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Wer ist das und wenn ja wie viele?

Über Zielgruppen habe ich schon oft gesprochen, aber noch nicht in diesem Jahrzehnt, also wird es mal wieder zeit. Hier soll es einmal weniger um die Zielgruppe aus Autorensicht gehen, sondern um den Begriff, wie er in Kritiken verwendet wird oder verwendet werden sollte. Und ist da überhaupt ein Unterschied?

Die mysteriöse „Zielgruppe“  muss für vieles herhalten, sie wird im Diskurs für und gegen dieselben Argumente ins Feld geführt: „Ja, aber der Zielgruppe gefällt das!“ , „Du darfst die Zielgruppe nicht vergessen!“ „Schon, aber das ist eine andere Zielgruppe“ „Einer anderen Zielgruppe gefällt das nicht!“. Im Zuge des Spiralcurrculums ist es daher ab und an einmal angeraten, was diese Zielgruppe zum Teufel eigentlich nun macht undwo sie sich immer versteckt  hält, wenn sie einmal aufräumen soll!

Apropos „Teufel“: Ich möchte damit anfangen, dass ich den Begriff Zielgruppe keineswegs verteufel. Es ist ein praktischer, wichtiger Begriff, sowohl für die Spieleschaffenden als auch für die Spieleberichterstattung. Allerdings ist der m.E. Begriff diffuser und weitläufiger als er oft verwendet wird. Die Zielgruppe eines Spieles ist dabei nicht „Leute, die das Spiel mögen“, denn das ist eine Tautologie und nicht hilfreich – Das ist nicht so trivial, wie es klingt und ich werde gleich noch einmal darauf zurückkommen. In einer Kritik (oder einem Diskurs über ein Spiel) sollte die Zielgruppe dahingehend benannt werden, dass klar wird, welche Punkte überhaupt Beachtung verdienen: So macht es wenig sinn ein Order Overload Cafe bezüglich seiner Strategie oder Schach bezüglich seiner Geschicklichkeitselemente zu bewerten. Um das klarzustellen wird – implizit oder explizit – ein Genre angegeben. Die Zielgruppe macht nun etwas ähnliches, aber in Bezug an die Erfahrung mit Spielen und Spielregeln, der Bereitschaft auch lange Spiele zu spielen, den Kenntnissen über Spiele (was Begriffe und Alternativen betrifft) und/oder dem Alter der Spieleenden. Mit der Zielgruppe wird ein grober Rahmen gesteckt, welche Aspekte überhaupt beachtenswert sind: Genau wie es keinen Sinn macht Schach auf Partytauglichkeit hin zu untersuchen, macht es keinen Sinn die Kindertauglichkeit von Advanced Squad Leader zu bewerten oder Tempo kleine Schnecke vorzuwerfen, dass die strategischen Elemente für einen Erwachsenen zu wenig herausfordernd seien.

Doch an dieser Stelle beginnt schnell oben erwähnter Fehlschluss: Nur weil die Zielgruppe  etwa „Experten“ ist, heißt das nicht, dass bestimmte Eigenschaften, die diese Zielgruppe ausmachen – etwa eine Toleranz für lange Spielregeln – innerhalb dieser Gruppe als positiv gesehen werden oder nicht kritisiert werden sollten. Auch ein Spiel, dass sich an Expert:innen wendet, kann schlanke Regeln haben, denn die Einordnugn ist diffus und basiert auf mehreren Faktoren. Insbesondere basiert die Beschreibung der Zielgruppe auf deren Eigenschaften. Gerne wird aber von diesen Eigenschaften auf die Vorlieben zurückgeschlossen und das ist nichts anderes als die erwähnte „Leute, die das Spiel mögen“-Tautologie in verkleideter Form: „Die Zielgruppe sind Leute, mit viel Spielerfahrung und weil die mehr Erfahrung mit komplexeren Regeln haben, mögen sie diese Regeln auch und deswegen gehe ich davon aus, dass die Zielgruppe gerne Spiele mit komplexeren Regeln spielt, weil das ne Herausforderung ist oder so.“ Eine solche Untersuchung (die ich hier natürlich etwas überspitzt dargestellt habe) greift zu kurz und wirkt schablonenhaft.

