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City of Angels

Verlag: Pegasus /Van Ryder Games
Autor: Evan Derrick
Spielerzahl: 1-5
Alter: ab 14 Jahren
Spieldauer: 30-150 Minuten, je nach Mitspielendenzahl und gewählter Variante

Ich wache in meinem Bürosessel auf, das einzige Möbelstück in meinem Büro, dass noch funktioniert. Mein Mund fühlt sich an, als hätte ich gestern Nacht einen Aschenbecher verspeist und in meinem Schädel spielte das dritte Symphonieorchester irgendetwas mit vielen Trommeln. Ich versuche noch zu entscheiden, ob mich der Hund von gestern gleich wieder beißen solle und womit, als mein müder Blick auf SIE fällt und ich weiß: Das gibt Stunk! Diese Rezension hättest du schon letztes Jahr fertig haben sollen!

Äh tja. Meine Ausrede: Nicht nur erschien City of Angels mitten während eines Lockdowns, bei der ich meine Spielrunde gar nicht sah, es kommt auch mit einer recht hohen Anzahl auf möglichen Spielarten, die ausprobiert werden wollen. Da verschiebt sich dann auch einmal einiges. Aber vielleicht ging es anderen ja ähnlich und freuen sich jetzt über die Erinnerung dass es dieses Spiel auch noch gibt.

City of Angels gehört zu den Krimispielen, wobei das Geschehen erfrischenderweise weder im viktorianisches Zeitalter von Sherlocks Holmes noch in der Gegenwart angesiedelt ist, sondern in der Pulp-Ära der 40er Jahre. Von Crime Noir will ich hier nicht sprechen (die Ermittelnden sind nicht in einem Strudel der Depression o.ä. gefangen), Hardboiled trifft es schon eher, auch wenn die Action (fast) ausschließlich im Rückblick geschieht – während des Falles rekonstruiert man bereits geschehenes, die Verdächtigen handeln freundlicherweise nicht, während man Tagelang in L.A. umherreist und Indizien sucht. Stattdessen bleiben sie an Ort und Stelle und warten darauf, dass man sie befragt.

Das ist auch gut so, denn das Befragen ist das Kerngeschäft der Ermittelnden (man kann auch Orte und Verdächtige Durchsuchen, aber das ist bald abgehakt): Alle Verdächtigen können zu allen anderen Verdächtigen und zu jedem gefundenem Gegenstand, zur Leiche und auch zu einigen „Enthüllungen“ befragt werden. Dazu besucht man nur die entsprechende Person und fragt nach etwas – man stellt also keine gezielte Frage z.B. nach der Beziehung des Opfers, sondern deutet eher vage auf die Leiche und hebt fragend die Augenbrauen. Entsprechend sind die Antworten nicht immer das, was man erwartet. Das entscheidende ist aber etwas anderes: In anderen Krimispielen gibt es das ungeschriebene Gesetz, dass allerhöchstens der Täter lügt und alle anderen zumindest die Wahrheit sagen, wenn sie sich nicht sowieso gleich ganz kooperativ zeigen. Und selbst eine Täterin bei Sherlock etwa, wird eher einer Frage ausweichen, als zu lügen. Das heißt, dass sich die Spielenden auf die Informationen, die sie erhalten, verlassen können und aus diesen ihre Schlüsse ziehen (wobei das Prinzip vorherrscht, dass diese Informationen unvollständig sind, z.B. weil bei Sherlock vermeidlich unwichtige Informationen abgeworfen werden).

Das ist hier nun nicht der Fall.

Eine Person spielt in der Stadt der Engel nämlich eine Sonderrolle (der „Stichel“): Diese Person ist gewissermaßen der Spielleiter, gewinnt aber, wenn alle anderen verlieren. Sie steuert die Informationen, die bei Interviews fließen: Für die meisten Fragen gibt es nämlich eine Auswahl an Antworten, von denen eine die hilfreiche ist (also am ehesten weiterhilft und niemanden bewusst aufs Glatteis führt). Was nicht heißt, dass diese Topantwort auch tatsächlich garantiert weiterhilft – nicht alle Charaktere im Spiel wissen über alles Bescheid. Es kommt durchaus vor, dass die hilfreichste Antwort ist „Kenne ich nicht, wer ist das?“. Meistens ist sie das jedoch nicht und wer fragt kann an dieser Stelle nachhaken, also „Druck ausüben“  (siehe „Hardboiled“ oben). Gibt es tatsächlich eine bessere Antwort, so muss diese jetzt gegeben werden UND in einer zukünftigen Befragung kann die Ermittlerin nun einmalig von Anfang an auf die Topantwort bestehen.

