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Root

Man mag es auf den ersten Blick zwar dafür halten, aber Root ist kein einfach zugängliches Familienspiel. Das liegt nicht nur daran, dass die Spieler hier sehr hart um die Vormacht im Waldland kämpfen. Das asymmetrische Spielkonzept zwingt sie auch dazu einiges an Zeit zu investieren, um das Spiel überhaupt zu verstehen. Fans des Spiels weisen gern darauf hin, dass wenn man die Lernkurve erstmal gemeistert hat, ein sehr lohnenswertes Spielerlebnis auf einen wartet.

Dieses Argument hakt leider an zwei Stellen. Zum einen ist diese Lernkurve der Kern dessen was Root zu bieten hat. Man kann neue Regelinteraktionen entdecken. Man kann mit ansehen wie frische Spielerdynamiken aus neuen Situationen herauswachsen. Man kann auch einfach herausfinden welche Folgen eine vorschnelle Aktion eines Spielers nach sich zieht. Dafür packt man Root wiederholt auf den Tisch. Hier wird Raph Kosters „Theory of Fun“-Ansatz verfolgt, der das Lernen als Grund für den Spielspaß sieht. Wenn man erstmal alles gelernt hat, was ein Spiel zu bieten hat, dann langweilt es nur noch. Manche sehen in diesem Lernprozess ein Entdecken von strategischer Tiefe und damit die wahre Stärke des Spiels. Andere sehen darin eine Sysiphusarbeit die man meistern muss, bevor man das Spielen genießen kann. Roots Lernkurve zu überwinden stellt für beide Gruppen eher ein Problem dar. Aber zumindest für einen Spielertyp gibt es ja noch die Erweiterungen.

Der zweite Haken zeigt sich daran, dass das Meistern der Lernkurve keine Frage des Wann sondern des Ob ist. Root ist sicherlich nicht so unfassbar komplex, dass Spieler nicht in der Lage wären die Grundprinzipien nach einigen Versuchen zu begreifen. Aber es braucht schon einiges an Zeitaufwand von bis zu 4 Spielern, bis man flüssig spielen kann. Erfahrene Vielspieler mögen vielleicht schon noch ein oder zwei Runden reinkommen, sicher. Aber aufgrund der familienfreundlichen Aufmachung, ist auch zu erwarten dass Spieler mit weniger umfassenden Erfahrungsschatz am Tisch sitzen werden. Da kann es schon etwas mehr als einige Sitzungen dauern bis sich das Spiel so spielt, wie es vermutlich gedacht ist. Wenn dieser Punkt überhaupt je erreicht wird. In Anbetracht der Flut an Neuerscheinungen jedes Jahr wird man weder dem Markt noch den Spielern gerecht, wenn man von ihnen verlangt, mehrere Spielrunden einzuplanen um zu lernen wie man das Spiel vorsätzlich gewinnt. Ein Spiel zu gewinnen, weil man gut gespielt hat, fühlt sich toll an. Es zu gewinnen, weil der Gegenspieler durch sein begrenztes Verständnis der Regeln unterlegen war, ist eher unbefriedigend. Es ist ein Umstand, der durch die sehr knapp formulierten Regeln noch verstärkt wird. (Anm.: Leider stand die deutsche Fassung zum Zeitpunkt der Rezension nicht zur Verfügung, weshalb ich hier nichts über die Qualität der Übersetzung sagen kann.)

Die Regeln von Root sind handwerklich einwandfrei, denn sie sind exakt formuliert und zusammenhängend aufgeführt. Sie sind aber auch in der praktischen Anwendung furchtbar, da ihre Knappheit dazu einlädt sie zu interpretieren und nach Querverweisen zu suchen, die Fragen umfassender beantworten können. Das Gesetz von Root (das ist der witzige Name für das Regelwerk) geht bereits davon aus, dass man die richtige Anwendung der abgedruckten Regeln herleiten kann. Das Lerne zu Spielen-Heft, sowie die Schritt-für-Schritt Anleitung für die ersten zwei Runden beinhalten illustrierte Beispiele welche durchaus helfen. Aber dennoch ist man gezwungen beide Hefte in den ersten Spielrunden immer parat zu haben, um bei Fragen nachschlagen zu können. Selten habe ich mich so unsicher dabei gefühlt eine Regelfrage zu beantworten wie in diesem Spiel. Ich muss mehr Zeit damit verbracht haben die Regeldiskussionen und das FAQ auf Boardgamegeek durchzugehen als ich das Spiel selbst gespielt habe.

