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Narrative Genres im Brettspiel

Kürzlich wurde ich freundlicherweise zu einem Panel bei Non3pub eingeladen, bei dem es um Narrativen in Brettspielen ging. Eine der Ideen, die ich aus dem Panel mitgenommen habe, war der Gedenke, dass Narrativen in Brettspielen kein einzelnes, in sich geschlossenes Konzept sind. [NACHTRAG: Mit „die Narrative“ ist hier die konkrete Form gemeint, die das Erzählen einer Geschichte in einem Medium annimmt.] Stattdessen gibt es mehrere Formen, in denen sie auftreten können. Im Panel wurde auch angesprochen, dass es sich dabei um ein Spektrum handeln könnte. Der Spieldesignerin stehen dafür verschiedene Mittel und Werkzeuge zur Verfügung. Auch wenn ich den Ansatz für legitim halte, denke ich, dass es hilfreicher ist Narrativen genauer zu unterteilen. Darum möchte ich verschiedene Brettspiel-Narrativen eher als unterschiedliche Genres verstehen.

Spiele werden oft nach ihren Mechanismen kategorisiert (Deckbuilder, Worker Placement, Verhandlungsspiel, etc.). Ich finde, wir sollte auch zwischen Arten von narrativen Brettspielen unterscheiden. Genauso wie Regeln und Mechanismen verschiedene Spielgenres schaffen und von Spielerinnen Unterschiedliches abverlangen, um ein unterhaltsames Erlebnis zu schaffen, so verlangen auch narrative Genres unterschiedliche Herangehensweisen von Spielerinnen, um die fesselnde Geschichte zu schaffen, die das Spiel verspricht.

Das bedeutet nicht, dass es keine Überschneidungen zwischen diesen Genres gibt. Je nach Gattung stehen mal diese und mal jene Merkmale im Vordergrund. Schließlich sind nur wenige Spiele „reine“ Deckbuilder oder „reines“ Worker Placement. Die meisten bedienen sich aus verschiedenen Genres, und ich denke, das gilt auch für Narrativen in Brettspielen.

Darum muss der nächste Schritt sein, zumindest einige narrative Gattungen in Brettspielen zu benennen. Da Brettspiele ein partizipatives Medium sind, reicht es nicht aus, Narrativen nach Stimmung und Wirkung der Erzählung zu unterscheiden, sondern auch danach wie Spielerinnen aufgefordert werden, sich an der Entstehung der Narrative zu beteiligen.

Typ I – Die erlebte Narrative

Wir erleben die Narrative des Spiels. Wir sind die Protagonisten und es gibt keine Trennung zwischen uns und unserer Rolle im Spiel. Es ist die immersivste Form der Narrative in einem Brettspiel. Wir tauchen in das Spielgeschehen ein und werden dazu verleitet, das Künstliche des Mediums selbst zu ignorieren. Ein immersives Filmerlebnis lässt uns ausblenden, dass wir eigentlich sicher und gesund in einem bequemen Sitz sitzen, vielleicht mit einem Getränk oder einem Snack auf dem Schoß. Eine immersive Brettspielnarrative lässt uns ausblenden, dass ein farbiger Holzwürfel kein Gold ist, dass Siegpunkte kein Prestige sind oder dass unsere Freunde am Tisch sich nicht tatsächlich verschwören, um uns den Spaß zu verderben.

Ich würde behaupten, dass die erlebte Narrative die häufigste und am weitesten verbreitete Form der Spielnarrative ist. Es ist zumindest diejenige, an welcher die meisten Leute teilhaben. Selbst wenn sie das Erleben des Spiels nicht als Narrative benennen würden. Für sie ist es einfach nur ein „Spiel zu spielen“.

Die erlebte Narrative ist zum einen die beim Spiel am intensivsten empfundene. Sie ist aber auch diejenige, die durch das Spieldesign am deutlichsten geformt wird. Durch die Ziele und Anreize des Designs wird der Narrative eine Richtung vorgegeben. Durch die Herausforderungen steuern die Protagonisten (also wir) auf einen Konflikt zu. Der stetige Aufbau an Errungenschaften liefert das Gerüst, das die Erzählung zu einem Höhepunkt führt. Es ist nicht so, dass Brettspiele Geschichten „erzählen“, aber sie schaffen Narrativen, die sich von denen anderer Medien unterscheiden, weil sie uns in den Mittelpunkt stellen.

