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Earthborne Rangers

Autor*innen: Andrew Fischer, Brooks Flugaur-Leavitt, Andrew Navaro, Adam Sadler, Brady Sadler
Illustration: Joe Banner, Evan Simonet
Verlag: Frosted Games*
für 1-4 Spieler*innen
ab 12 Jahren
Spieldauer: 60-240 Minuten

Die Zahl an Gründen, weshalb Menschen oft, wiederholt und über lange Zeit hinweg spielen, ist nicht gerade klein. Für manche klugen Köpfe zeichnet sich aber ganz klar ein roter Faden ab: Spielen heißt Eskapismus erleben. Spielen bedeutet zumindest für eine kurze Zeit, der Realität zu entfliehen. Die kontrollierbare Welt des Spielens wird zu einem sicheren Hafen vor dem Alltag. Es wird ein Ort, den man sich mithilfe unterschiedlichster Spielethemen nach eigenem Gusto ausschmücken kann. Ein Thema ist die Natur. Sei es, indem wir eine kleine natürliche Einöde pflegen und aufbauen, oder weil wir sie vor industrieller Ausbeutung bewahren. Es sind Spiele, in denen die Natur ein Ort ist, an dem man lebt, statt ihn in ungebremsten Profitstreben zu zerstören. Anstelle eines aus den Fugen geratenen Ökosystems beschäftigen wir uns mit einer natürlichen Balance, in der es unsere Aufgabe ist, die Natur zu pflegen, sie zu kuratieren und in ihr Verbindungen zueinander zu finden. Alles das sind angenehme Vorstellungen, in denen man sich alleine oder auch mit anderen gerne wiederfindet. Hier gibt es Aufgaben, die man vollbringen möchte, Pflichten, denen man gerne nachkommen will oder auch Figuren, mit denen man interagieren möchte.

Earthborne Rangers ist ein Spiel, welches durch und durch der amerikanischen Spieldesigntradition verpflichtet ist. Das bedeutet, dass das World Building das Herz des Spiels und damit auch des Spielerlebnisses stellt. Der Aufbau einer fiktiven (oder zumindest fiktionalisierten) Spielwelt, die in sich schlüssig und dadurch verständlich und vorstellbar ist, spielt in diesen Spielen eine wichtige Rolle. Es geht darum, die Spieler*innen an einen anderen Ort und eine andere Zeit zu versetzen (nicht körperlich, sondern rein gedanklich und emotional). Das Spiel dient als Apparat, um genau das zu ermöglichen. Earthborne Rangers soll Vorstellungen wecken oder auch Geschichten präsentieren und uns – einem Buch nicht unähnlich – in sie eintauchen lassen. Das intensive Spielen kommt einem Erleben einer Fantasie gleich. Wir vergessen, wo und wer wir sind, und identifizieren uns uneingeschränkt mit unseren Figuren, ihren Herausforderungen und verorten uns emotional in dieser Welt, weit abseits unseres Spieltisches.

Die Parallelen zu Rollenspielen sind auffällig. Die amerikanische Brettspiel-Tradition ist Rollenspielen (und zum Teil auch ihren Ahnen, den Wargames) immer noch sehr nah. Das Spiel als interaktive Form der Narrative: eine dynamische Erzählung, die wir nicht nur tatenlos lesen, sondern in der wir Veränderungen bewirken können. In einer solchen Form der Erzählung tun wir mehr, als nur die nächste Seite umzublättern, wir wählen auch, welchen Pfad unsere Figur entlanggehen soll.

Innerhalb dieses Spielverständnisses existiert Earthborne Rangers und entsprechend sollte man es auch betrachten und verwenden. Die oberste Priorität ist das World Building und das Design des Spiels ist hauptsächlich das Gerüst, um darin zu interagieren. Die Ziele und Anreize, welche Earthborne Rangers setzt, sind der MacGuffin, dem man hinterherlaufen soll. Aber das Erlebnis, d.h. das Eintauchen in die fiktive Welt voller Zukunftsnostalgie, ist der Grund, weshalb man Earthborne Rangers überhaupt aus dem Regal holt und auf den Tisch packt.