Wie sich herausstellte hatten wir unsere Spielrunden fast fehlerfrei gespielt, aber wir fühlten uns bei keiner davon wirklich regelfest. Nach einiger Zeit haben wir es aufgegeben Dinge nachzuschlagen und versucht die Absicht hinter einer Regel irgendwie herzuleiten, um das Spiel nicht noch weiter ins Stocken zu bringen. Cole Wehrle hat in einem Podcast erwähnt, dass er sehr stolz darauf ist, dass sämtliche spiel-relevanten Informationen auf den Spielertableaus in irgendeiner Form vorhanden sind. Aber diese Tableaus sind nur dann wirklich hilfreich, wenn man das Spiel in seiner Gänze begriffen hat. Wenn man noch am Anfang steht, ist das alles eine wacklige und unsichere Angelegenheit. Es ist unwahrscheinlich, dass man sich gleich sicher genug fühlt, um schon nach kurzer Zeit in das Spiel einzutauchen und loszuspielen.

Aber die Regeln sind nicht die einzige Stärke die Root aufzuweisen hat. Es geht auch um die aus dem Spiel heraus entstehende Narrative. Eine Narrative welche, wenn man dem Designer glauben möchte, von Politik und Macht handelt. Roots Narrative ist ein interessanter Fall, da hier einer bestimmten Designphilosophie gefolgt wird, welche viel aus dem simulationistischen Verständnis von Spielen und aus Kriegsspielen übernimmt. Einfach gesagt: die Regeln sind nicht vorrangig ein Mechanismus um bestimmte Spielerinteraktion- und dynamiken entstehen zu lassen, sondern verstehen sich als Interpretation und Ausdruck eines komplexen Sachverhalts, den das Spiel darstellen will.

Root ist eine Konfliktsimulation eines völlig fiktiven Konflikts, der Spielern eine anspruchsvolle emergente Narrative bieten will, welche die vielschichtigen Zusammenhänge einer komplexen politischen Situation erforscht. Dem Spiel gelingt es vor allem ein Regelwerk zu präsentieren, welches als Interpretation eines Konflikts mit mehreren Fronten verstanden werden kann (und soll). Vier eigenständige Fraktionen ringen um die Kontrolle des Waldlands indem sie gemäß eigener Bedingungen Siegpunkte sammeln.

Beispiel eines Simulacrum

Aber da der Konflikt von Wehrle selbst erfunden wurde, entspricht seine Interpretation effektiv der objektiven Wahrheit. Die Regeln nach denen gespielt wird sind nicht die Grundsätze nach denen die politische, kulturelle, militärische, wirtschaftliche, etc. Dimension eines real-weltlichen Konflikts simuliert werden. Die Regeln sind die maßgeblichen Bestandteile des Konflikts selbst. Ohne sie, gäbe es keinen Konflikt, den Root simulieren könnte.

Die meisten Konfliktsimulationen bieten eine einzelne Perspektive auf das Geschehen, welche Spieler ausreizen und entdecken können. Im Anschluß kann man die Ereignisse des Spiels mit dem eigenen Wissen über den historischen Konflikt vergleichen. So kann das eigene Verständnis entweder vergrößert werden oder die Grenzen der Simulation aufgetan werden. Das ist zum Beispiel bei Twilight Struggle der Fall, in dem die Unzulänglichkeit der Domino-Theorie offenkundig wird, oder Cuba Libre, welches aufzeigt wie wenig wir (oder auch nur ich) über Kubas komplexe und gar nicht so weit entfernte Geschichte wissen.

In COIN Spielen wie Cuba Libre wird die vielschichtige, politische Realität des historischen Konflikts bewusst durch die Entscheidungen der Designer (Jeff Grossman und Volko Ruhnke) auf eine bestimmte Art interpretiert. Was Teil des Spiels wird, was vereinfacht und was ignoriert wird, ist bereits wichtiges Element dessen worum es in dem Spiel geht. Durchs Spielen setzen wir uns mit der geistigen Rekonstruktion eines realen Konflikts auseinander. Wir testen ihre Grenzen und loten ihre logischen Folgen aus. Wir erfahren die spielerischen wie auch logischen Folgen unserer Aktionen in diesem Kontext. Wenn wir dann noch kenntnisreich oder kritisch genug sind, können wir sogar überlegen inwieweit diese Folgen wahrheitsgetreu oder zutreffend sind. Den Autoren von Twilight Struggle ist etwa durchaus bewusst, dass die Dominotheorie zwar weitläufig angezweifelt wird, aber für ihr Spiel Gültigkeit hat. Wir können nun innerhalb dieser Theorie „am Rande des Abgrundes“ spielen.

