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Get on Board New York & London

Verlag: Iello
Autor: Saashi
Spielerzahl: 2-5
Alter: ab 8 Jahren
Spieldauer: 30 Minuten

In manchen Kreisen hält sich noch immer fest die Ansicht, dass ein Spiel, welches mit unterschiedlichen Themen auf den Markt kommen kann, eines sein muss, bei dem das Thema austauschbar sei. Als wäre die Wirksamkeit eines Themas daran ablesbar, ob ein anderes Thema mit den gleichen Regeln auch funktionieren würde. Die Tatsache, dass ich mit dieser Beobachtung die Kritik für Get On Board New York & London einleite, sollte einen Hinweis darauf geben, wie viel ich von dieser Ansicht halte.

Die Ausgangslage ist ein Spiel des japanischen Designers Saashi, welches erstmal unter dem Namen „Let’s Make a Bus Route“ auf den Markt kam. Mit Get on Board New York & London erscheint nun eine deutsche (und vermutlich auch internationale) Version, die grafisch überarbeitet und inhaltlich leicht modifiziert wurde. Die Änderungen an den Regeln sind eher subtil, als spielformend. Selbst der auffällige Schritt weg von einem gemeinsamen, abwischbaren Spielplan und hin zu einem mit schmalen Holstäben belegbaren Straßennetz einer westlichen Großstadt, verändert das Spielgefühl allein in Nuancen. Zugegeben, die haptische Dimension ist eine andere, aber zumindest in diesem Saashi-Design war der haptische Teil kein zentrales Element des Spielerlebnis. Das gemeinsame Spielbrett diente der Orientierung und der gemeinsamen Aufmerksamkeit. Ob man darauf schrieb, oder sorgfältig sein Stäbchen legte, spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Die grafische Überarbeitung, die jedoch stattfand bzw. die thematische Internationalisierung (Verwestlichung?), zeigt hier weit mehr Wirkung. Statt unsere Busroute durch Kyoto zu führen, haben wir es hier mit zwei mehr oder weniger klaren Fixpunkten in der gemeinsamen Vorstellungswelt des westlichen Spielpublikums zu tun: New York und London.

Beides Orte, die in der Vorstellungskraft der meisten Mitteleuropäer beinahe überlebensgroß vorhanden sind. Zumindest im direkten Vergleich zu Kyoto und in manchen Fällen sogar dem eigenen Wohnort. Unsere Popkultur ist stark mit Bildern, Stimmungen und Narrativen in diesen Städten aufgeladen. Gerade New York vereint unzählige Verweise aus Büchern, Filmen und Musik auf sich und ist selbst Spieler*innen ein Begriff, die nie einen Fuß in die vereinigten Staaten gesetzt haben. Selbst fiktive Städte wie Gotham City oder Metropolis existieren als Zerrbilder New Yorks.

Ähnliches gilt auch für London. Wer nicht selbst in einer englischen Stadt wie Liverpool, Birmingham oder Manchester gelebt hat, wird diese Orte vor allem als Variation Londons vor Augen haben. Ob in ihren Außenbezirken oder ihrer schmalstraßigen Innenstadt, unsere Vorstellung dieser beiden Städte ragt weit über die fassbare Realität dieser Orte und ihrer tatsächlichen Geschichte hinaus.

Noch kommt sich in London niemand in die Quere

Aber Get on Board ist als Spiel auch nicht daran interessiert das Buslinien-Netz abzubilden oder die Abwägungen zu modellieren, mit denen sich ihre Stadtplaner auseinandersetzen mussten. Stattdessen hat die Wahl dieser beiden Städte zur Folge, dass sie unsere Vorstellungskraft direkt anspricht. Man mag den Wechsel von Kyoto nach New York/London für eine Marketingentscheidung halten, aber dann müsste man viele vielleicht sogar alle Designentscheidungen, die ein Spiel formen, gleichermaßen herabwürdigen. Von der Materialwahl, zur art direction, von der Regelauswahl und der Entscheidung wie komplex oder zugänglich die Regeln zu sein haben. Alles an einem Spiel lässt sich, wenn man nur geringschätzig und abwertend genug sein will, darauf zurückleiten, Konsumenten zu locken und sie zum Kauf zu bewegen.