Entsprechend ist die vielleicht wichtigste Frage zu Earthborne Rangers: Was ist das eigentlich für eine Welt, in die man hier eingeladen wird? Welche Ideen und Werte tragen diese Spielwelt? Was zieht sich hier als zentraler Gedanke durch die Bilder, Worte und auch Konflikte, die das Spiel ausmachen?

Auf den ersten Blick bedient sich Earthborne Rangers eines post-apokalyptischen Settings. Allerdings liegt der Niedergang der (uns bekannten) Welt so weit in der Vergangenheit, dass nur noch wenig an die Zeit erinnert, die zum großen Zusammenbruch geführt hat. Statt lebensfeindlicher Wüsten, grotesker Monster und todbringender Barbaren präsentiert Earthborne Rangers eine Flora und Fauna, in der Menschen einen Platz gefunden haben. Anstelle des morbiden und mit Ironie durchzogenen Zynismus eines Fallout präsentiert Earthborne Rangers ein „Danach“, welches hoffnungsvoll und beinahe idyllisch scheint.

Der eigentliche Eskapismus-Gedanke macht sich jedoch unausgesprochen spürbar: Earthborne Rangers ist ein post-kapitalistisches Setting. Ein Setting, in dem die Grundlagen für das Leben und Überleben nicht von einer gierigen Elite gehortet werden und die sie mit allen Mitteln verteidigen, um den eigenen Profit zu bewahren. Es ist eine Welt, die sich über die Gemeinschaft definiert. Ein Konzept, welches manchen nur noch unter dem Begriff „Community“ bekannt ist. Die gegenseitige Hilfe und Unterstützung ist – auch jenseits zwischenmenschlicher Marotten – eine Selbstverständlichkeit. Das gemeinsame Miteinander fußt nicht auf der Annahme, dass jede Handlung angerechnet und in gleichem Maße eingefordert werden kann. Mit anderen Worten: wir helfen anderen nicht, weil sie uns in Zukunft nützlich sein können, sondern weil sie Teil dieser Welt und damit von Wert sind.

Dieser idealistische Gedanke zieht sich durch die Ereignisse des Spiels. Als „Ranger“ (so die Bezeichnung unserer Figuren) handeln wir – im Einklang mit dem World Building – weil wir konstruktiv zur Gemeinschaft beitragen wollen. Earthborne Rangers bietet uns eine Spielwelt, in der wir aus Empathie heraus handeln können. Der Begriff „Wohlfühlspiel“ wird oft für seichte und konfliktfreie Beschäftigung verwendet, aber eigentlich findet er in einem Spiel wie Earthborne Rangers viel bessere Anwendung. Denn hier gibt es richtige Herausforderungen, Spannungsmomente und auch Niederlagen; aber sie stehen alle unter dem Deckmantel einer Spielwelt, welche ein positives, angenehmes und auch hoffnungsvolles Klima verbreitet. Es ist eine Spielwelt, in die man gerne eintaucht, weil man sich darin wohlfühlt.

Das waren jetzt einige Zeilen, in denen nur die Spielwelt und ihre Bedeutung für Earthborne Rangers besprochen wurde. Das ist natürlich nicht ohne Grund passiert. Denn in Spielen, die in dieser Tradition stehen, ist die Spielwelt von höchster Bedeutung. Aber wie sieht es mit dem Regelgerüst aus? Um diese Spielwelt erfahrbar zu machen, benötigt es Regeln, mit deren Hilfe wir interagieren können. Welche Angebote werden interessierten Spieler*innen hier gemacht?

