Verlag: Roxley Games / Giant Roc
Autoren: Martin Wallace, Gavan Brown, Matt Tolman
Spielerzahl: 2-4 Spielende
Alter: ab 14 Jahren
Dauer: 60-120 Minuten
Brass: Birmingham spielt während der industriellen Revolution im England des 19. Jahrhunderts: der Blütezeit des Kapitalismus. Als Großindustrieller eröffnet man neue Märkte in dem man in die Infrastruktur des Landes investiert. Dafür braucht es Kohle und Stahl. Pfiffig ist, wer schnell die steigende Nachfrage nach diesen Rohstoffen bemerkt. Denn dann positioniert man sich so, dass man davon profitiert, dass andere Englands Wirtschaft aufbauen. Im Idealfall macht man mit den eigenen Fabriken Geld und profitiert gleichzeitig davon, dass andere die ihren aufziehen.
Diese Verflechtung aus Angebot und Nachfrage an Ressourcen auf Anhieb zu durchschauen ist nicht einfach. Es wird sogar dadurch erschwert, dass mehrere Industriearten gegründet und weiterentwickelt werden wollen. Jede davon mit anderen finanziellen Anreizen. Zusätzlich muss man geografische Einschränkungen und Gewichtungen auf dem Spielbrett im Auge behalten. Eine feine Unterscheidung, die man erst mit mehr Spielerfahrung richtig einordnen kann. Zusätzlich muss man auch beachten welche Veränderungen und Möglichkeiten sich ergeben, wenn jemand neue Vertriebswege zwischen Orten baut. Man muss wissen welche Ressourcen und Aktionen über fremde Anbindungen möglich sind und welche nicht. Man muss beachten unter welchen Bedingungen Ressourcen vom Markt gekauft werden müssen, dürfen und wann nicht. Zu guter Letzt muss man auch beachten wann man gezwungen ist Ressourcen der Konkurrenz zu verbrauchen (und damit für andere Profit generiert) und wann das nicht der Fall ist.

Alles das sind die Grundlagen des Spiels. Taktische Feinheiten bauen erst später darauf auf. Strategische Tiefe sollte man sich erst nach wiederholtem Spiel zutrauen.
Darum kann man sich der anspruchsvollen und komplexen Herausforderung des Spiels nicht schon nach der ersten Partie stellen. Meine durchaus erfahrene Spielrunde brachte trotz der (formal umfassenden, aber didaktisch sehr eigentümlichen) Anleitung den Spieleinstieg nur mit Mühe und Verwirrung hinter sich. Wer mit weniger Spielerfahrung startet und den einen oder anderen Regelmechanismus zum ersten Mal kennenlernt, wird mehrere Abende benötigen, um das Spiel erstmals fehlerfrei abzuwickeln.
Brass: Birmingham ist ein Spiel für Leute, die sich von einem ausschweifenden Regelwerk nicht unterkriegen lassen. Ein großer Ruf eilt dem Spiel voraus, denn es wird auch gerade in der Szene – hier repräsentiert durch die Boardgame Geek Bestenliste auf der Brass: Birmingham derzeit Platz 3 von über 30,000 einnimmt – hoch geschätzt. Es ist die Modernisierung des Designs, mit dem Martin Wallaces Ruf als herausragender Spielemacher zementiert wurde. Selbst 10 Jahre nach Erscheinen weiß es abgebrühte und knallharte „Experten-Spieler“ zu begeistern und zu faszinieren. Man muss sich aber durch einige unruhige Spielrunden beißen, um herauszufinden warum das so ist.
Das gelingt trotz einer unverzichtbar langen Lernkurve, was eine Kardinalsünde ist, wenn es um gutes Spieldesign geht. Komplizierte und verschachtelte Regelkonstrukte zu erlernen ist nur selten den Aufwand wert, wenn man am Ende eigentlich einfache Strategien anwenden muss, um zielorientiert spielen zu können.
Im Gegensatz dazu hat sich Brass: Birmingham seine Lernkurve aufrichtig verdient. Durch die Aktionen der Mitspielenden entsteht schnell ein dynamisches und faszinierendes Geflecht an Chancen, Anreizen und Risiken. Es gilt Investitionsmöglichtkeiten, Geschäftsfelder und Synergieeffekte frühzeitig zu erkennen und sich zu eigen zu machen.