Root folgt nun dieser Tradition der Regeln, welche bestimmte Machtverhältnisse abbilden. Es sind diese Verhältnisse, auf denen die asymmetrische Spielerfahrung basiert und die ihr Schwung verleiht, während Spieler sich um die Vormachtstellung im Waldland zanken. Die Tatsache, dass Root hier jeglicher Bezug zur realen Welt fehlt ist sowohl befreiend wie auch katastrophal.

Es ist dahingehend befreiend, da man sich nun die Spielwelt in alle ihren Farben und Formen beim Spiel ausdenken kann. Wie scharfsinnig und bedeutsam die Konfliktsimulation im Waldland tatsächlich ist, hängt allein davon ab ob wir in der Lage sind einzelne Aspekte des Hintergrundes weiterzudenken. Darum ist es kein Zufall, dass manche Spieler sich auf ein Rollenspiel im Root-Universum freuen. Erst wenn der Hintergrund des Spiels stärker herausgearbeitet wurde, kann der Regelansatz von Root tatsächlich greifen. Bis dahin wird das Spiel seiner Konfliktsimulations-Art aber nicht gerecht. Die Illustrationen sind stimmungsvoll und großartig, aber das ist nicht genug, um diesem Konflikt Gewicht zu verleihen.

Cole Wehrle hat sich auf Boardgamegeek bereits zum Hintergrund von Root geäußert. Er hat dort das Setting des Spiels ausgeführt, die Gründe hinter einzelnen Designentscheidungen erläutert, sowie erklärt wie man einzelne Spieleraktionen im Spiel zu deuten hat. Damit nimmt sich das Spiel viel von seiner narrativen Tiefe. Wenn man sich die Erklärungen durchliest und mit dem eigenen Spielerlebnis vergleicht, wird man vermutlich eine entfernte Ähnlichkeit feststellen können. Aber kaum etwas davon entsteht aus dem Spiel heraus. Die Narrative eines Spiels, gerade wenn sie sich mit Konzepten wie Macht auseinandersetzen will, sollte keine Erklärungen des Designers benötigen, um verstanden zu werden. Das Spiel selbst ist die Erklärung. Ist diese zu unklar oder unzugänglich, dann liegt das nicht am Unwissen der Spieler. Es liegt am Autor, der nicht in der Lage war seine Position im Werk zu vermitteln.

Aber selbst dann besitzt Root keine alternative Lesart, um das eigene Spielerlebnis zu kontrastieren. Es gibt keine historische Narrative des Waldland-Konflikts. Es gibt kein umfassenderes Verständnis der sozio-politischen Kräfte, die eine Konfrontation vorantrieben. Es gibt keine differenzierte Sicht auf die historischen Wurzeln der Horst Dynastien, auf den ausbeuterischen Imperialismus der Maquis de Katz oder sogar auf die moralischen Opfer, welche die Waldland Allianz eingehen musste. Es gibt keine reale Geschichte, welche man durch das Spielen von Root neu ausleuchtet. Darum fällt jeder Versuch eine Narrative im Spiel zu finden auf diffuse Gedankenspiele über Macht zurück.

Eine Grübelei, die stark behindert und begrenzt wird, weil das Spiel letztendlich doch als Wettstreit konzipiert ist. Daher wird Macht in Root nur eingesetzt um mehr Macht zu erhalten, aber nicht um Veränderungen zu erreichen. Es ist egal, warum wir Macht anwenden. Es ist belanglos, warum wir sie besitzen wollen. Ihr Nutzen wird allein daran gemessen wie sehr es uns gelingt mehr Macht anzusammeln oder diese nicht teilen zu müssen. Als Grundlage für eine Narrative ist dieser Ansatz schlicht zu oberflächlich, um ihn ernst zu nehmen.