In einem erschütternd erfolgreichen Akt des unfreiwilligen Gatekeepings ist das Erlernen von Earthborne Rangers eine Katastrophe. Das beginnt bereits bei dem Tutorial, welches empfiehlt, dass sich eine Person erst mit dem Spiel vertraut macht, bevor diese im Anschluss den Rest der Gruppe durch das Tutorial führt. Was sich wie ein etwas betagter Witz über Rekursion liest, deutet in Wirklichkeit jedoch auf ein viel grundlegenderes Problem mit Earthborne Rangers’ Regeln hin.

Denn auch wenn man gelernt hat, wie die unterschiedlichen Plättchen, Kartenarten und Auslagen auf dem Spieltisch zu behandeln sind, kommt man einem Verständnis des eigentlichen Spielerlebnisses kein Stück näher. Man muss bereits wissen, wie man Setting und Regelanwendungen derart zusammenfügt, damit daraus eine Spielwelt und eine Geschichte entsteht, um sich Earthborne Rangers zu erschließen.

Zu sehen: ein Ranger, eine Landschaft und das Schicksal

In letzter Vergangenheit hatte nur Die Crew eine vergleichbare Diskrepanz zwischen Regelerläuterung und Spielprinzipvermittlung. Allerdings hatte Die Crew zum einen den Vorteil, dass eine Partie kaum mehr als 10 Minuten benötigte. Zum anderen konnten die meisten Spielrunden aber auch auf die Stichspielerfahrung von einem oder mehreren Spieler*innen zurückgreifen, um den Sprung in das ganze Spiel zu ermöglichen. Die spielerfahrene Person, die Earthborne Rangers’ Tutorial als Einstieg in das Spiel empfiehlt, saß in vielen Spielrunden von Die Crew bereits am Tisch.

Auf ein derartiges Vorwissen kann Earthborne Rangers nicht bauen. Genaugenommen ist die Gruppe an Spielenden, welche das Spielkonzept zumindest in seinen groben Zügen kennen, auf jene beschränkt, die Living-Card-Games wie Arkham Horror oder Herr der Ringe: Das Kartenspiel ausreichend gespielt haben. Das Aufbauen und Erleben einer Spielwelt wurde dort ähnlich erarbeitet und weiterentwickelt.

Darum ist die Transferleistung vom Karten ausspielen, aufdecken und Plättchen verschieben hin zu einer erzählten und im weitesten Sinne erlebbaren Welt für diese Spieler*innen beinahe selbsterklärend. Ähnlich wie auch das Knobeln, Deduzieren und Kartenmerken für viele Stichspieler*innen derart selbstverständlich ist, dass es keine weitere Erwähnung benötigt. Offensichtlich muss man das tun, damit man das Spiel spielen kann. Natürlich ist die Unterscheidung von Landschaften, Personen, Ereignissen und Gegenständen offensichtlich, auch wenn sie für das ungeschulte Auge einfach nur nach Spielkarten aussehen, die man unterschiedlich auf dem Tisch verteilt hat.

Wer nicht auf vergleichbare Erfahrungen mit ähnlichen Spielen zurückgreifen kann, stößt schnell auf eine kaum greifbare Barriere, zu dessen Überwindung Earthborne Rangers keine Hilfe leistet. Die Abstraktionsschritte, die Earthborne Rangers macht, sind ohne etwas Übung und Unterstützung schwer nachzuvollziehen. Aus dem Spielgeschehen eine Geschichte herauszulesen, fällt deutlich einfacher, wenn man wie bei Descent – Legenden der Finsternis mit Terrain und Miniaturen hantiert.

Es ist sichtlich fordernder, mithilfe von ausliegenden Karten und ihrer relativen Position zueinander sich ein Bild davon zu machen, was in der Spielwelt gerade passiert. Genau dieses Erzählproblem bekommt Earthborne Rangers nicht richtig zu fassen. Damit ist Earthborne Rangers, trotz seines vielversprechenden und auch lobenswert optimistischen Hintergrundes, nur einer kleinen Gruppe an Spieler*innen vorbehalten, die das Vorwissen besitzen, um das Spiel in seiner Fülle genießen zu können.