Glücklicherweise ist eine Kritik aber nicht der Versuch aus dem Spiel eine Intention, einen Gedankengang oder eine These herauszulesen, so wie es meine Yiayia früher aus dem Kaffeesatz tat. Es geht viel mehr darum zu schauen welche Dinge das Spiel ausmachen und seine Wirkung auf uns formen. Anders gesagt: der thematische Tapetenwechsel vom stilisierten Kyoto in das pop-moderne New York/London verändert unser Spielgefühl.

Die Verweise mit denen wir auf dem Spielbrett konfrontiert werden, sind nicht mehr die gleichen. Wenn wir auf das Spiel schauen, formen wir zwischen den Spielsteinen, den abgeholten Bus-Passagieren und ihrem Zielort unweigerlich Sinnzusammenhänge. Wir artikulieren kleine erzählerische Momente, die eine andere Farbe und Tonalität besitzen als sie es in „Let’s Make A Bus Route“ tun. Wir sind nicht mehr in einem Ort, den vielleicht nur der Japan-Tourist oder japanophile Mitteleuropäer kennt, und sofort mit Assoziationen füllt. Kyoto ist für mich nur die Schwester-stadt zu Tokyo und beide existieren für mich nur in vagen Verweisen, die andere Leute darauf machen, nachdem sie dort gewesen sind.

Stattdessen legen wir Busrouten in New York / London aus. Das ist mit dem Umweg über Filme und Fernsehserien greifbar. Der 60er Jahre pop art Stil, erinnert mich vage an die animierten Vorspänne von Filmen aus diesem Jahrzehnt. Von „Der rosarote Panther“ bis zu „Vertigo“ oder „Psycho“. Das alles hat ein gewisses Retro-Flair, eine Zuflucht in eine durch die Popkultur am Leben gehaltene Vergangenheit für die vermutlich jeder der hier gerade mitliest zu jung war um sie mitzuerleben. Get on Board New York & London spielt in einer Fantasieversion der jeweiligen Städte, die in unseren Köpfen nistet. Eine Fantasieversion, die darauf gewartet hat, dass wir ihr endlich ein funktionierendes Buslinien-Netz aufbauen. (Die Frage, ob es reale Orte gibt, die wir nicht als Fantasieversionen in unseren Köpfen nachbauen, wenn wir ein Spiel spielen, überlasse ich dem geneigten Leser als Hausaufgabe.)

Im Laufe des Spiels platzieren wir unweigerlich unsere Holzstäbe entlang der gleichen Route wie ein*e Mitspieler*in. Dafür gibt es am Ende des Spiels Minuspunkte, da wir so zu Stau und Verstopfungen in der Innenstadt beigetragen haben. Umgehend haben wir Bilder vor Augen, wie eine solche Situation aussehen könnte. Der Nachdruck mit dem ein solcher Stau in anderen Filmen für Unmut in der Erzählung sorgte, macht es umso plausibler und auch akzeptabler, dass man dafür mit Minuspunkten gestraft wird.

Der eher unterdurchschnittliche Erfolg der Snake Inc.

Auf unseren Punktezetteln wird außerdem noch zwischen Studentinnen, Seniorinnen, Touristen und Männern in Anzügen, die ihrem Bürojob nachgehen unterschieden und die allesamt Busse nutzen, um sich in der Stadt zu bewegen. Unser Blick auf das Spiel erlaubt es nur selten ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Get on Board New York & London fordert nicht dazu auf lange Erzählungen darüber zu spinnen, was für Schicksale das sind, die die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Die Touristen haben keine Namen, sondern nur die immer gleiche Kamera um den Hals. Die Studentinnen tragen auch keine Anzeichen dafür an den kulturellen und sozialen Veränderungen teilzunehmen, die in den USA dieser Zeit präsent waren. Hinter den Hut-tragenden Büroangestellten lässt sich die repressive Maskulinitäts-kultur der Zeit bestenfalls erahnen und keine der im Bus reisenden Senioren, suggeriert die etwa 25 Jahre zurückliegenden Traumata, die vermutlich der Grund sind, weshalb Seniorinnen in ihrer Freizeit anscheinend partnerlos durch die Stadt fahren. (Ob der fehlenden LBTQIA+ Repräsentation kann man sich wahlweise auf die Epoche beziehen, welche hier Pate stand oder eben auf die Tatsache, dass selbst ein Brettspiel im Jahre 2022 an seine Grenzen stößt, wenn es darum geht die gesamte Bandbreite gesellschaftlichen Lebens adäquat abzubilden oder zu suggerieren.)

