In der Geschichte der Menschheit standen sich schon immer kooperative und kompetitive Spiele gegenüber.
Freies Spielen ist per Definition kooperativ: Man spielt zusammen, um Spaß zu haben. Erst wenn das Spiel zum Wettbewerb wird, bedarf es eines Regelwerks, oder zumindest einer Siegbedingung. Dass diese Bedingung nicht immer ausgeschrieben wird, macht die beiden Formen untereinander durchlässig – Ich habe deine Sandburg zertreten, weil du nach meinen Regeln die schönere und damit gewonnen hättest, ich aber durch das Zertreten doch gewinne – Ätsch.
Davon unabhängig zieht sich das Fehlen einer Siegbedingung bei kooperativen Spielen durch die Geschichte; kooperative traditionelle Regelspiele wie das Fadenspiel, diverse Sing- und Klatschspiele oder Seilspringspiele zeichnen sich dadurch aus, dass es keine Siegbedingung gibt, sondern lediglich eine Endebedingung – irgendwann scheitert man an der Aufgabe oder hört freiwillig auf, weil man beliebig lange weiterspielen könnte oder das Lied/Reim ist beendet, was jetzt auch keinen Sieg darstellt. Prinzipiell sind Trainingsaufgaben genauso aufgebaut: Ich spiele Tennis gegen die Wand, wir versuchen einen Ball durch Pritschen so lange wie möglich in der Luft zu halten usw. Bei diesen Spielen ist Kooperation also ein Zweck, um möglichst lange zu spielen, vielleicht sogar eine selbstgestellte Aufgabe zu schaffen – aber es ist nicht der Zweck das Spiel zu „gewinnen“, zumindest nicht in der engeren Bedeutung des Wortes. Kooperation zum Zweck des Gewinnens war lange Zeit Team- und Partnerspielen vorbehalten (bei letzteren finden sich – etwa bei Bridge oder Doppelkopf – auch schon die Ansätze der eingeschränkten Kooperation, die bei vielen modernen Koops mittlerweile usus sind). Selbst bei den in den 70er Jahre aufkommenden Rollenspielen handelt es sich um Spiele ohne Gewinner. Sogenannte „Zielorientierte Spiele“ (also Spiele, die ein Spielziel vorgeben und den Spielenden die Möglichkeiten geben, dieses durch Spielhandlungen zu erreichen und somit zu gewinnen) waren nach wie vor kompetitiven Spielen vorbehalten. Ich würde aber sogar argumentieren, dass Kooperative Spiele sich fast ausschließlich damit zufriedengaben nicht zu verlieren – wirklich ein Ziel zu erreichen, dass auf verschiedene Art und Weisen erreicht werden kann war lange nichtexistent.
1977 brachte Herder Spiele Wundergarten heraus, ein Spiel das unter dem Motto stand „Miteinander-Spiel“. Der Gedanke, ein Regelspiel, ja ein zielorientiertes Spiel, ohne einzelnen Gewinner herauszubringen war durchaus eine kleine Sensation, vergleichbar mit den ersten Rollenspielen. Auch heute noch höre ich manchmal von Nichtspielenden „Kooperativ? Wer gewinnt denn dann? Wie soll das den gehen?“ (gerade letzten Monat wieder, der Ausgangspunkt für diesen Blogeintrag). Dabei stehen gerade die ersten Herder Spiele sehr in der Tradition der oben beschriebenen Endlosspiele: Es gab bei den meisten eine vorzeitige Endebedingung, das Spielziel war entsprechend, diese so lange zu vermeiden, bis eine Aufgabe erfüllt war. Wirklich unterschiedliche Wege, dies zu erreichen gab es oft nicht, zumal waren diese Spiele vor allem sehr zufällig. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint mir auch, dass es explizit nicht das Ziel war, neue Spieleerlebnisse zu ermöglichen, sondern lediglich auf ein/e Gewinner:in zu verzichten, um keine Kinder – die Zielgruppe der Spiele – zu frustrieren.
Da war Sid Sackson in seinem ebenfalls 1977 erschienen Buch Denkspielen: Miteinander gewinnen trotz des Titels noch weiter: In seinem Vorwort schreibt er, dass er das „Gefühl hat, man müsse den Wettbeweb durch Hindernisse ersetzen, die es gemeinsam zu überwinden gilt“. Kooperation sollte also nicht dem „Gewinnen“ dienen, sondern dem Lösen einer Aufgabe, die mehr sein sollte, als nur das Vermeiden des Scheiterns. Die Titel der Spiele „SOS“ oder „Friedensmission“ zielten ebenfalls in diese Kerbe. Leider handelt es sich bei den Spielen um sehr zufällige (und trotz deren Titel abstrakte) Aufgaben, bei denen die Spielenden nacheinander einen Zug ausführen, der dann aber eher durch Zufall denn durch Kooperation bestimmt wird und bei dem es zudem oft keine nennenswerten Entscheidungsmöglichkeiten gab.