Freunden des Spiels mag das Argument unter den Nägeln brennen, dass Earthborne Rangers nun mal kein Familienspiel ist. Es ist ein Spiel, welches sich an erfahrene Spielgruppen richtet, welche ebendiese konkreten Kenntnisse mit sich bringen. Die Zielgruppe für Earthborne Rangers sind Kenner und Expert*innen, welche mit Narrativen in diesen Kartenspielen keine Schwierigkeiten haben. Familien und Wenigspielende sollen sich von Earthborne Rangers gar nicht angesprochen fühlen.

Genau das ist Gatekeeping.

In Anbetracht der Sorgfalt mit der die Spielwelt von Earthborne Rangers versucht möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben sich in dieser Welt wiederzufinden, kann dieses Ergebnis nicht beabsichtigt sein.

Die große Schwäche von Earthborne Rangers ist nicht seine Komplexität. Denn komplexe Regeln lassen sich mit genug Zeit und Mühe erarbeiten. Die Schwäche findet sich im Spiel- und Erzählkonzept des Spiels, welches man Spieler*innen eigentlich erklären müsste. Es gibt mittlerweile eine große Menge an Erklär- aber auch Spielvideos, um diesen Bogen zu schlagen. Aber das belegt eher, dass das Spiel selbst diese Verständnislücke nur ungenügend zu schließen weiß.

Am Ende bleibt die Frage, ob Earthborne Rangers für jene, denen der Einstieg gelingt, auch ein lohnenswertes Spielerlebnis bietet. Was erwartet uns, wenn wir die Welt hinter den Spielmechanismen erkennen können? Wie anfangs bereits erwähnt, kehren wir mit dieser Frage zurück zur Spielwelt mit ihren inhaltlichen und thematischen Eigenschaften.

Wir sind Hüter, Bewahrer eines neuen Ökosystems, in dem Menschen sich wieder eingefunden haben. Als Spieler*innen entdecken wir die Logik dieser neuen Welt, in dem wir mit ihr interagieren. Wir versuchen uns an den Aufgaben, die uns gestellt werden und lernen aus den Konsequenzen, die unser Handeln nach sich zieht. Eine Vorgehensweise, die natürlich perfekt zu einem Brettspiel passt. Aber mehr noch, die sich sehr gut auf eine Erzählung übertragen lässt.

So wie wir Spieler*innen die Inhalte des Spiels erkunden und erlernen, wachsen auch unsere Figuren mit ihren Aufgaben und ihren Verbindungen zu anderen Charakteren und Ereignissen in der Spielwelt. Der gemeinschaftliche Charakter des miteinander Spielens findet in der fragmentweise erzählten Geschichte des Begleithefts ihr Echo. Aber diese wird, wenn man die narrativen Impulse nutzen kann, die sich aus dem Schnittpunkt aus Regelanwendung und thematischer Beschreibung ergeben, dank unserer Vorstellungskraft zu mehr als nur einer Geschichte. Es entfaltet sich eine ganze Welt, beinahe ein Universum, in das wir eintauchen können. Figuren zu denen wir mal Freundschaften und mal Rivalitäten aufbauen. Orte, die mal bedrohlich und manchmal beruhigend wirken können. Aufgaben, deren Erfüllung unseren Ehrgeiz und auch unser Verantwortungsgefühl ansprechen.

Earthborne Rangers lässt sich durchaus als spielerischer Schatz umschreiben, der einen oft, wiederholt und immer wieder an den Tisch zu locken weiß. Aber ähnlich wie ein Schatz, bleibt er den meisten verborgen und nur eine ausgewählte Gruppe an Spieler*innen weiß wie man ihn bergen kann. So bleibt Earthborne Rangers für zu viele Spielgruppen wenig mehr als eine Sage und das Spielerlebnis ein orientierungsloser Waldspaziergang.

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* – Frosted Games wurde gegründet von Spielbar.com-Mitglied Matthias Nagy, welcher auch für die Realisation des Spiels verantwortlich war.

Georgios Panagiotidis
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