Verlag: Sylex / Huch!
Autoren: Julien Prothière, Jean-Philippe Sahut
Spielerzahl: 2 Spielende
Alter: ab 14 Jahren
Dauer: 30 Minuten
Intertextualität beschreibt das Phänomen wenn eine Erzählung sich auf die Inhalte einer anderen Erzählung bezieht, und diese als Teil der eigenen Erzählwelt behandelt. In der modernen Popkultur ist der Begriff „Crossover“ eine gängige Umschreibung dieser Idee. Wenn etwa Batman (in Wirklichkeit: Bruce Wayne) im Comic von Superman (geheime Identität unbekannt) auftritt, so kann man das als Intertextualität umschreiben. Erweitert man dieses Konzept auf unterschiedliche Medien, so spricht man von Transmedialität: eine Figur bzw. eine Geschichte wird in unterschiedlichen Medien umgesetzt.
Romeo & Julia ist ein kooperatives 2-Personenspiel in dem es um ein junges Liebespaar aus Verona geht, welches auf Grund der Fehde ihrer beiden Familien ein tragisches Ende nimmt. Ein mittlerweile verstorbener Engländer aus Stratford-upon-Avon hat diese Geschichte erstmals auf die Bühne gebracht. Nun liegt es an uns diese Geschichte neu zu interpretieren. Denn das Interessante an Romeo & Julia ist, dass es keine schlichte Nacherzählung des Theaterstücks darstellt.
Stattdessen nehmen zwei Spielende hier die Rolle der erzählenden Instanz ein, welche das Schicksal von Romeo Montague und Julia Capulet spinnt. Völlig frei ist man in seiner Erzählung dabei nicht. So ist es etwa nicht möglich Mercutio mit Julia zu verbandeln. Oder die Geschichte in einem stilisierten Miami spielen zu lassen in dem die jungen Männer sich mit Pistolen statt mit Schwertern bedrohen. Um mal ein völlig abstruses Beispiel zu wählen. Aber es ist möglich mit Hilfe der Spielregeln den Ausgang der Geschichte zu verändern.
Im Kontext eines Wettstreits mag das trivial wirken. Ein Spiel ändert nicht seinen Kern, nur weil mal die eine oder die andere Seite gewinnt. Aber im Rahmen einer Geschichte ist ein neues Ende eine fundamentale Verschiebung dessen worum es in der Geschichte geht und zu welchem Genre sie gezählt wird. Man stelle sich das Ende von Star Wars vor in dem der Todesstern nicht explodiert und die Rebellen scheitern. Oder das Ende von Pirates of the Carribean in dem Jack Sparrow im Knast landet und Elizabeth Swann mit Captain Norrington verheiratet wird.
Eine vergleichbare Verschiebung findet hier statt, wenn das Spiel drei mögliche Ausgänge bietet. Zum einen kann die Geschichte den gleichen Lauf nehmen wie es das Theaterstück vorgemacht hat. Dann hat man verloren und Romeo & Julia sind tot. Aber man kann auch das Leben der beiden retten, was jedoch auf Kosten ihrer Liebe geschieht. Auch dann hat man verloren. Zu guter Letzt gibt es auch die Möglichkeit das Spiel zu gewinnen. Das passiert, wenn sich Romeo & Julia in einander verlieben und es gleichzeitig gelingt die Häuser Montague und Capulet zu versöhnen.
Die Gewichtung dieser möglichen Auflösungen ist dabei eng damit verknüpft wie schwer es ist, diese zu erreichen. Das spielende Duo muss sich durchaus anstrengen, um die Geschichte zu einem versöhnlichen Ende zu führen. Romeo & Julia ist ein anspruchsvolles Spiel. Zum einen ist das Begreifen und Verinnerlichen der unterschiedlichen Spielmechanismen nicht so schnell getan wie etwa in einem Spiel wie Hanabi. Der Spielablauf und auch seine Einschränkungen sind hier deutlich strenger und ihre Einhaltung zwingend. Nur so kann man sich auf die logischen Schlussfolgerungen, die man beim Spielen ziehen muss, verlassen. Jede Handlung des Gegenübers gilt es einzuordnen, zu bewerten und dann die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, um so in Kooperation das glückliche Ende für Romeo & Julia zu erreichen.