1985 gewann mit Sherlock Holmes Criminal Cabinet erstmals ein rein kooperatives Spiel den Titel Spiel des Jahres (Scotland Yard hat natürlich als „Einer gegen alle“ auch starke kooperative Elemente, aber mir geht es hier um „reine“ Koops). Interessant ist, dass dies auch so ziemlich das einzige reine Erwachsenen-Koop in den 80er Jahre waren. Waren die Herder Spiele in den Siebziger Jahren mit den eher
antiautoritäter aufgestellten Kinderläden noch Kinder der Zeit, kam Sherlock Holmes praktisch aus dem nichts. Bei anderen zeitgenössischen Krimispielen wie Tatort Nachtexpress, Die Peking-Akte oder natürlich Cluedo löste man Krimifälle noch gegeneinander. Ein Genre, das mittlerweile nur noch sporadisch Spiele hervorbringt. Doch Sherlock Holmes war ein Sonderfall: Der ganze textliche Aufbau ohne klassisches Spielbrett, ja das ganze Spielsystem, das heute bei Escape- und Krimispielen normal ist, gab es damals außerhalb von Krimibüchern nicht. Es sollte sehr lange ein Einzelfall bleiben. Spielmechanisch muss man aber auch anmerken: Rein technisch ist Sherlock Holmes eher den Rätseln denn den Spielen zuzuordnen, da hier ja die Lösung und der Weg dorthin eben nicht flexibel sondern festgelegt und damit fix sind. Rein Taxonomisch, würde ich eher von Rätselspielen denn Brettspielen sprechen. Das ist explizit nicht abwertend gemeint, aber in der Suche nach modernen Koops ist es eben ein Nebenast, eine Kategorie für sich.
Der nächste Meilenstein auf dem Weg war natürlich Reiner Knizias Der Herr der Ringe. Dies war das erste prominentere reine Koop für Erwachsene. Zwar könnte man auch hier argumentieren, dass Der Herr der Ringe auch ein Spiel mit Verlustbedingung ist, die man vermeiden muss, aber die Unterschiede sind doch enorm: Nicht nur muss am Ende noch eine letzte Aufgabe bewältigt werden (das Spiel ist also nicht einfach zu Ende), der Weg zum Ziel ist deutlich variabler und belohnt vor allem auch tatsächlich Taktik und Kooperation. Dies gilt umso mehr, wenn man Erweiterungen wie Die Feinde hinzunimmt, bei der es sogar eine alternative Möglichkeit gibt, das Spiel gemeinsam zu gewinnen. Doch auch Der Herr der Ringe blieb erst einmal weitestgehend allein, Spieleschaffende mussten sich anscheinend erst einmal mit dem neuen Genre anfreunden; Der Trend ging eher gen „Semi-kooperativ“, vor allem in Richtung Spielen mit Verrätern, inspieriert durch Schatten über Camelot.
Erst 2008 kam der große Durchbruch für kooperative Spiele dank Ghost Stories (jetzt Last Bastion) und natürlich Pandemie. Beide Spiele nahmen klassische Spielprinzipien – Kampf und Euro – und machten sie kooperativ. Die Spielestruktur entspricht jetzt endgültigen der normalen Brettspielstruktur, nur eben spielt man gemeinsam. Im Nachhinein fällt aber auch auf: Ghost Stories ersetzt eigentlich einen menschlichen Gegenspieler durch einen „virtuellen“, den man gemeinsam besiegt. Sid Sacksons Idee vom „Gemeinsamen Lösen einer Aufgabe“ wird eher durch Pandemie umgesetzt, das auch thematisch zum Thema des Buches gepasst hätte. Das Bild des kooperativen Spieles, bei dem man „gegen das Spiel spielt“ passt daher nicht so recht zu Pandemie, bei diesem Bild ist der Schatten von Ghost Stories und Herr der Ringe länger. Und viele Spiele Post-Pandemie bieten einen konkreten Gegner zum besiegen an: Seien es die Monster bei Gloomhaven, seien es virtuelle Bots so mancher „koop-Variante“ bei Kickstarterspielen. Diese Spiele sind eine Art Teamspiel, nur dass ein Team eben durch einen Algorythmus gesteuert wird.
Seit den Zehnerjahren ist das Feld der kooperativen Spiele genauso unüberschaubar geworden, wie das anderer Genres auch. Kooperative Spiele sind etabliert. Das liegt auch daran, dass sie insbesondere als Format für Rätselspiele, für Legacy Spiele und für Spiele mit starker Narrative besonders geeignet sind. Auch im Bereich der Kommunikativen Spiele (auch „Partyspiele“) sind sie mittlerweile etabliert. Letzteres liegt daran, dass im Zuge der „Quarterbacking“-Diskussion Wege gefunden werden sollten, dieses Verhalten einzuschränken. Mittlerweile haben mehr Spielgruppen den Umgang mit kooperativen Spielen erlernt, so dass Gegenmaßnahmen nicht mehr so nötig sind, aber diese Kommunikationseinschränlungen haben zu Herausforderungen geführt, die denen in klassischen Partyspielen nicht unähnlich sind. Zudem sind Partyspiele oft ohnehin Spiele, bei denen das Gewinnen nicht im Vordergrund steht, sondern die Herausforderung. Ganz so wie bei kooperativen Spielen.