Wenn jemand am Tisch unerwartet eine Mine eröffnet oder zwei Städte miteinander verbindet, verschieben sich subtil, aber nachhaltig Absatzmärkte und Zulieferer. Brass: Birmingham gelingt es hier Ehrgeiz und Eitelkeit zugleich anzusprechen. Aber es ist nicht allein der banale Wettstreit um den höchsten Punktestand, der uns packt. Wir ertappen uns bald dabei das Spiel als solches bezwingen zu wollen. Schon nach kurzer Zeit will man einfach nur die eigenen Pläne gegen die sich ständig neu entwickelnde Spielsituation durchsetzen.

Natürlich erlaubt und antizipiert das Spiel darin auch eine sehr viel kompetitivere Spielart. Aber zumindest in der Anfangsphase ist das Wegschnappen von Ressourcen oder Vordrängeln bei der Errichtung einer neuen Industrie eher ein Streich, den man sich spielt als eine strategisch durchdachte Entscheidung.
Hat man die ersten Partien hinter sich gebracht, versucht man das Handeln der Konkurrenz vorauszusehen. Durch die Enge und Nähe auf dem Spielbrett kommt man sich unweigerlich in die Quere. Die Frustmomente, wenn ein Zugang zu einem Markt plötzlich versperrt wird, lassen nicht lange auf sich warten. Aber auch hier kann mehr Spielerfahrung dazu führen Rückschläge schnell zu überwinden und sich nach neuen Chancen für Profit umzusehen.
Fühlt man sich auch auf diesem Spielniveau wohl, beginnt die nächste Stufe. Pläne werden immer länger angelegt und in der ersten Hälfte des Spiels bereitet man bereits vor, wie man in die zweite Hälfte starten will. Strategien werden mit Hilfe der eigenen Kartenhand formuliert und im Kopf durchgespielt. Kleine Synergien werden entdeckt und wandern ins eigene taktische Repertoire. Die anfänglich obskuren, bürokratischen und kleinlich wirkenden Regeleinschränkungen entpuppen sich als kleinteilige Stellschrauben, die es filigran zu bedienen gilt, um sich clever Vorteile zu sichern.
Das überwuchernde Regelgeflecht hat System und dieses System geschickt zu bedienen stellt eines der größten Erfolgserlebnisse in Brass: Birmingham dar.
Aber der Reflex gewinnen zu wollen, schlängelt sich auch wieder ins Spiel zurück. Das Potential für Frust, Ärgernis und Schadenfreude ist in einem solchen Spiel enorm. An diesem Punkt zeigt sich Brass: Birmingham vielleicht von seiner unreifsten Seite. Wenn man sich im patzigen Hick-Hack und Platzierungsgerangel verliert, wird man schnell daran erinnert, dass man nur ein Spiel spielt.
Denn erkennt man ein Spiel nicht auch daran, dass es am Ende Gewinner und Verlierer geben muss? Womöglich ist diese Weltanschauung der Grund weshalb der gewählte Hintergrund von Brass: Birmingham so gut mit den Spielmechanismen einher geht.
Eine der modernen Ansätze in der Spielkritik nimmt sich gerne dem Thema eines Spiels genauer an und entwickelt elaborierte, mit historischen Anekdoten angereicherte und ausschweifende Erklärungen was denn das alles bedeutet. Leider bin ich kein Historiker, sondern lediglich Brettspieler. Als solches sehe ich in Brass: Birmingham vorerst ein Brettspiel in dem es um Wirtschaft geht und nicht um die Geschichte Englands.
Interessant ist in diesem Fall welche Aspekte des Hintergrundes durch Regelmechanismen für die Spielenden Relevanz verliehen bekommen, und welche nicht. So ist die arbeitende Bevölkerung Englands bei Brass: Birmingham annähernd so stark vertreten wie es Bewohner fremder Kontinente in Kolonialismus-Spielen sind.
Sie existieren als Idee in den Köpfen der Leute, die mit der Industriegeschichte Britanniens zumindest grob vertraut sind. Innerhalb unserer Spielentscheidungen und damit für unser Spielerlebnis gibt es sie nicht. Wir investieren nicht ihretwegen. Noch spielen sie in unseren Profitüberlegungen eine Rolle. Auch wenn sie auf den Kartenillustrationen – bei der körperlichen Arbeit für uns – zu sehen sind, existieren sie lediglich als stimmungsvolle Ausschmückung des Ambientes.
