ausklammern und aus einem Feldzug eine abstrakte Logistikaufgabe machen. Das klingt jetzt tatsächlich verwerflicher als es ist – Menschen können i.A. schon verschiedene Narrativen und Realitätsebenen unterscheiden. Niemand hat bislang Warner Brothers verklagt, weil Wiley E. Coyotes Eskapaden Tierquälerei verharmlosen würden.

Das Problem fängt da an, wo ein Spiel explizit oder implizit den Kolonialismus glorifiziert. Wird ein Setting als besonders erlebenswert dargestellt – was ja schon dadurch passiert, dass das Setting verwendet wurde, um in „Spielwelten abzutauchen“ – dann ist das eben erst einmal bereits eine Glorifizierung. Das gilt insbesondere natürlich dann, wenn das Spiel auf konkrete Orte oder Geschehnisse Bezug nimmt. Diese narrativen Anker dienen ja gerade als Anknüpfungspunkt, um die eigenen Handlungen narrativ zu deuten. Der Kolonialismus muss dann gar nicht erst explizit werden: Ein Spiel wie Mombasa, dass in einer ehemaligen Kolonie spielt, kann man nicht damit verteidigen, dass die Ureinwohner:innen nicht explizit vorkommen. Die Narrative, die konstruiert wird, wird durch Thema und Graphik klar in die geschichtliche Realität versetzt, nicht in das Paralleluniversum, in dem dort einfach keine Leute lebten. Daher greifen Versuche wie bei Santa Maria oder East India Company, Kolonialismus- Vorwürfen zuvor zu kommen zu kurz: Man kann den Spielenden nicht erklären, man würde eine „liebe Version“ des Kolonialismus nachspielen; Abgesehen davon, dass Kolonialismus nun einmal immer Ausbeutung beinhaltet (siehe nächster Absatz), ist es schlicht absurd ein Setting zu wählen, und dann aber den Spielenden vorzuschreiben, dass sie es selektiv auf ihre Spielnarrative anwenden sollen. Die Narrative entsteht am Spieltisch, durch die Handelnden. Und das Setting spielt da eine ganz große Rolle.

Warum Kolonialismus ein Problem sein kann, habe ich schon mehrfach ausführlich beschrieben (z.B. hier), aber kurz zusammengefasst: Kolonialismus funktioniert nur mit der expliziten Annahme, dass manche Völker/Länder/Nationen besser sind als andere. Aufgrund dieser völkerfeindlichen Prämisse wird dann das Recht abgeleitet, diese anderen Länder auszubeuten, Menschenrechte gelten für die anderen nicht. Diese Denkweise hat viel Leid erzeugt und tut es noch heute direkt wie indirekt. Die Nachwirkungen der Phase des großen Kolonialismus sind bis heute zu spüren. Wer dem betriebsblind gegenübersteht verstärkt eben jene Philosophie, die das Leid damals erzeugt hat und kann so bei Betroffenen wieder Leid erzeugen. Deswegen ist bei kolonialistischen Inhalten absolutes Fingerspitzengefühl gefragt.
Weniger direkt auf geschichtliche Ereignisse bezogen steht zudem auch die Philosophie des Ausbeutens an sich im Raum. Statt Ressourcen einem System zu entziehen oder ein Ökosystem zu zerstören sollte man in heutigen Zeiten versuchen nachhaltiger zu arbeiten. Das ganze Wesen des Kolonialismus steht dem entgegen.
Implizierter Kolonialismus:
Nun könnte man natürlich denken, das Problem lässt sich bequem umgehen, wenn das Setting einfach in nicht reale Orte verlegt wird; Die Narrative wird nicht so schnell in entsprechende Bahnen gelenkt, Spielhandlungen können anders interpretiert werden und es entfällt der ganze Ballast der historischen Assoziationen.
Allerdings ist dies kein kompletter Schutz. Im Fantasybereich wird seit einigen Jahren diskutiert, ob das Besetzen von „Typischen Eigenschaften“ für fiktive Völker (etwa Orcs) nicht einem rassistisches Denkschema entspringt. Ebenso lässt sich fragen, ob ein positiv dargestelltes Volk, dass sich kolonialistisch verhält, nicht eine versteckte (oder gar offene) prokolonialistische Propaganda darstellt.
Sicherlich sind keine reelle Personen von diesen Geschichten betroffen, anders als bei „echten“ historischen Personen – das dürfte auch der Grund sein, warum Twilight Imperium selten im Fokus von Diskussionen bezüglich kolonialistischen Inhalten steht (obwohl man da als Imperium andere Planeten besetzt) – aber spielerische Handlungen, die entsprechend interpretiert werden, könnten schon negative Assoziationen beinhalten. Ich kann nicht auflösen, ob und unter welchen Umständen das ein Problem darstellt, aber spielerische Handlungen die sich als „implizierten Kolonialismus“ beschreiben ließen kann ich schon benennen: In Besitznahme von neuen Gebieten und das Entfernen von Rohstoffen, insbesondere wenn diese zum Teil aus den Gebieten, aus denen sie stammen, aus diesen entfernt werden. Der ganze Gedanke eines „4x“ – Systems (explore, exploit, expand, exterminate – entdecken, ausnutzen, vergrößern, vernichten)) basiert auf kolonialistischen Ideen – insbesondere natürlich „expand, exploit und exterminate“. Spielhistorisch ist dies nicht überraschend, stammt der Begriff doch aus dem Computerspielbereich und wurde von Beginn an auf Spiele angewandt, in denen man ein Imperium aufbaut und andere Länder/Planeten kolonisalisiert (Civilization, Masters of Orion). Je expliziter diese Themen mit einer Spielhandlung und einer spielerischen Narrative verknüpft sind, desto problematischer sind diese. Werden etwa Barbaren oder gar Ureinwohner:innen als Hindernisse dargestellt, die man zum expandieren beiseite räumen muss, ist dies zumeist problematischer als ein Planet, in Besitz zu nehmen, über den man nichts weiter weiss, als die Farbe auf dem Spielplan.
Catans Setting und Catans Narrative
Bei der ersten Ausgabe von Siedler wurde das Setting explizit „im Zeitalter der Entdeckungen“ verortet, also dem Zeitalter der Europäischen Expansion. Über Catan wurden keine weitere Angaben gemacht, außer dass es eine „neue Insel“ sei. Ob bewohnt oder unbewohnt bliebt offen.