Weitergetragen wird der Trugschluss dann zu „X kann kein Kritikpunkt sein, denn die Zielgruppe mag das“. Hier wird die Zielgruppe dann endgültig mit „Leuten, die das Spiel mögen“ vertauscht. Dass es Leute gibt, die Fingerkloppel oder den „Humor“ von Cards against Humanity mögen ist kein Argument für (oder gegen) irgendetwas. Natürlich gibt es die, das negiert aber die Kritikpunkte nicht. Es ist nicht Aufgabe der Zielgruppe zu definieren, was gültige oder ungültige Kritikpunkte sind, sondern lediglich, welche Aspekte man nicht näher untersuchen möchte. Und das fußt eben auf Eigenschaften der Zielgruppe, nicht Vorlieben. Das betone ich auch deswegen, weil es erklärt warum die Blabla-Sätze „Wer sowas mag, soll sich das Spiel mal ansehen“ oder „Familienspieler könnten das mögen, Wenigspielexperten aber eher nicht“ so unnütz sind: Sie verlangen, dass sich die lesenden aufgrund ihrer Vorlieben in eine Zielgruppe einorden (Wenn ihr solche Spiele mögt…), und die Rezension dann diese Einordnung zurückspiegelt  (…dann mögt ihr dieses Spiel). Das ist tautologisch. Wenn die Rezension stattdessen die Eigenschaften definiert, die nötig sind, um an diesem Spiel Spaß zu haben, ist das deutlich hilfreicher (es ist leichter zu sagen, was man kann, als was man mag).

Ganz oben habe ich nebenbei die Frage aufgeworfen, ob es eigentlich in der Zielgruppendefinition einen Unterschied gibt, wie Kritiken den Begriff verwenden (sollen) und wie Spieleschaffende das tun (sollen) und ich glaube eher nicht. Auch für Spieleschaffende ist es eine Falle zu sagen „Die Zielgruppe meines Spieles sind Leute, die Spiele mögen, die so sind wie meines“, denn mit dieser Denke kann man alle problematische Stellen im Design wegreden – Its not a bug its a feature! Auch hier ist es viel hilfreicher festzustellen, welche Eigenschaften mitgebracht werden müssen, um an einem Design Freude zu haben. Und es ist im Interesse der Spieelschaffenden, die Hürde, die hier durch benötigte Eigenschaften aufgestellt werden, ggf. kleiner zu halten. Das heißt nicht, dass es nicht auch Nischenprodukte geben kann (wie 18xx oder Splotter-Spiele), aber es sind eben Nischen, weil die Hürden, die das entsprechende Spielgefühl bedingen, hoch sind – nicht weil die Hürden selbst so attraktiv wären (Anmerkung: Es gibt natürlich Leute, die sich damit brüsten, dass sie besonders schwer zugängliche Spiele spielen, genauso wie es auch Leute gibt, die sich damit brüsten, dass sie besonders „Indie“ seien, weil sie besonders obskure Musik mögen. Aber wie gesagt: Die Existenz dieser Leute ändert am eigentlichen Kritikpunkt nichts).

Zu allerletzt: Die mMn falsche Verwendung des Begriffes hat auch dazu geführt, dass sich Spielende oft mit „ihrer“ Zielgruppe identifizieren und dadurch Kritik an einem Spiel ihrer Zielgruppe als Kritik an ihrem Spielegeschmack verstehen. Richtig verwendet ist das aber ja gar nicht der Fall, denn um den Geschmack der Zielgruppe geht es ja nicht. Der Diskurs wird dann oft defensiv geführt. Das wieder richtig hinzubiegen, wird aber eine Weile dauern.

ciao

peer

 

 

Beitragsbild: Midjourney

 

Peer Sylvester
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