Damit bewegt sich Co-Designer Julien Prothière in einem ähnlichen Gefilde wie in seinem schwer unterschätzten Vorläufer Kreus (2016). Aufmerksames Beobachten, kluge Schlussfolgerungen und die richtige Prise Glück halfen auch hier zum Erfolg. In Romeo & Julia gilt es mit Hilfe der gespielten Handkarten Spielsteine so zu verschieben, dass sich die verfeindeten Familien nicht über den Weg laufen, während sich die beiden Liebenden heimlich treffen.
Sollten wir mit der ursprünglichen Geschichte vertraut sein, so verstärkt sich unsere Motivation das tragische Ende abzuwenden. Wir wollen nicht dafür verantwortlich sein, dass die beiden jungen Leute sich das Leben nehmen. Es geht für uns nicht nur um Sieg oder Niederlage, sondern auch um die emotionale Wirkung die der Ausgang der Geschichte für uns haben wird. Da passt es auch zu den romantischen Idealen dieses jungen Paares, dass ein Leben ohne Liebe einer Niederlage gleich kommt.
Aber es ist nicht das Spiel, das uns dabei die Geschichte erzählt. Noch sind wir es, die unsere Aktionen als Geschichte nacherzählen. Die Geschichte erzählt sich durch unsere Spielhandlungen selbst. Wir entsenden Bruder Lorenzo in den Salon der Montagues, oder Julia in die Kirche. Wir sorgen dafür dass sich der Hass nur auf der Straße in Verona breitmacht und Romeo sicher vor Julias Balkon wartet. Die Geschichte wird in den Momenten erzählt in dem wir in Aktion treten.
Es liegt dabei in unserer Hand, ob wir dabei nur die Mechanismen und ihre Verzahnungen wahrnehmen, oder die vor uns ausgebreiteten Mittel nutzen, um die Geschichte aktiv mitzuerleben. Im Spiel arrangieren wir die Versatzstücke des Theaterstücks neu, um unsere Interpretation der Geschichte zu erspielen. An Stelle von Dialogen, die die Figuren auf feinste Art zeichnen, versuchen wir die Entscheidungen unseres Gegenübers zu verstehen und nachzuvollziehen. Statt überraschender Wendungen in der Handlung, sehen wir unsere Chancen mit Anblick unserer frisch gezogenen Kartenhand schwinden oder erkennen auch plötzlich großartige neue Möglichkeiten darin.
Wir lehnen uns dabei nicht bequem zurück und beobachten das Melodrama zwischen den Figuren aus der Distanz, sondern stecken unmittelbar drin. Wir leiden mit, weil wir wissen, dass die Figuren am Ende leiden werden. Wir mögen uns nicht zwingend selbst als Romeo oder Julia verstehen, aber wir sind zumindest für ihr Liebesglück verantwortlich.
Diesem Spielerlebnis liegt aber auch die Überzeugung zu Grunde, dass Spielen auch immer eine Geschichte zur Folge hat. In diesem Fall ist es eine weitläufig bekannte Geschichte, die man im Theater, im Kino oder auch in der Schulaula auf unterschiedliche Art inszeniert gesehen hat. Mit Romeo & Julia haben zwei Spielende nun die Chance ihre Version der Geschichte zu erschaffen und vielleicht das Ende zu erreichen, dass den beiden jungen Liebenden immer wieder verwehrt wurde.
Das geschieht auf hohem spielerischen Niveau, aber auch mit deutlicher Intensität, wenn sich die beiden Spielenden auf dieses ungewöhnliche Spielerlebnis einlassen. In der edel aufgemachten Spielschachtel steckt nicht nur eine knifflige Herausforderung für logische Denker, sondern auch eine Geschichte, welche die eine oder andere Emotion wecken kann. Damit wird zumindest angedeutet, was in einem Spiel möglich ist.
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