Spätere Erweiterungen und Spin offs (die historischen Szenarien und ähnliches außen vor gelassen) sind nicht ganz konsistent in ihrer historischen Einordnung: Es gibt Ritter in Catan und sehr an mittelalterliche, mitteleuropäische angelegte Städte. Es gab aber auch Drachen und Magie, was Catan komplett in den Fantasy-Bereich verorten würde. Das Boot auf dem Cover von der Seefahrererweiterung ist dagegen ein Langboot, wie es von den Wikingern verwendet wurde. Tatsächlich geht die spätere „Sekundärliteratur“ immer weiter in die Wikingerrichtung: Candamir und Elasund – die erste Siedlung waren explizit in diesem Setting verortet und Teuber hat später immer wieder betont, dass er selbst immer an die Fahrten der Wikinger gedacht hat, als er das Spiel entwickelte. Entsprechend erzählen auch die Romane von reisenden Wikingern.
Folgt man diesem Setting und nicht dem „Zeitalter der Entdeckungen“, von dem auf der Schachtelrückseite des Grundspieles (und wenn ich nicht irre auch nur dort) die Rede ist, dann spielt Catan vor dem Kolonialismus. Es bleibt die Frage, in wieweit diese zusätzlichen Informationen in der Lage sind, Catans Setting gewissermaßen retroaktiv zu setzen. Da die Narrative durch die Spielgruppen bestimmt wird, dürfte das bei großen Catan-Fans durchaus unbewusst passiert sein. Graphiken und Texte setzen den Ton, an dem sich die meisten Gruppen orientieren.
Zumindest so lange die spielerischen Elemente dem nicht im Weg stehen. Hier werden zwar dem Land Rohstoffe entnommen, aber diese werden fast ausschließlich zum Bauen der Siedlungen verwendet. Für verschiffte Rohstoffe bekommt man etwas zurück. Es gibt keinen sichtbaren Konflikt im Spiel, es gibt genau genommen nicht einmal richtigen Besitz: Die Kornfelder und Schafherden gehören allen, die in der Nähe wohnen. Von „exterminate“ ist nicht viel zu spüren.
Das einzige Konfliktelement ist der Räuber. Hier haben wir eine Figur, die durchaus als „Ureinwohner:in“ interpretiert werden könnte. Für die meisten Spielegruppen, sorgt hier die Namensgebung aber für die Konnotation: „Das ist jemand von uns, aber ein kriminelles Element“. Zumindest sofern diese Figur überhaupt narrativ irgendwie eingeordnet wurde. Diese Interpretation ist auch diejenige, die von Rebecca Gablés Roman Die Siedler von Catan geteilt wird. Wobei dessen Bedeutung jetzt ungefähr der Stufe der Bedeutung von Marvel Comics für das MCU entsprechen dürfte.
Soweit die Europäische Perspektive.
Frontier Myth, Terra nullius und Interpretation von „Nullinformationen“
In einem der wichtigeren Texte über den Kolonialismus in Catan beschreibt Greg Lorent-Albrecht seine ambivalenten Gefühle dem Spiel gegenüber. Diese beruhen bei ihm (und bei anderen) vor allem auf den nicht erklärten Elementen: Wer arbeitet eigentlich im Steinbruch? Wer baut die Wege? Und auch hier ist die Frage des Räubers offen. Viel schwerer wiegt aber die Frage:

