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Sie sehen nur was sie wollen

Zur Einstimmung: ein Witz.

Zwei Fische schwimmen durch den Ozean und erfreuen sich ihres Lebens. Ein dritter Fisch kommt ihnen entgegen und grüßt sie mit „Das Wasser ist heute schön kühl!“. Sie grüßen freundlich zurück und alle schwimmen weiter. Nach 20 Minuten dreht sich der erste Fisch zum zweiten und fragt völlig entgeistert „Weißt du, was der mit Wasser meint?“

In einem Porträt zu Elizabeth Hargrave im Slate Magazin wird auch auf ihren großen Erfolg mit Wingspan („Flügelschlag“) eingegangen. Das durch dieses Spiel viel neue Menschen auf Brettspiele aufmerksam geworden sind. Es sollen vor allem Frauen das Brettspiel für sich entdeckt haben. Man nahm an, dass hier die Themenwahl bzw. Illustrationen sowie der verhältnismäßig konfliktarme Spielverlauf dazu beitrugen. Frauen, so heißt es, erfreuen sich weniger an konfrontativen Spielen und fühlen sich durch düstere Bilder und gewaltsame Inhalte abgeschreckt. Es fehlt der Aufforderungscharakter in den üblichen Vielspieler-Spielen. „Die Frau“ findet sich in diesen Spielen nicht wieder.

Diese Position und Argumentation ist – um es in der trockenen Formulierung der Umgangssprache zu sagen – suboptimal.

„Frauen sind nicht für den Wettkampf gemacht“

Zuerst ist sie zutiefst paternalistisch. Ein großer Teil unserer Mitmenschen wird über eine willkürlich gewählte Eigenschaft – in diesem Fall das Attribut „weiblich“ – zu einer Fremdgruppe deklariert. Diese gilt es sorgfältig zu beobachten und in ihrer Andersartigkeit zu verstehen, bevor man sich ihr nähern kann und ihnen das moderne Gesellschaftsspiel schmackhaft machen kann. Dieser Blick ist ausgrenzend und herablassend.

Mehr noch diese Perspektive sucht die Ursache für eine geringe Präsenz von Frauen (und anderen Gruppen) innerhalb der Szene in diesen Gruppen selbst. Man(n) nimmt an, dass Bedürfnissen nicht entsprochen wird und dass sich diese Gruppen nicht ausreichend im Spielmaterial repräsentiert sehen. Das setzt eine gewisse Unfehlbarkeit der Spielszene als attraktiven und wertvollen Ort voraus. Andere Personengruppen sind lediglich ein Bonus, der die Spielerschaft erweitert. Die existierende Spielblase sieht sich als Zentrum und alle anderen als Randgruppen und Minderheiten, auf die man einen Schritt zugehen muss.

Zum Beispiel in dem man Blümchen statt Barbaren aufs Spielcover setzt. Oder abgebildete Personen attraktiv, aber nicht anzüglich zeigt. Oder dass Leute aus unterschiedlichen Kulturen wertschätzend und nicht stereotyp eingebunden werden. Die Absicht ist klar. Man will kommunizieren, dass alle willkommen sind. Jeder darf spielen. Jeder soll zum Spielen ermuntert werden.

Spielregeln werden vereinfacht, um darauf zu reagieren, dass Seltenspieler keine Lust darauf haben komplizierte Regelwerke zu studieren, um spielen zu können. Konfrontative Spielkonzepte werden entschärft, weil Seltenspieler diese Frustmomente als störend empfinden. Die Spieldauer wird zunehmend verringert, weil Seltenspieler davor zurückschrecken mehr als 60-90 Minuten mit einem Spiel zu verbringen.

Wenn aber Regeln so eine unüberwindbare Hürde sind, warum konnte Flügelschlag so ein Erfolg werden? Warum ist ausgerechnet ein Kennerspiel des Jahres Gewinner das langanhaltende Highlight, welches über die Grenzen der Spielblase hinaus Beachtung gewinnt?

Wenn Konfrontation und Frustmomente so ein starker Grund dafür sind, dass Seltenspieler sich nicht an Brettspiele wagen, warum ist Zug um Zug das bestverkaufte Spiel aller Zeiten? Ein Spiel welches schon nach wenigen Partien ein Hauen und Stechen wird, in dem man sich Routen blockiert?