Wurde aber zu Unrecht Druck ausgeübt, darf einmalig eine Antwort komplett verweigert werden, was vor allem Zeit kostet (die Frage darf erst in einem zukünftigen Zug wiederholt werden).

Dieser Mechanismus ist recht interessant, weil die Ermittelnden so vor dem Dilemma stehen, nicht alles hinterfragen zu können, sie wissen nie ganz sicher, ob sie wirklich alle relevanten Informationen gesammelt haben oder gerade auf einen irrweg gechickt wurden, Und gerade wenn bereits ein paarmal falsch Druck ausgeübt wurde, steigt die Hemmschwelle mehr und mehr an und die Ermittelnden werden unsicherer. Gleichzeitig gibt diese Methode der Stichlerin die Möglichkeit clever zu spielen: Welche Informationen wann herausgegeben werden können, wann man es riskiert zu lügen und wann man ggf. eine Antwort verweigert -was auch zu Bluffzwecken geschehen kann – sind Fragen mit nicht-trivialen Antworten. Das bedeutet aber auch, dass man nicht einfach nur Gegenspieler ist, sondern eine ganz andere Rolle einnimmt, die sich auch gänzlich anders spielt, als der Rest am Tisch. Eher taktisch als deduzierend, ein bisschen wie Mr. X in Scotland Yard, während der Rest Sherlock Holmes Criminal Cabinet spielt. . Ich finde diese starke Asymmetrie sehr interessant (und auch organisch im Spiel eingegliedert), aber irgendjemand muss sich in dieser Rolle auch wohlfühlen. Zwar lässt sich diese Rolle zur Not zwar auch „automatisieren“, aber der Automaton ist natürlich etwas bedienaufwendig und vor allem als reiner Mechanismus weniger befriedigend als ein realer Gegenspieler, der die Gruppe liest.

Dieser ganze Mechanismus mit dem Befragen und dem Druck ist schon etwas besonderes – gerade weil es die Unsicherheiten in der Informationslage so hervorhebt. Die Ermittelnden müssen nicht nur den Fall lösen, sie müssen dazu auch versuchen, Wiedersprüche zwischen den verschiedenen Aussagen zu entdecken und zu erkennen, was nicht erwähnt wurde. Je schwieriger der Fall, desto kniffliger ist dies. Dies sorgt auch durchaus für eine gewisse zeitlicjhe Struktur des Falles: Zu Beginn tippen die Ermittelnden deutlich ehr im Dunkeln; Nicht nur wissen sie nicht, was passiert ist, sie können auch noch nicht wirklich abschätzen, welche Aussage ehrlich und welche Aussage Unsinn ist: Es gab ja noch nicht genügend Aussagen, um sich in Wiedersprüche zu verwickeln. Dabei gibt es glücklicherweise keine wirklichen Sackgassen – Mit genügend Arbeit stoßen die Spielenden schon auf die relevanten Informationen. Nur halt eventuell etwas zu spät, um den Fall noch bis Feierabend abschließen zu können. So gibt es grundsätzlicvh das Gefühl einer Progression, wenn auch vielleicht nicht so schnell, wie man es möchte.

Der Zeitfaktor ist dabei nicht unwichtig: Der Fall muss nach einer bestimmten Rundenanzahl abgeschlossen sein, sonst gewinnt der Stichler (das kann auch der Algorithmus sein). Aber je nach eigenem Geschmack, kann es auch noch mehr Gegenspielerinnen geben: City of Angels ist sehr personalisierbar: Es lässt voll kompetitiv spielen, so dass alle Ermittler Feinde sind und nur die schnellste Person gewinnt. Der Stichler kann alleine gegen ein Ermittlerteam spielen, dass kooperativ arbeitet. Oder nur aus einem Ermittler besteht, der von allen gemeinsam gesteuert wird. Oder man benutzt den Automaton und spielt komplett zusammen oder alleine gegen den „Computer“. Das bedeutet natürlich, dass man in jedem Fall eine Menge Material aus der Schachtel nicht nutzen wird – aber ganz ehrlich: Es sind 9 Fälle in der Schachtel, neun Sherlock-Fälle kosten etwa ebenso viel, da verbuche ich das eher unter „zusätzlicher Service“ als unter „Materialverschwendung“ . Allerdings bedeutet ein so hoher Grad an materieller Anpassung auch, dass man erst einmal eruieren muss, welche Variante jetzt am besten zu einem selbst passt. Mich stört das immer ein bisschen – ich möchte nicht testspielen, ich möchte bedient werden! Aber zum Glück gibt es ja Kritiken, die einem bei der Orientierung helfen!

