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Tough Calls – Nach dem Untergang

Von: Diego Burgos und Margarita Pino

Verlag: Nice Game (Der Spiegeluniversumsverlag von Horrible Games?)

Für 3-5 Spielende ab 12 Jahren (regeltechnisch tiefer, inhaltlich würde ich eher ab 16 vorschlagen)

Spieldauer: 30-60 Minten, je nach Anzahl und Verbalität der Beteiligten

Oralität, also die mündliche Wiedergabe von Sagen oder das Erzählen von Geschichten, hat ja schon eine gewisse Tradition. Insofern ist es nicht allzu überraschend, dass auch Spiele existieren, die diese kulturelle Technik pflegen: Die passend benannten „Erzählspiele“. Dabei ist dieser Begriff sehr weit gefasst und schließt erst einmal alle Spiele ein, in denen überwiegend eine Geschichte erzählt wird, insbesondere auch Spiele jenseits „unserer“ zielorientierten Spielen. Nicht-zielorientierte Erzählspiele haben den reinen Zweck eine Geschichte zu erzählen – Rollenspiele sind da zum Beispiel eine Untergruppe (und in der dortigen Szene ist der Unterschied zwischen herkömmlichen Rollenspiel und Erzählspiel schon sehr stark verschwommen)

Das Hauptproblem aller Erzählspiele ist es, den Spielenden dabei zu helfen, eine gute Geschichte zu erzählen. Obwohl, ganz richtig ist es nicht – genau genommen ist das größte Problem, dass sich die Spielenden irgendwie einigen müssen, was sie für eine gute Geschichte, für ein gelungenes Spielerlebnis halten und was das gemeinsame Ziel ist. Regelbücher für Rollenspiele enthalten entsprechend oft Kapitel über „Was ist ein Rollenspiel eigentlich“ und „Was ist die Aufgabe des Spielleiters?“ und mittlerweile werden auch „safe spaces“ oder „dramaturgische Mittel“ und „Tipps für ein problemloses Spiel“ gegeben. Ein gutes Erzählspiel sollte den Spielenden entsprechende Mittel an die Hand geben, vor allem, wenn es in „unserem“ Brettspielbereich unterwegs ist, wo viele Leute nicht so Erzähl-trainiert sind.

Das kann zum Beispiel über eine restriktive Regelstruktur gelingen. Es war einmal z.B. hat genaue Regeln was erzählt werden kann, wie man sich gegenseitig unterbricht und was eigentlich das Ziel ist. Trotzdem habe ich oft erlebt, dass zumindest die erste Partie in einem „Durchmarsch“ mündet, wo eine Person anfängt, in einem großen Redeschwall Karten abwirft und dann gewinnt, ohne dass sich jemand traut, einzugreifen. Erst mit etwas Feedback und konzentrierteres Spiel klappt es dann hoffentlich besser in Partie 2 oder 4. Auf der anderen Seite steht Winter Tales, das versuchte einen entsprechenden Mechanismus als Kampfmechanismus zu verwenden und dabei grandios scheitert – „Erzählen“ ist kein „scharfer“ Mechanismus, der objektive Ergebnisse liefert. Zu viele ungeschriebene Gesetze wollten beachtet werden, die aber alle von den Spielenden erst einmal entdeckte werden sollten – Der Mechanismus wurde ausgehebelt, weil der Schwerpunkt des Spieles irgendwie nicht beim Erzählteil vermutet wurde.

Die meisten Erzählspiele auf dem Markt sind weniger restriktiv aufgebaut: Sie basieren oft auf einen „Prompt“ , also einen Hinweis, auf den sich die Spielenden beziehen oder der sogar Worte oder Begriffe vorgibt, die verwendet werden müssen. Selbst ein Apples to Apples und verwandte Spiele haben genaugenommen einen Prompt, auf den die Spielenden mit Karten Antworten – die „Erzählung“ besteht also nur aus einem vorgegebenen Wort, dass in einen Satz eingefügt wird.

Da die Qualität einer Erzählung nun nur begrenzt objektiv messbar ist (Das einzige Spiel, was mir einfällt, dass dies zumindest in Teilen versucht ist InVers, ein Gedichtspiel, bei der auch zahlreiche Punkte für Versmaß, Reimstruktur usw. vergeben werden1), findet die Wertung oft rein subjektiv statt – die Mitspielenden entscheiden in irgendeiner Form, was sie für die „beste“ Geschichte halten.

Damit ein Spiel nun den Spielenden beim Erzählen einer Geschichte hilft und so ein befriedigenden Spielerlebnis schafft, müssen gerade diese beiden Konzepte „sitzen“, damit das Konzept nicht zu fragil wird.