Der Gedanke, dem wir uns als Szene nähern müssen, ist ein unbequemer, aber ein notwendiger. Es sind nicht die persönlichen Befindlichkeiten und Vorlieben der Seltenspieler, die einem Zugang ans Medium im Weg stehen. Es sind auch nicht die Eigenheiten und Besonderheiten der in der Szene beliebten Spiele, die Seltenspieler abschrecken.

Es ist die Spielkultur selbst, die nicht offen und einladend für Neuankömmlinge ist.

Zugegeben Spielkultur ist ein diffuser Begriff, der von der individuellen Ebene bis zur gesamt-gesellschaftlichen Ebene durchgezogen werden kann. Eine vollständige und umfassende Besprechung ist hier nicht möglich. Aber ich will zumindest einzelne Punkte anschneiden.

Vorneweg, es geht nicht darum, dass man sich freundlich, höflich und offen am Spieleabend verhält. Das sind die äußeren Rahmenbedingungen einer Spielrunde. Spielkultur wie ich sie hier verwende handelt von der Art wie wir gemeinsam spielen. Es geht mir um die Art und Weise mit der als Gruppe auf die unterschiedlichen Situationen reagieren, die wir im Spiel erleben. Unser gemeinsames Spiel verfolgt einen Zweck und Spielkultur drückt sich dadurch aus, wie wir diesem Zweck versuchen gerecht zu werden.

Kultur entsteht in diesem Kontext nicht aus Worten, sondern aus Taten. Sie entsteht daraus wie wir uns verhalten und auf andere reagieren. Der weit verbreitete Irrtum lautet, dass ein konfrontatives Spiel eine bestimmte Form der Spielkultur hervorbringt. Dass man sich auf eine bestimmte Art gegenseitig ärgert und Frust empfindet. Dass man das Spiel auf eine bestimmte Art erlebt. Aber wir sind auch davon überzeugt, dass solche Erlebnisse von der jeweiligen Spielgruppe abhängig sind. Die richtigen Personen werden mit dem richtigen Spiel eine tolle Zeit haben, während eine andere Gruppe mit dem gleichen Spiel keinen Spaß haben wird.

Die Erkenntnis, dass unsere Spielkultur unser Spielerlebnis maßgeblich beeinflusst, ist weder neu noch kontrovers. Aber dass diese Spielkultur unsere Mitmenschen abschreckt, ist weniger weit verbreitet. Was wenn es nicht die Spiele selbst sind, nach denen Menschen entscheiden dem Brettspiel eine Chance zu geben?

Anders als eine Spielschachtel, kann man Kultur nicht einfach aus dem Regal ziehen, begutachten und wieder zurücklegen. Kultur kann – so lange sie nicht einer anthropologischen Studie unterzogen wurde – nicht einfach nachgelesen werden. Man muss sie beobachten, einschätzen und ihre vielschichtigen Bräuche, Riten und Werte aus dem gelebten Kontext heraus erlernen. Das klingt verkopfter als es ist.

Wir alle machen diese Dinge tagtäglich, wenn wir uns im öffentlichen Raum aufhalten. Wir nehmen unser Umfeld wahr und verhalten uns entsprechend. Unser Sprachgebrauch passt sich daran an, wo und mit wem wir sprechen. Eine rote Ampel an einer Kreuzung in Paris wird deutlich anders behandelt, als eine rote Ampel in Berlin. Die Funktion und Verkehrsordnung unterscheidet sich in den Ländern nur unwesentlich. Aber der Umgang damit ist als kulturelle Praxis zu erklären.

Was sind also die Bräuche, Riten und Werte unserer Spielkultur? Wie wird unsere Spielkultur von Außenstehenden wahrgenommen? Einer der zentralen Werte innerhalb der Szene ist der Gedanke des Wettstreits als treibende Kraft des Spiels. Spielregeln unterstützen das gelegentlich explizit, wenn Sieger und Verlierer als solche benannt werden. Aber ganz allgemein erlauben sie es diesen Wert vorzuleben, wenn das Spiel mit einer Form der Leistungsbewertung abschließt.