Und hier ist es relativ einfach: Kooperativ kann man sich untereinander absprechen und vor allem Theorien teilen. Für mich ist das spekulieren, das Aufstellen und Diskutieren von Hypothesen der Teil, der mich an einem Krimispiel reizt. Spielt man gegeneinander fallen diese Diskussionen komplett weg – Alle bewegen sich nur in ihrem eigenen Kopf und wollen ja keine Gedanken teilen, damit niemand anderer den Fall vor einem löst. Anders als bei einem reinem Deduktionsspiel wie Cryptid, gibt es aber ja keine „Programm“ was man abarbeiten kann, sondern man muss Vermutungen anstellen (gerade weil die Informationen nicht gesichert sind) und das ist alleine eben nicht nur weniger befriedigend , sondern auch deutlich schwieriger; . Ab einem gewissen Schwierigkeitsgrad der Fälle (der bei City of Angels definitiv überschritten wird) geschieht es schnell, dass man, wichtige Details übersieht und festhängt. Ein kommunikativer Mensch wie ich es bin, ist das zu solipsistisch (womit ich nicht sagen will, dass jeder vor sich hinspielt – es gibt eine Menge Interaktion – aber man teilt seine Gedanken eben nicht miteinander).

Bei City of Angels gibt es aber noch ein anderes Argument für die kooperative Variante: Sie spielt sich deutlich flotter. Hier sind alle Informationen offen, niemand liest geheim Texte durch, während die anderen zugucken, wie das zwangsläufig in der kompetitive Variante der Fall ist. Da bei letzterer Variante zudem verhindert werden muss, dass durch die verdeckte Informationen einzelne „Detectives“ von Schlüsselinformationen ausgeschlossen werden, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, um Karten doch einsehen zu können oder auch an einem Verhör teilnehmen zu können, bei dem man eigentlich nicht anwesend ist. Zudem kann man mit Cash verweigerte Fragen doch noch beantwortet bekommen. Das alles zieht vor allem die Verhöre – von dem es ja sehr, sehr viele gibt –  in die Länge. Außerdem bedingt es die Möglichkeit, Geld generieren zu müssen, was wiederrum Aktionen kostet… Mit anderen Worten: Was bei der kooperativen Variante ein durchaus originelles Krimispiel ist, versucht in der nicht-kooperativen Variante das Thema zu simulieren. Das mag kompetitive Pulp-Fans erfreuen, lenkt m.E. aber von den Teilen ab, die Spaß machen. Nicht zuletzt deswegen, weil die zusätzlichen Aktionen lediglich entweder Informationen blockieren oder die aufgestellten  Blockaden umlaufen. Sie schaffen somit keine wirklich neuen Spielweisen, sondern erschweren nur das Schlussfolgern.

Ich kann irgendwo verstehen, dass die kompetitive Variante als das Hauptspiel verkauft wird – es nutzt das meiste Material und ist regeltechnisch auch deutlich umfangreicher. Sie dürfte auch die Variante sein, die der Autor im Kopf hatte, als er das Spiel entwickelte, denn tonal passt sie mit den aggressiven Aktionen vermutlich etwas besser zum Hardboiled-Setting (wobei mir da keine Romane bekannt sind, wo mehrere Ermittler um die Wette ermitteln). Aber für mich ist die kooperative Form „Viele Ermittelnde gegen eine Gegenspielerin“ die interessantere, die reinere Version.

Wenn ich keine geschlechtsneutrale Formulierung gefunden habe, habe ich abwechselnd die weibliche und die männliche Form verwendet.

 

 

Peer Sylvester
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