Aber der simulationistische Ansatz ist nicht die einzige Vorstellung zu Narrativen in Brettspielen. Ich würde sogar behaupten, dass Brettspiele weit besser dafür geeignet sind eine Narrative aus der zwischenmenschlichen Interaktion der Spieler und ihrer Gruppendynamik entstehen zu lassen. Root schneidet hier ein klein wenig besser ab. Unsere Spielinteraktion, zusammen mit dem Stimmungstext der Karten sowie unserer Handlungen, erschaffen eine Art zusammenhängender Geschichte. Aber diese greift nur altbackene Ideen auf, in denen Bündnisse leichtherzig gebrochen werden, wenn der Spielsieg in greifbare Nähe rückt (s. Scott Westerfelds kontroverser Vortrag auf der SHUX ’18).

Ein Hauch Neid treibt das Spiel voran

Wie viele andere asymmetrische Spiele, erwartet Root von den Spielern, dass sie sich gegenseitig das Leben schwer machen. Jeder hat die Aufgabe den in Führung liegenden Spieler zu behindern und gleichzeitig die eigenen Interessen voranzubringen. Oft führt das zu einer sehr lauten und streitlustigen Stimmung am Tisch, in der hitzige Wortgefechte dafür genutzt werden die eigenen Siegchancen zu vergrößern. Alles das während man versucht die anderen Spieler dazu zu bringen sich zu verausgaben. Manche Leute halten das ja schon für Politik. James Earnest hat mit seinem Klassiker Kill Dr. Lucky vermutlich alles gesagt was es zu dieser Art von politischem Spiel zu sagen gibt. Aber ähnlich wie bei romantischen Komödien, ist es nicht der Inhalt, der Fans packt, sondern der Stil und die Stimmung, die damit einher geht. Dahingehend gelingt es Root ein bekanntes Spielgefühl in frischem Antlitz zu präsentieren. Hier kann man sich streiten, beschwatzen und, wenn nötig, ganz still sein, um sich den Sieg auf dem Rücken seiner verausgabten Gegner zu holen.

Womit das größte Problem mit Root erneut unterstrichen wird. Da es keine alternative Lesart des Woodland Kriegs gibt, sind sämtliche Aussagen, die Root über Macht trifft, zweifelhaft. Als Konfliktsimulation ist sie letztendlich so einseitig, dass sie wie politische Propaganda funktioniert. Es gibt nur eine Art wie der Konflikt ausgeht. Er wird durch diese Elemente definiert. Es gibt keine andere Perspektive.

Einsam ist es auf dem Thron

Das Spiel ist darauf ausgelegt in fast allen Fällen mit nur einem einzelnen Sieger zu Ende zu gehen. Damit schwächt das Design das eigene Ziel sich mit Macht, ihrer Anwendung, Wirkung und ihren Zwängen auseinanderzusetzen. Politische Macht (am Spieltisch) und militärische Macht (auf dem Spielbrett) hat nur einen einzigen Zweck: um jeden anderen Spieler zu schlagen.

Das ist vielleicht die trostloseste und naivste Aussage, die Root trifft: man will Macht nur besitzen, um andere zu beherrschen. Manchen ist dieser Satz in seiner Umkehrung vertrauter: nur wer keine Macht haben will, sollte sie haben dürfen. Genau so geht eine Runde Root in der Regel auch zu Ende. Es wird immer der Spieler angegriffen, der die meiste Macht zu besitzen scheint und so gewinnt im Anschluß der Spieler, der diese Macht am Wenigsten bzw. Schlechtesten verfolgt hat.

Die größte Freude macht Root nicht beim Spielen selbst, sondern in den Diskussionen, die danach folgen: im Analysieren der unterschiedlichen Strategien und den Gedankenspielen, die man mitnimmt. Es ist ein Spiel für Leute, die gern ausgiebig über Spiele reden oder nachdenken; wie es zum Beispiel Kritiker oder Designer tun. Was Root beim Spielen an Spaß liefert, ergibt sich aus den „Metagame“-Gesprächen, welche vor allem vom Charisma und den dramatischen Gesten der Spieler leben.

Root ist, trotz seines ehrgeizigen Ziels eine Narrative über Macht und Politik zu schaffen, eher nichtssagend und belanglos. Macht gibt es nur in Form von Dominanz; Politik gibt es nur als Manipulation. Ironischerweise ist es eben jener Ehrgeiz, der mein Urteil so hart macht. Wenn das Spiel einfach nur eine alberne, kleine Prügelei auf einer Landkarte wäre, bei der man Siegpunkte fürs Rauswerfen anderer Plättchen bekommt, dann wäre es… ok. Einfach nur ok. Und vielleicht ist es auch nur das.

Georgios Panagiotidis
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