Gibt es auf Catan Ureinwohner:innen, die durch uns offenkundig vertrieben werden (denn die Siedlungen und Städte sind ja für die „Siedler von Catan“)?
Das mag auf den ersten Blick absurd erscheinen – wie kann eine fehlende Information eine negative Interpretation begünstigen? – aber die Interpretation von Catan bewegt sich eben nicht in einem Vakuum, sondern basiert auf kulturellen Erfahrungen und Erwartungen. Wer aus einem Land kommt, das sehr aktiv im Kolonialismus war oder sogar aus ehemaligen Kolonie hat eben andere Erfahrungen und reagiert entsprechend auf kolonialistische Inhalte. In Deutschland sind die Kolonien weniger präsent (aus diversen Gründen) und entsprechend sind entsprechende Interpretationen seltener. So ist gerade im englischsprachigen Raum – je nach dem auf welcher Seite des Atlantiks – der sogenannte Frontier Myth (USA) bzw die Idee des „Terra Nullius“ bekannt. Darunter ist die Idee, dass die Ureinwohner:innen nicht zu den Menschen zählen, das Land, in dem diese leben, also eben so unbewohnt ist, als würden da ausschließlich Tiere wohnen. Oder so formuliert, wie es damals formuliert wurde: Da leben nur mindere Menschen, also ist das Land faktisch leer.
Dieser Interpretation wurde durch die ursprüngliche amerikanische Ausgabe Vorschub geleistet, die sich graphisch sehr explizit an die ersten britischen Siedler in den späteren USA orientierte. Catan lag da irgendwo vor der Nordamerikanischen Ostküste. Damit wurde Catan sehr viel klarer in unsere Welt und deren Geschichte eingeordnet- so wie es Mombasa später tat.
Context is king
Ich kann nicht belegen, ob und in wie weit die kolonialistische Interpretation im englischen Sprachraum auf diese graphische Richtung zurückzuführen ist, oder ob Greg Lorent-Albrechts Perspektive näher liegt, als mir bewusst ist. Persönlich war für mich Catan immer eine tatsächlich unbewohnte Insel im Atlantik – etwa auf den Azoren. Es spielt aber auch keine Rolle, was ich denke, denn jede Gruppe konstruiert ihr eigenes Setting, ihre eigene Narrative. Sie lässt sich dabei von den graphischen und textlichen und spielerischen Elementen beeinflussen, doch ebenso auch vom kulturellen und persönlichem Umfeld. Catan ist kein so klarer Fall kolonialistischer Propaganda, dass es keine andere Lesart zulassen würde. Es ist aber auch nicht so abstrakt, dass diese kritische Lesart komplett abzulehnen würde. Catans Historie mag unklar und wiedersprüchlich sein – sie ist klarer in „unserer Welt“ verortet als die Sternenimperien in Twilight Imperium. Ein guter Diskurs sollte sich den anderen

Perspektiven und der allgemeinen Unschärfe bewusst sein. Dass über Catan überhaupt so viel geschrieben wird -auch jetzt gerade von mir – ist aber natürlich auch dem Status des Spieles zu verdanken. Zum einen weil es eben viel häufiger gespielt (und damit interpretiert) wird, zum anderen weil sich so mancher gerne am erfolgreichsten Spiel der letzten Jahrzehnte abarbeiten möchte.
Die japanische Perspektive
Zum Abschluss noch einmal das Cover der japanischen Ausgabe. Hier wurde Catan klar in den Fantasybereich von Spielen wie Zelda verlegt. Ich kenne die japanische Szene nicht gut genug, um zu wissen, ob die kolonialistische Perspektive da so viel diskutiert wird, wie hierzulande. Aufgrund der graphischen Prägung, würde ich aber vermuten, dass dies nicht so ist.

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