Und dennoch.. obwohl das Spiel weder dafür konzipiert ist, noch ausdrücklich Angebote dafür im Spielmaterial verankert, erzählen wir uns meist ab der zweiten Hälfte der Partie Anekdoten, Momentaufnahmen und Vignetten aus dem Alltag unserer Busroute. Eine sich durch die Straßen schlängelnde Fahrt, die sich oft ganz und gar anders entwickelt, als wir es eigentlich geplant hatten. Die Narrative findet, wie auch das Leben geklonter Rieseneidechsen, die sich wahnwitzige Milliardäre als Freizeitattraktion herzüchten, einen Weg.

Dieser Weg sind wir. Als Spieler*innen erzählen wir die Geschichte unseres Spiels selbst. Wir sind es; die das Spiel erleben. Wir sind es die aus den potentiellen Möglichkeiten, wie sich das Spiel entwickeln könnte, eine auswählen und in Tatsachen überführen. Wir sind es auch, die darüber entscheiden was es bedeutet, dass unser platziertes Stäbchen nun nach Norden statt nach Süden führt. Unsere Erzählung nimmt in dem Moment Form an, wenn wir die Angestellten vor ihrem Bürogebäude abladen; oder die fünfte Seniorin abholen, um sie durch die Stadt zu chauffieren und in Erinnerungen schwelgen zu lassen.

Wir entscheiden, ob eine solche Erzählung nur in unserem Kopf stattfindet, oder von uns laut ausgesprochen wird, damit alle am Tisch daran teilhaben können. Wir sind es, die an der Schwelle zwischen dem Spiel als Optimierungspuzzle mit Flip’n’Write-Charakter und einem kurzweiligen Abtauchen in ein imaginiertes New York oder London stehen. Ein Spiel in dem das Auslegen unserer Busroute vor allem durch absehbare, aber nicht beeinflussbare Kartenvorgaben bestimmt wird. Gleichzeitig versuchen wir nun unsere Passagiere in der richtigen Reihenfolge und Menge an die richtigen Orte zu führen.

Über diese Erzählschwelle zu gehen ist zu einem gewissen Teil dem persönlichen Naturell der Spielenden geschuldet. Manche können nicht anders als hinter den verschachtelten mathematischen Zusammenhängen vor allem die farbenfrohen Zeichnungen und die mit angenehm viel Sorgfalt platzierten Spielstäbe zu sehen. Auf andere wirken die ästhetisch gefälligen Farben und Formen nur kurz, bevor sie sich wieder der Optimierung ihrer Punkteroute widmen. Wieder andere müssen das Spielerlebnis mit den Namen der Orte, die der Bus passiert, umschreiben oder auch den frei erfundenen Namen und Persönlichkeiten der Menschen, die in diesen Bus steigen. Aus den unbestimmbaren Puzzlesteinen der Halberinnerung und der eigenen Kreativität, setzen wir lebhafte Eindrücke von Orten zusammen, die für viel Freude sorgen.

Der ÖPNV nimmt in New York langsam Formen an

Es ist die Kreativität der spielenden Personen, die hier den Ton und auch die Tiefe des thematischen Erlebnisses angeben. Das Spiel selbst bietet dafür aber einen dankbar einfachen Zugang. Zumindest für die unter uns, die mit Populärkultur groß geworden sind, die Städte wie New York oder London immer und immer wieder in den Mittelpunkt stellte.

Was jedoch die Knobelnden wie auch die Erzählenden vereint, ist das Gefühl, dass Get on Board New York & London ein Spiel ist, welches sich durch Sorgfalt und Präzision auszeichnet. Die Elemente des Spiels wirken nicht beliebig oder austauschbar, sondern bewusst platziert und arrangiert. Der niedlich-kindliche Zeichenstil aus Lets Make A Bus Route (von Takako Takarai) wurde durch die nicht minder verspielten Zeichnungen und Farben von Monsieur Z ersetzt. Beide vermitteln – unabhängig persönlicher Vorlieben der Spieler*innen – eine wohlige und freundliche Stimmung. Es ist eine Mischung aus augenzwinkernder Verspieltheit wie auch souveränem grafischem Handwerk.

Get on Board New York & London lässt sich vielleicht auch nur so beschreiben: eine verspielte und charmante Knobelei, die gerade aus ihrer Schlichtheit sehr viel Genuss zu schaffen weiß. Es ist eine unaufgeregt präsentierte Spielperle, aber deshalb nicht weniger wertvoll.

Georgios Panagiotidis
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