Spiele sind Werkzeuge, um unsere Spielkultur zu praktizieren. Wir sind es, die sie auf den Tisch legen, um sie als Leistungsbeurteilung zu nutzen. Da unser gemeinsames Spielen aber nicht in einer Blase existiert, sondern Teil unseres zwischenmenschlichen Miteinanders ist; resultiert das unweigerlich darin, dass diese Leistungsvergleiche und Hierarchisierung unser Miteinander beeinflussen.

Spielgruppe im luftleeren Raum

Womit wir die Krux des Ganzen langsam aufdecken. Es sind nicht die Spiele, die neue Menschen vom Medium abhalten; es ist die Spielkultur in der sie Anwendung finden. Was jedoch noch wichtiger ist, es die Spielkultur wie sie von Außenstehenden wahrgenommen wird.

Diese ist eine Spielkultur in der Regelhörigkeit selbstverständlich ist. Unbeabsichtigte Regelverstöße können im Nachgang einen Sieg oder eine Niederlage für ungültig erklären. Vorsätzliche Regelbrüche werden mit Ausschluss oder Spielabbruch geahndet. Die Regeln und ihre korrekte und von den Machern intendierte Anwendung liefern das unantastbare Fundament nach dem wir unser Spielverhalten auszurichten haben. Wie wir das Spiel im einzelnen Moment erleben oder empfinden darf sich nicht über den Primat des Regeltextes setzen.

Es ist aber auch eine Spielkultur in der die unausgesprochene Erwartung im Raum steht, dass alle Mitspielenden ihre Höchstleistung abliefern und danach beurteilt werden. Eine Erwartung, die oft dazu führt, dass Spielende ein hohes Maß an Kontrolle und Einfluss über den Spielverlauf suchen. Denn nur so können sie sicherstellen, dass ihre Höchstleistung fair und angemessen beurteilt wird. Nicht selten äußert sich das darin, dass jede noch so kleine Regel – insbesondere die Punkteabrechnung zum Spielende – bis ins kleinste Detail erklärt und verstanden werden will, bevor das Spiel beginnen kann.

Das Problem ist vielleicht nicht, dass Seltenspieler keine komplizierten Spiele und ihre Regeln lesen wollen. Es ist der Eindruck, dass sie es tun müssen, um am Spiel teilnehmen zu können. Als Vergleich: wie einladend wäre es im Internet aktiv zu sein, wenn alles den Eindruck erweckt, man müsse die AGBs jeder einzelnen Webseite exakt verstanden und verinnerlicht haben, um sie zu benutzen?

Unsere Spielkultur zu öffnen und einladender zu machen, kann nicht allein durch äußerliche Marker der diversen Repräsentation und nicht-stereotypen Darstellung erreicht werden. Ich will die Signalwirkung, die von solchen Veränderungen ausgeht, nicht kleinreden. Sie ist gut und wertvoll. Aber sie ist bei weitem nicht ausreichend, um die Hürden abzubauen, die sich aus der Spielkultur ergeben wie sie derzeit wahrgenommen wird.

Aber es ist arrogant und verfehlt zu glauben, dass „die Anderen“ zu empfindlich sind, um Spaß an richtig fiesen, konfrontativen Spielen zu finden. Es ist vermessen zu glauben, dass sich andere nur dann für ein Spiel interessieren, wenn man ihnen eine Identifikationsfigur im Spiel präsentiert. Spielinteresse ist nicht an Geschlecht, sexueller Identität, Ethnotyp oder Bildungsgrad gekoppelt.

Unsere Spielkultur drückt sich eben nicht in den Spielen, sondern in unserer Spielweise aus. Das ist es was Spiele attraktiv, einladend und offen für jeder Art von Mensch macht. In diesem Sinne, sollten wir uns darum kümmern welche Temperatur das Wasser hat, in dem wir schwimmen.


P.S. – Auslöser für den Gedankenschwall dieses Artikels war übrigens ein kurzer, aber knackiger Twitter-Thread von Katherine Cross.

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Georgios Panagiotidis
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