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Systemimmanent

Eine hoffentlich allseits bekannte Weisheit ist, dass man sich mit dem Auskennen sollte, was man macht. Wenn ich Spiele erfinde, dann ist es sehr hilfreich, wenn ich mich mit Spielen auskenne. Ich will nicht ausschließen, dass es möglich ist, gute Spiele zu erfinden, ohne selbst allzu viele Spiele zu spielen, aber es ist doch unglaublich viel schwieriger. Soweit nix neues. Außer dem puren Kennen von vielen Mechanismen, sollte man aber möglichst noch eine Ahnung, oder zumindest ein gutes Gefühl dafür haben, was die Stärken und Schwächen der einzelnen Teile sind: So kann man die Stärken herausarbeiten und die Schwächen abmildern. Doch mir sind in letzter Zeit doch ein paar Spiele über den Weg gelaufen, die offensichtlich die Schwächen nicht beachtet haben.

Nun ist das kein Problem per se. Eine systemimmanente Schwäche von kooperativen Spielen ist das sogenannte „Quarterbacking“, also dass ein Spieler, die Kontrolle an sich reißt. Das Vermeiden dieses Problems hat für einige sehr kreative Vertreter des Genres gesorgt (z.B. Space Alert oder Hanabi), aber Pandemic Legacy ignoriert dieses Problem komplett – und ist dennoch auf Platz 1 bei Boardgamegeek gelandet. Systemimmanente Schwächen lassen sich nicht immer umgeben (deshalb sind sie ja systemimmanent) und bei einem starken Spiel ist das auch nicht nötig. Aber nicht jedes Spiel ist ein Pandemic Legacy.

Ein konkretes Beispiel: Mehrheitenspiele: Vorteile des Mehrheitensystems ist es, dass es Züge flexibel macht (ich kann mich in mehreren Gebieten engagieren oder mich konzentrieren), dass eine gewisse Spannung immer dabei ist (behalte ich meine Führung?), dass sie relativ intuitiv sind (jeder weiß was mit „Mehrheit“ anzufangen“) und nicht zuletzt, dass sie ein hohes Maß an Interaktion ermöglichen, ja sogar Gemeinheiten zulassen, ohne dass es einen direkten Konflikt gibt, wo ein Spieler alles verliert und ein anderer alles gewinnt. Konflikt ohne Tränen sozusagen. Zudem sind an einem Konflikt nicht nur 2 Spieler beteiligt, was den „Wenn sich zwei streiten, freut sich der dritte“-Effekt mildert.

Mehrheitenspiele haben eine große systemimmanete Schwäche: Die Spielerreihenfolge sehr entscheidend: Der erste Spieler, der einsetzt, kann in der Regel überhaupt nicht abschätzen was nach ihm passiert. Er muss also raten. Aber er muss auch denken, um nichts zu verschenken. Damit haben wir ein Spiel, dass im prinzipiell von seinen Spielern verlangt das unplanbare zu planen und das sorgt schnell für Frust und/oder Beliebigkeit. Diese Unsicherheit nimmt dabei zudem immer weiter ab, bis der letzte oftmals genau weiß, was er mit seinen Figuren erreichen kann und was nicht: Er hat volle Planungssicherheit.

Wie gehen jetzt Spiele mit diesem Problem um? Der Primus der Mehrheitenspiele ist in meinen Augen immer noch El Grande. Hier ist die Einsetzreihenfolge stark davon abhängig, wie viele Leute man in seinen Vorrat bekommt – dadurch hat ein Spieler in einer ungünstigen Sitzposition eine Kompensation erhalten. Darüber hinaus gibt es aber noch ein paar mehr Mechanismen, die für etwas Planungssicherheit sorgen, etwa dass die Aktionsmöglichkeiten der anderen genau bekannt sind oder dass die Königsregion tabu ist. El Grande nutzt die Vorteile des Systems und schwächt die Nachteile entscheidend ab. Viele Mehrheitenspiele nutzen die Vorteile, kümmern sich aber nur rudimentär um die Nachteile: Bei Dakota etwa ändert sich lediglich die Sitzreihenfolge jede Runde. Aber da die Rundenanzahl unabhängig von der Mitspieleranzahl ist, sitzen die Spieler unterschiedlich oft in einer günstigen Position. Zudem sind die Runden nicht identisch und es gibt „wichtigere“ und „unwichtigere“ Runden. Besonders arg ist mir der Nachteil aber bei Jerusalem aufgefallen: Dort gibt es eine ziemlich entscheidene letzte Runde. Und hier weiß der Startspieler nicht nur nicht, wo eingesetzt wird, er weiß nicht einmal, wie viele Steine die Mitspieler überhaupt einsetzen – und wir reden hier über eine zweistellige Anzahl, die auf eine relativ hohe Anzahl von Feldern verteilt wird. Der Startspieler muss überlegen, wie er seine Steine optimal nutzt (und das kann dauern), aber letztlich schießt er mit seinem Zug ins absolute Blaue. Hier tritt der Nachteil daher besonders zutage.

Ähnliche Punkte lassen sich für jeden beliebigen Mechanismus, ja für jedes Genre aufstellen: Worker Placement oder Aktionspunkte bergen die Gefahr der Analysis-Paralysis. Historische Spiele müssen aufpassen, die Geschichte nicht vor die Spielbarkeit zu stellen. Engine Games müssen mit dem „Rich get richer“-Syndrom kämpfen usw. Sich dieser Probleme bewusst zu werden ist durchaus wichtig, fördert aber eben auch die Kreativität: Was könnte man alles anstellen, um dieses Problem nicht zu haben?

Natürlich sind diese Nachteile allgemeiner, je allgemeiner die Einteilung ist: „Worker Placement“ kann mittlerweile alles mögliche bedeuten, daher ist eine Angabe systemimmanenter Probleme zwangsläufig allgemein. Wenn ich aber verschiedene Spielarten betrachte, dann habe ich auch verschiedene Nachteile. Welche davon nehme ich in Kauf? Wie kann ich die wiederrum kompensieren? Wie kreativ das Beschäftigen mit einem systemimmanenten Problem macht, zeigt der Markt der Stichspiele recht eindrucksvoll. Stichspiele haben das Problem der Kartenhand: Wenn die Spieler auch nur ein wenig Spielkontrolle haben müssen, dann sollte der Erfolg nicht nur davon abhängen möglichst hohe Karten zu ziehen. Die Lösungsideen bilden den Marktr der Stichspiele: Reizen, Trümpfe, negative Punktwerte, „runde“ Systeme ohne echten „Höchstwert“, Addieren von gespielten Karten, identische Decks, Strafen für den Spieler mit den besten Karten, maximale Stichanzahlen etc pp.

Natürlich kann man nicht jeden einzelnen Mechanismus in einem Spiel ausführlichst bereits im Vorfeld beleuchten – aber es hilft schon, wenn man die Kernmechanismen einmal rein abstrakt hinterfragt. Und wenn das Spiel Probleme macht, hilft es auch, diese zu finden.

ciao

peer

Peer Sylvester
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