Vor einigen Tagen twitterte Spiel-Autorin Amabel Holland ihren Unmut darüber, dass ihre Zielgruppe verzerrte Vorstellungen über historische Zustände habe. Das führe dazu, dass ihre faktisch fundierten Spiele von Spielenden als unrealistisch abgetan wurden. Sie musste sich anhören, ihre Spiele würden ein falsches Bild der Geschichte abgeben. Obwohl sie ja belegbare Fakten auf ihrer Seite hatte. Interessant an eben diesem Thread war die Einschränkung, welche sie in diesem Zusammenhang erwähnte. Sie sprach über ihre Spiele, konkret um “wargames”.
Eine zentrale Eigenschaft von wargames lässt sich nicht unbedingt aus der Bezeichnung ableiten, sondern aus ihrer Entstehungsgeschichte. Diese Gattung an Spielen fußt auf dem Gedanken der Simulation und Abbildung realer Geschehnisse. Die Regeln fungieren in ihrer Gesamtheit als ein Modell, welches eine Perspektive auf Reales abbilden soll. Die Qualität dieses Modells und damit auch des Spiels wird daran gemessen wie gekonnt es diese (meist historische) Realität einzufangen weiß.
Der Vorwurf, dass ein Spiel unrealistisch ist, wiegt in diesem Zusammenhang daher sehr schwer. Umso größer darum auch die Empörung, wenn man sich eben mit Recherche und Belegen sehr viel näher an eine fundierte Abbildung der Realität gewagt hat, als die Spielgruppe es zu schätzen oder verstehen weiß.
Alles das ist im Kontext von wargames und Spielen, die in dieser Tradition stehen, vollkommen legitim und angemessen. Allerdings habe ich zunehmend den Eindruck, dass dieser Anspruch nun weit über die Gattung der wargames getragen wird. Dass jedes Spiel, welches auf realweltliche Geschichte verweist (ob spezifisch oder vage), sich diesem Wahrheitsanspruch stellen muss. Jedem thematischen Verweis wird die Absicht einer Modellierung unterstellt. Jedes Spielerlebnis wird als Teil eines Arguments verstanden, welches Autor oder Autorin mit dem Spiel artikuliert. Jede thematische Einkleidung muss die Verantwortung geschichtlicher Erinnerung tragen.
Diese Ansprüche sind im Zusammenhang von wargames und modellierenden Spielen valide, legitim und vielleicht auch notwendig. Aber sie sind ungenügend, um sich mit Spielen zu beschäftigen, die mit Fiktion arbeiten. Sie verhindern sogar eine nähere Beschäftigung mit der Fiktion, die durch das Spiel entsteht, weil diese eben nur auf ihre Realitätstreue reduziert wird. Die Frage, ob das Modell im Spiel besonders plausibel bzw. thematisch ist, sagt uns nichts darüber aus, welche Wirkung das Spiel auf uns hat. Welche Aussagen das Modell über bestimmte Epochen, Ereignisse, Personen trifft, schließt uns als aktiv Teilnehmende völlig aus der Spielbetrachtung aus.
Würden wir einen vergleichbaren Ansatz in anderen Medien verfolgen, dann würden wir von Spielfilmen erwarten dem Wahrheitsanspruch von Dokumentarfilmen nachzukommen. Ein Buch, welches Ereignisse nicht wahrhaftig und tatsachengetreu wiedergibt, würden wir in der Luft zerreißen. Gerade dieser Gedanke liegt dabei gar nicht so weit hinter uns. Galt der Roman doch lange Zeit als niedere Form der Unterhaltung. Eine Form der Zerstreuung, welche mit Lügen und böswilligen Auslassungen leicht beeinflussbare Menschen in die Irre führt und den moralischen Charakter der Jugend korrumpiert.
Wir müssen in der Lage sein ein Spiel auch als Medium der Fiktion zu verstehen, zu nutzen und zu hinterfragen. Wir berauben uns eines ganz essentiellen Bestandteils des Mediums und Kulturguts Spiel, wenn wir Fiktion nur dann als eigene Gattung behandeln, wenn wir es nur mit z.B. vermenschlichten Tiervölkern, postapokalyptischen Szenarien oder kulturell unbestimmbaren Verweisen verbinden. Mit anderen Worten, wenn wir Fiktion nur als wertfreies Hirngespinst verstehen, welches von jeglichen kritischen Fragen losgelöst ist und allein dazu dient uns ein wohliges Gefühl beim Spielen zu geben.
Denn Spiele sind mehr als nur Abbildung. Ihr kultureller Wert besteht nicht allein darin, uns Geschichte zu lehren, nahe zu bringen oder plastisch erfahrbar zu machen. Oder auch nur die Vorurteile und kulturellen Marotten des Zeitgeistes zu verewigen. (Etwa so wie die TV-Serie Friends es geschafft hat, allgegenwärtige Homophobie als gewöhnlichen Alltag in den 90ern einzufangen.)
Bevor Spiele in Kaufhaus-Regalen standen, online beworben wurden oder internationale Preise für sie ins Leben gerufen wurden, war “SPIEL” ein Verb. Es war eine Aktivität, die unabhängig von penibel entwickelten, sorgfältig optimierten und auch recherchierten Produkten ausgeübt wurde. Es war unsere Fähigkeit mit Einwilligung der Mitspielenden Fiktion aus dem Moment heraus zu erschaffen. Erst danach ist aus dem Spielen ein Spiel geworden.
Was Fiktion mit uns macht und wie sie sich auf uns auswirkt, ist in jedem Medium und auch dem Spiel eine zentrale Frage der Kritik. Gerade wenn sich ein Spiel – unabhängig seiner Versatzstücke und Verweise – als Fiktion statt als Modell präsentiert, muss man andere Fragen stellen. Eben nicht die Frage, welches Argument im Modell artikuliert wird oder welche Einblicke es in sein Thema bietet.
Fiktion wird eingesetzt und arrangiert, um eine Wirkung beim Publikum zu erzielen. Wenn man sich damit auseinandersetzt, geht es um Dramaturgie, emotionale Affekte und auch um Fragen der implizit wie auch explizit thematisierten Werte. Modelle werden geschaffen, um einem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden. Der Einsatz eines Modells hat das Ziel Erkenntnisse zu ermöglichen, Einblicke zu verleihen oder auch Verständnis für komplexe Zusammenhänge zu vermitteln.
Beide Ansätze lassen sich im Spiel umsetzen, aber nur einer davon scheint derzeit Beachtung zu finden und kritische Auseinandersetzung nach sich zu ziehen. Das halte ich für einen schweren Fehler.
- Ein paar Worte auf dem Weg - 29. September 2024
- „Wie spielt man das eigentlich?“ - 1. September 2024
- Das Wichtigste an Spielen - 1. Juli 2024