Eine andere Herangehensweise um Quarterbacking zu vermeiden wurde in Spirit Island eingeführt: Man spielt weitestgehend parallel zueinander, aber benötigt gelegentliche Kooperation, um bestimmte Züge durchzuführen. Spirit Island erweitert so die starre Struktur herkömmlicher kooperativer Spiele um eine sehr viel freiere Form der Kooperation. Statt „nur“ zusammen zu planen und sich gelegentlich eine Karte zu schenken, arbeitet man hier tatsächlich von verschiedenen Seiten und Perspektiven simultan an einer gemeinschaftlichen Aufgabe. Diese Form entspricht der außerspielischen Kooperation am direktesten. Meiner Meinung nach ist Spirit Island daher ein weiterer Meilensteil in der Entwicklungsgeschichte der Kooperativen Spiele. Das aktuelle e-Mission arbeitet ebenfalls mit diesem Prinzip. Dabei kombiniert e-Mission das Spirit Island Prinzip noch mit der Pandemie-Idee des gegnerlosen Spieles, in dem Sinne, dass das Spiel, eine Aufgabe, statt eines Wettstreites bietet (Wobei man natürlich auch sagen könnte, dass die Gegner bei Spirit Island auch nur „Aufgaben“ sind, die halt als Menschen dargestellt werden. Aber die Anthromorphisierung des Gegners bei Spirit Island soll ja gerade den klassischen Wettkampf simulieren, den es in e-Mission eben nicht gibt).
Hanabi hat nicht nur die kommunikationslosen Koops initiiert, sondern war auch eines der ersten (wenn nicht das erste) Spiele, bei dem man statt immer zu verlieren (wie bei den klassischen Kooperativen Spielen, bei denen man früher oder später scheiterte), immer gewann – nur halt unterschiedlich gut. Anders ausgedrückt: Die gute alte Highscoretabelle wurde auf kooperative Spiele übertragen – in diesen Spielen ist es besonders deutlich, dass man nicht „gegen das Spiel spielt“, sondern eben gemeinsam eine Aufgabe löst. Begriffe wie „Gewinnen“ und „Verlieren“ sind bei diesen Spielen prinzipiell bedeutungslos.
Fazit: Trotz ihrer langen Geschichte sind Kooperative Spiele, nach dem im Brettspielbereich verwendeten Sinne, im Prinzip eine ganz neue Entwicklung. Dabei gab es zwei Paradigmenwechsel: Zum einen hin vom „nicht scheitern“ zu „gemeinsam gewinnen“ und dann von „Gewinnen gegen das Spiel“ zum „Löse eine Aufgabe gemeinsam“. Letzteres verbindet das Gemeinsame des freien Spieles mit der Struktur des Regelspieles und nicht selten den Überraschungen eines Rätselspieles. Moderne Kooperative Spiele haben deshalb ein eigenes Spielgefühl, weil sie nach einer langen Reise eine Alternative zum Wettkampf in einem Regelspiel gefunden haben, die mehr bietet als „nicht zu verlieren“. Anders ausgedrückt: Kooperative Spiele haben sich als eine eigene Spielegattung etabliert.
Das sich kooperative Spiele etabliert haben, erkennt man auch daran, dass sich ein ganzer Strauß neuer rein kooperativer Spielarten etabliert hat – Mit und ohne Kommunikationseinschränkungen, mit oder ohne Punktewertung statt klassischem binären Spielziel, mit konkretem „Gegenspieler“ oder zu lösender Aufgabe, mit linearer (d.h. nacheinander durchgeführter) oder gleichzeitiger Kooperation… Wo der Schritt vom Gewinnen zur Aufgabenbewältigung vollzogen ist, da fällt es auch leicht andere, klassische Strukturen hinter sich zu lassen. Zum Teil geschieht dies schon – Als Beispiel sei[Kosmopoli:t] genannt, in der die Aufgabenstellung verschiedene Rollen mit verschiedenen Aufgaben und Kooperationsmöglichkeiten vorsieht, die von ihrer Struktur her anders aufgebaut sind, als andere Spiele. Mich würde auch nicht überraschen, wenn Einmalspiele -oder ihrer Neffen, die Legacyspiele – aus den bislang üblichen Rätselspielen ausbrechen und Szenarien vorstellen, die statt Rätseln bestimmte Strategien und eben Kooperationen unter den Spielenden erforden, um gelöst zu werden. Im Teambuilding/Jugendgruppenbereich gibt es so etwas schon länger (Das Spiel Hochspannung, habe ich in meinem Buch Jam Dudel vorgestellt), die Übertragung auf den Brettspielbereich erscheint mir logisch. Der Unterschied ist der, dass diese Spiele keine feste Lösung haben, wobei aber eine einmal gefundene Lösung immer wieder verwendet werden könnte. Wie diese Lösung aussieht, ist von der Fantasie der Spielenden abhängig. Die Kooperation verlässt dann endgültig ihr Regelkorsett.
ciao
peer
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