Das bringt ein gewisses Maß an Verantwortung mit sich, denn jeder Spieler beeinflusst direkt die Erzählung, die jeder andere am Tisch erlebt. Wie wir miteinander interagieren, wie wir auf unvereinbare Ideen und Ziele reagieren, wird zu einer zentralen Frage, um die Narrative für alle Beteiligten angenehm zu gestalten.

Typ II – Stellvertreter-Narrative

Bei dieser Art der Narrative ist unser Avatar (oder die „Rolle“) Teil der Geschichte. Wir haben eine starke Trennung zwischen uns selbst und unserer Darstellung oder unserer Rolle im Spiel. Das kann uns erlauben, beim Spielen die Stimme zu verstellen oder unsere Rolle mit etwas Schauspielerei auszubauen. Es erlaubt uns, auf eine Art und Weise zu handeln, die mit den Zielen des Avatars übereinstimmt, aber vielleicht nicht unbedingt damit übereinstimmt, was uns persönlich gefällt. Es ist der Avatar, der lügt, betrügt, angreift oder verliert. Es sind nicht wir.

Ich glaube, dass dies die zweithäufigste Art ist, die Narrative eines Brettspiels zu erleben, und ein Ansatz, auf den viele Spielerinnen zurückgreifen, wenn die eigentlich vorrangige, erlebte Narrative als unangenehm empfunden wird. Das kann am häufigsten in stark kompetitiven Spielen passieren, in der die emotionale Distanz zwischen uns und den Ereignissen im Spiel als eine Art Puffer dient.

Es sind nicht wir, die unangenehme Dinge tun oder denen sie angetan werden. Es sind die Regeln, die wir einfach gewissenhaft befolgen. Es ist nichts Persönliches, es ist rein geschäftlich nur ein Spiel. Diese Art der Narrative ist per Definition nicht sonderlich immersiv, ermöglicht aber dennoch ein hohes Maß an Interaktion. Vorausgesetzt, die Trennung zwischen persönlichem Erlebnis und den Ereignissen im Spiel wird immer strikt eingehalten. (Es ist eines meiner Lieblingsärgernisse, dass diese Trennung als „magischer Kreis“ bezeichnet wird, obwohl das damit nichts zu tun hat. Aber das ist ein anderes Thema.)

Typ III – Externe Narrative

Bei dieser Art der Narrative ist die Geschichte im Spiel und seinen Komponenten enthalten. Die Narrative des Spiels existiert getrennt von uns und unseren Handlungen. Durch das Spiel erhalten wir Zugang zu ihr, entdecken sie oder beobachten, wie sie sie ihren Lauf nimmt. In gewisser Weise ist dies die am wenigsten brettspielartige Art, eine Geschichte zu erzählen. Aber es ist diejenige, die man am einfachsten aus anderen Medien wiedererkennt. Bücher, Filme und Videospiele verwenden im Allgemeinen diese Methode, um ihre Geschichten zu erzählen.

Als Spielende reagieren wir lediglich auf neue Entwicklungen in der Geschichte. Manchmal werden sie durch unsere Aktionen eingeleitet, aber wir sind es nicht, die sie definieren oder in irgendeiner Form kontrollieren. Diese Art der Erzählung von Brettspielen wird oft belächelt, da sie angeblich die Spieler bevormundet und sie zu einem passiven Publikum für die Prosa des Autors abkommandiert.

Obwohl es wohl der sicherste und „konservativste“ Weg ist, die Narrative eines Spiels deutlich zu machen, hat sie viele Stärken. Sie befreit Spielende aus der Pflicht narrative Arbeit leisten zu müssen. Sie können sich auf das Spiel konzentrieren und werden mit einem neuen Storyhäppchen belohnt, sobald sie das eine oder andere Ziel erreicht haben. Es braucht „nur“ einen guten Autor, damit es funktioniert, und dieser kann sich darauf konzentrieren, Story-Pakete zu erstellen, die im Laufe des Spiels oder während einer Kampagne an die Spielgruppe übergeben werden.

Die meisten Anstrengungen wurden in den letzten Jahren wohl darauf verwendet, diesen Ansatz zu verfeinern. Spielemacher experimentieren weiterhin damit, wie man eine externe Narrative vermitteln kann, ohne lange Textstellen zu benötigen, die man während des Spiels (vor)lesen muss. Das können Sekundärtexte sein, die das Setting erweitern und die Vorstellungskraft der Spielenden bereichern, wenn sie das nächste Mal einem bestimmten Feind gegenüberstehen oder an einen bestimmten Ort zurückkehren. Es können die Multimedia-Tools einer App genutzt werden, um die audiovisuelle Darstellung eines Spiels zu vergrößern und so weiter.