Bei Know-it-all-Movie critic sind zum Beispiel die Prompts in Verbindung mit dem Spielziel – ein Filmkritik über einen fiktiven Film zu erschaffen – so klar, dass es recht leicht fällt, sich etwas auszudenken. Die Wertung fühlt sich aber unnütz und angepappt an. Das ist aber noch besser als bei Spielen wie Who would win, Cat& Chocolate oder das erwähnte Apples to Apples, wo eine Person oder die Gruppe per Abstimmung entscheidet, wem sie den Punkt geben will. Da aber gar nicht klar ist, nach welchem Kriterien man entscheiden sollte – das lustigste, das originellste oder  etwas was tatsächlich funktioniert und einigermaßen realistisch ist? – ist die Wertung extrem unbefriedigend und es kommt leicht zum unausgesprochenem Vorwurf nach Sympathie zu entscheiden.

Besonders gut funktionieren beide Elemente bei The big idea (zumindest in der Urfassung, die aktuelle Variante kenne ich nicht): Die Prompts sind extrem präzise und bilden eine verrückte Erfindung. Die Frage hier ist : Worin würde ich investieren? Also, welche Erfindung würde wirklich Geld machen? Das ist eine klare Frage, die ich zumindest für mich gut beantworten kann.

Tough Calls: Nach dem Untergang spielt nun – wie der Titel andeutet – nach dem Untergang der Menschheit. Dabei sprechen wir für eine Fraktion unter den wenigen Überlebenden. Was genau passiert ist, ist szenarioabhängig, vielleicht stecken wir in einem Bunker fest, vielleicht auf einer verlassenen Ölbohrinsel, vielleicht werden wir durch Aliens terrorisiert. Dies wird recht gelungen durch kurze, aber gut geschriebene Texte eingeleitet. Als ersten Prompt endet der Prolog mit einer grundsätzlichen Frage, zu der wir uns positionieren – und von den anderen Mitspielenden abgrenzen – müssen. Das klappt erstaunlich gut, auch bietet die Regel einige Tipps, für weniger erzählversierte Personen.

Im eigentlichen Hauptspiel wird dann reihum eine allgemeine (d.h. vom Szenario unabhängige) Frage gestellt, zum Beispiel wie wir in unserer Lage das Wissen konservieren oder die Künste fördern wollen. Bei der Beantwortung sollte man möglichst der Linie folgen, die durch die Eingangsfrage beschritten wurde. Wie gut das funktioniert, hängt ein bisschen davon ab, wie Rollenspielerfahren man ist, denn die erste Frage gibt nicht immer automatisch eine Richtung für den Rest vor. Anschließend wird abgestimmt und zwar geheim. Das beseitigt immerhin den Druck, wenn man nicht für den besten Kumpel stimmt. Durch die Assoziation mit einer Demokratie hilft es aber auch sich für den Beitrag zu entscheiden, den man am ehesten folgen würde. Allerdings ist das nicht unbedingt der Beitrag, den man für am „überzeugensten“ hält. Diese Abstimmungsunschärfe bleibt also.

Das Spiel endet mit einer Frage, die speziell auf das Szenario zugeschnitten ist und einer Abstimmung, welche Fraktion insgesamt am überzeugensten war (man stimmt natürlich niemals für sich selbst). Diese letzte Frage ist vom Prompt her sehr gelungen und ich hätte mir mehr szenariobasierte Fragen gewünscht. Besonders schade aber ist, dass das Spiel zwar mit einer besonderen Frage, aber dann doch nur mit einer Abstimmung endet, die genau genommen, nichts auflöst: Soll man jetzt annehmen, es kommt genauso, wie die gewinnende Fraktion es angekündigt hat? Werden die Bösen besiegt, ist alles wieder gut, weil es versprochen wurde? Das passt kaum zur Tonalität. Daher muss man damit leben, dass dieser Film mit der Szene endet, wo die Helden sich für einen Plan entschieden haben. Ob Tragödie oder Heldenepos bleibt offen. Das ist in diesem Zusammenhang schade. Auch weil die im Titel angedeutete moralischen Dilemma so ohne Auflösung bleiben. Wohin der Trolley fährt, wird per Abstimmung entschieden. Was das bedeutet, bleibt offen.

Vielleicht verlange ich an dieser Stelle von Tough Calls auch zu viel. Es will eben „nur Fragen stellen“, keine Antworten liefern.

Als Erzählspiel vermag es mehr zu überzeugen, als die Cat&Chocolate-Fraktion. Aber gerade weil die Dinge, die das Spiel macht, so gelungen sind, stechen die Dinge, die das Spiel nicht macht, so deutlich hervor.

 

 

1Außen vor lasse ich Spiele, wo die Geschichte mehr als reiner Selbstzweck ist, z.B. Merkspiele wie Die Story vom Pferd oder Esel-Brücke oder Ein bisschen Mord muss sein, wo sie dazu dient, Begriffe zu verschleiern.

 

 

 

 

Peer Sylvester
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