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„Development kills“?

Vor dem eigentlich Post eine allgemeine Ansage: Ich wurde in letzter Zeit häufiger gebeten meine Blogeinträge etwas zu teilen, der Übersichtlichkeit wegen. Dem werde ich Folge leisten und zumindest meinen Interviews einen eigenen Eintrag gönnen. Im Gegenzug veröffentliche ich dann auch mal was kürzeres (Interviews, Hausregeln oder so. Mal sehen) unter der Woche. Dennoch werde ich in meiner wöchentlichen „Kolumne“ durchaus nach wie vor mehrere Dinge mixen (so auch hier). Für den Leser bedeutet das: Auch mal weiter runterscrollen um zu sehen, ob da vielleicht noch was kommt ;-)

Vergangene Woche hat Aaron Lawn die These aufgestellt, Race to the Galaxy wäre vielleicht „überentwickelt“, also so viel verbessert, dass jetzt alle Ecken und Kanten fehlen würden. Chris Farrell hat ihm wiedersprochen und meinte, dass Aaron vielleicht „überausbalanciert“ meinen würde (Aaron wiedersprach).
Nun, ich glaube Aaron liegt falsch, aber aus anderen Gründen, als Chris meint.

Fangen wir aber erst einmal mit den Begrifflichkeiten an: Was heißt „Überbalanciert“ überhaupt, kann es sowas geben und wäre das wirklich schlecht?
Im allgemeinen ist eine Forderung an ein Spiel, dass es „Ausbalanciert“ ist. Damit ist erst einmal gemeint, dass alle Spieler dieselben Siegchancen haben und keiner durch sein Startkapital, seine Sitzposition oder das Spielbrett benachteilt ist. Vor allem die Sitzposition ist hier oft wichtig – Bei Siedler wurde z.B. durch das Auswahlverfahren der Startspielervorteil ausgeglichen. Meistens wird der Begriff noch erweitert und auf das Spielmaterial und die verfügbaren Strategien erweitert. Ist z.B. eine Aktionskarte deutlich stärker als der Rest, so gelten die Karten nicht als ausbalanciert. Es ist jedoch möglich ein ausbalanciertes Spiel mit nicht ausbalacierten Karten zu haben – das hängt davon ab, wie man diese Karten bekommt. Bietet ein Spiel mehrere mögliche Strategien an, so sollten diese gleich erfolgsversprechend sein. Gibt es nur eine sinnvolle Strategie ist das Spiel ebenso nicht ausbalanciert.
Kann es zu viel Balance geben? Die Antwort ist natürlich ein lautes JA! Wenn alle Optionen absolut gleichwertig sind, alle Karten immer gleich stark, kein Weg irgendwelche Nachteile hat, so bedeutet das nichts anderes, als das alle Spieler immer gleichauf sind. Ein Spiel bei dem es immer – egal was man macht – dieselbe Siegpunktanzahl gibt ist ebenso ausbalanziert wie langweilig. Unterhalb dieses Extremfalles gibt es eine Reihe von Spielen welche die Balance zu weit getrieben haben und bei denen sich das Gefühl ergibt, es sei letztlich ziemlich egal was man tut (Säulen der Erde ist ein prominentes Beispiel, wobei ich jetzt nicht diskutieren will, ob die Vorwürfe gerechtfertigt sind oder nicht).

Wie ist es nun mit der Entwicklung eines Spieles? Verliert ein Spiel den „Charakter“, die liebevollen Eigenschaften durch zu viel Entwicklung? Ich denke hier unterliegt der BGN-Kolumnist einem einfachen Denkfehler. Natürlich gibt es Spiele die durch die Verlagsbearbeitung schlechter geworden sind, u.a. auch weil der Verlag das Spiel einfacher und stromlinienförmiger machen wollte, die Abläufe verschlanken und das Spiel klarer machen wollte. Da kann es in der Tat vorkommen, dass das Spiel letztlich das verliert, was es zuvor ausgemacht hat. Das es die Identität verliert und das es im Einerlei der breiten Masse untergeht. Kommt durchaus vor.
Aber dabei handelt es sich um eine mangelhafte Bearbeitung, nicht um ein zuviel der Bearbeitung. Der Denkfehler ist nämlich, dass ein Spiel durch Bearbeitung immer vereinfacht wird, das Kanten abgeschliffen werden. Auch wenn das oft der Hauptkern einer Bearbeitung ist: Dem ist nicht so. Bei einer Bearbeitung können durchaus noch Elemente dazukommen. Dies kann zum einen einem Themenwechsel geschuldet sein: Das Thema wurde geändert, dazu fiel dem Autor ein passendes thematisches Element (etwa ein besonderes Gebäude oder eine Sondereigenschaft) ein, dass das Spiel letztlich erweitert. Es kann aber auch sein, dass bei der Verlagsentwicklung klar wird: Das Spiel ist gut, es wäre aber noch besser wenn es z.B. noch eine kleinere Bluffmöglichkeit gibt. Auch dadurch kommt ein neues Element ins Spiel und das Spiel wird erweitert.
Ich denke nicht, dass ein Spiel zu viel an Bearbeitung erfahren kann. „Richtige“ Bearbeitung ist schließlich ein positiver Prozeß. Natürlich muss der Bearbeitungsprozess irgendwann einmal aufhören – das Spiel soll ja auch noch erscheinen und irgendwann sind die Verbesserungen nicht mehr wahrnehmbar. :-)
Allerdings ist eine Bearbeitung ja kein Prozeß, der auf ein objektives Maximum namens „Perfektion“ hinstrebt, sondern vielmehr auch immer ein Produktorientierter Prozeß, der (ebenso wie die Spielidee selbst) stark von den Machern und Verbesserern abhängt. „Stone Age“ beispielsweise hätte sicherlich ganz anders ausgehen, wenn die Verantwortlichen bei GMT es bearbeitet hätten. Und noch anders, wenn sich Clemens Gerhards dem Spiel angenommen hätte. Insofern: Es kann eine Bearbeitung geben, die mir nicht behagt – das ist aber auch nicht zu viel Bearbeitung, sondern eine Bearbeitung in eine (für mich) nicht geeignete Richtung (Und ja: Das ist was anderes als eine mangelhafte Bearbeitung, Zielgruppe hin oder her!). Ich nehme an, das war es was Aaron Lawn meinte.

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Eine neue Rezension zu Liebe & Intrige von Goldsieber gibt´s hier: Link

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ciao
peer

Peer Sylvester
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1 Kommentar

  • Bezüglich des Umstandes, dass ein Spiel zu ausbalanciert sein kann, möchte ich auf die Aussage von Prof. Dr. Max Kobbert hinweisen, der in der Dokumentation der ersten Spieleautorentage in Weilburg schrieb, dass Ungerechtigkeiten im Spiel notwendig sind, um die Spannung zu erhalten.