Die größte Stärke einer externen Narrative ist, dass sie leicht zu begreifen ist und die meisten Spielerinnen sich schnell darauf einlassen können. Das ist vielleicht eines der wichtigsten Ziele guten Designs.

Typ IV – Berichtende Narrative

Einfach gesagt: die berichtende Narrative ist die Geschichte, die wir über das Spiel erzählen, das wir gespielt haben. Die Narrative des Spiels wird im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Spiel entfernt und uns anvertraut. Die Ereignisse des Spiels liefern uns das Material, aus dem wir unsere persönliche Erzählung zusammenstellen.

Man kann sich das gespielte Spiel als rohes Filmmaterial vorstellen, welches wir nach eigenem Ermessen nachbearbeiten und wiedergeben. Manchmal muss man einiges schneiden, um daraus eine runde Geschichte zu machen. Gelegentlich müssen Spielaktionen durch die Linse des Settings und der Mechanismen interpretiert werden. Einen Spielstein aufs Brett zu stellen, kann eine Invasion sein. Es kann als Aufbau eines Handelspostens interpretiert werden, als Entdeckung eines unbekannten Ortes und so weiter. Je nachdem, wie viel Mühe in die Abstimmung der Mechanismen und des Themas gesteckt wurde, haben wir mal wenig Spielraum für Interpretationen oder können unserer Kreativität freien Lauf lassen.

Während die erlebte Narrative bei der Spielgruppe Immersion voraussetzt, benötigt die berichtende Narrative ein Maß an Reflexion durch die Spielenden. Sie fordert uns auf, Ereignisse aktiv zu interpretieren und unseren Handlungen eine erzählerische Bedeutung zuzuschreiben, die auf der Präsentation und den Texten des Spiels aufbaut.

Da Spiele ein Erzählmedium sind, welches sich über die eigene Teilnahme daran definiert, haben Spielende eine besondere Rolle. Sie sind es die maßgeblich darüber entscheiden, welche narrative Gattung während des Spiels tatsächlich verfolgt wird. Ihre Vorlieben können aber mit den Annahmen kollidieren, die in das narrative Design des Spiels eingeflossen sind.

Ein Spiel wie Pandemic Legacy Season 1 ist zum Beispiel keine gute Wahl, wenn Spielende eine berichtende Narrative suchen. Die sich entwickelnden Ziele und die Handlung des Spiels setzen den Spielenden klare Grenzen. Das macht es ihnen unmöglich die Geschichte zu erzählen, die sie wollen. Alle Elemente der Erzählung, die Spielende benennen, interpretieren und bearbeiten wollen, wurden bereits von den Autoren des Spiels festgelegt. Die Spielenden traten mit der Erwartung ans Spiel aus ihrem Spielerlebnis eine Geschichte zu spinnen, während das Spiel bereits mit einer fertigen Geschichte auf sie wartete.

In ähnlicher Weise ist die erlebte Narrative eines Spiels in hohem Maße von den Zielen, Anreizen und Interaktionen des Spiels abhängig. Je vielfältiger diese sind, desto interessanter und spannender wird die Erzählung. Das erklärt zum Teil, warum sich sogenannte Eurogames für Spielerinnen irgendwann unthematisch oder seelenlos anfühlen. Eine Ressource gegen eine andere Ressource tauschen, um damit Siegpunkte zu erhalten, fühlt sich nach einiger Handvoll Variationen einfach nur noch schal an. Die Spielgruppe mag an den Tisch gekommen sein, um eine Narrative zu erleben, aber wurden stattdessen in die Rolle der „Konkurrenten“ gezwängt mit der Erwartung, dass sie nur noch auf die Herausforderung des Spiels achten würden.

Ich denke, wir müssen einen Weg finden, die narrative Gattung eines Spiels klarer zu kommunizieren, und Spielende darauf hinweisen wie sie aufgefordert sind, an der Narrative des Spiels teilzunehmen. Damit lassen sich Brettspiele als narratives Medium mit eigenen Techniken und Eigenschaften in der Öffentlichkeit etablieren. Es ermöglicht uns auch nuancierte und anspruchsvollere Narrativen zu erschaffen, die über „spannende“ Erfolgsgeschichten hinaus gehen.

Bilder:
Titelbild: Nathan Dumlao on Unsplash
Erlebte Narrative: Adam Nieścioruk on Unsplash
Stellvertreter-Narrative: Kyle Head on Unsplash
Externe Narrative: Priscilla Du Preez on Unsplash
Berichtende Narrative: Brett Jordan on Unsplash

Georgios Panagiotidis
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