Aber genau das bildet den kapitalistischen Blick auf Märkte treffend ab. Ein Land mit Bewohnern, Gemeinden, einer Geschichte und Kultur wird auf eine ausbaufähige Infrastruktur reduziert, die der Profitgenerierung dient und als solche genutzt wird. Dafür ist ein Land da und nur dahingehend ist es für uns relevant.
Man mag sich herbeifantasieren, dass eine neu errichtete Fabrik Arbeitsplätze in der Gegend schaffen wird, oder dass man die Region durch eine solche neue Fabrik finanziell unterstützt. Aber das ist im Rahmen der Spielmechanik wie auch im realen Leben völlig belanglos. Investitionen sind lediglich Fixkosten, die sich möglichst bald durch Profit amortisieren sollen.
Eine Fabrik schafft Produkte für den Markt und wenn man diese absetzen kann, rentiert sich die Investition. Dann erhöhen sich die Rendite und im Wettlauf wer den größten… ich meine… wer den profitabelsten… ich meine wer der beste Geschäftsmann ist, steigt man weiter nach oben. Man stelle sich nur den Frust vor, wenn die Arbeiter:innen plötzlich faire Löhne verlangen würden, bessere Arbeitsbedingungen oder ihren Anteil am Profit! Man mag es sich gar nicht vorstellen!

Aber genau das passiert nicht und deshalb macht Brass: Birmingham sehr viel Spaß. Die Spielsituation richtig zu analysieren, die nächsten Schritte der Konkurrenten richtig einzuschätzen und sich an Hand der verfügbaren Mittel so zu positionieren, dass man profitiert, schüttet Glückshormone ohne Ende aus. Brass: Birmingham ist mehr als nur eine ungelenke Kopfrechen-Übung, anders als viele andere Spiele dieser Art.
Hier muss man sich in andere Menschen hineinversetzen, ihr Tun verstehen um es zu antizipieren und sich so Profit zu sichern. Man muss auch mal mutig vorpreschen und darauf bauen, dass eine Investition sich erst viel später im Spiel auszahlen wird. Oder auch einfach nur die Pläne der anderen stören, damit diese ja nicht an einem vorbeiziehen. Das Zusammenspiel dieser Aufgaben und Herausforderungen macht schlicht und ergreifend Spaß. Das liegt auch nicht zuletzt daran, dass man bei Brass: Birmingham nicht verlieren kann.
Mir ist klar, dass dieser Satz ein kurze Erklärung benötigt. Es ist natürlich möglich das Spiel nicht zu gewinnen. Am Ende gibt es nur eine Person, die mehr Geld gescheffelt hat als alle anderen. Mit diesem Vergleich schließt das Spiel immer ab. Aber man ist zu keinem Zeitpunkt dem Risiko ausgesetzt aus dem Spiel auszuscheiden. Der größte Schicksalsschlag in Brass: Birmingham heißt weniger Profit zu machen als die Konkurrenz. Das ist alles.
Man mag nun anmerken, dass es sich dabei um eine notwendige Abstraktion handelt um den Erwartungen an moderne Spieledesigns zu entsprechen. Dass das vielschichtige, real-weltliche Wirtschaftssystem Kapitalismus vereinfacht wurde, um unterhaltsam zu sein. Natürlich ist das nicht ganz falsch. Brass: Birmingham ist ein Spiel. Wir spielen es um Spaß zu haben und uns vielleicht miteinander zu messen.
Aber es fängt dennoch die Lebensrealität von Menschen wie Julio Gonzalez ein: seines Zeichens CEO einer Steuerberatungs-Firma und Eigentümer von 24 Mietgrundstücken. In einem Artikel klagt er darüber, dass seine Profite um 15% gesunken sind, seitdem er säumige Mieter nicht mehr auf die Straße setzen kann. Merke: es geht nicht um sein Einkommen, sondern den „erwirtschafteten“ Gewinn. Es gibt – gerade jetzt – wahrlich nichts schlimmeres, als etwas weniger Geld zu machen als jemand anderes.
Brass: Birmingham ist ein beeindruckendes Spiel. Trotz seiner Komplexität und Lernkurve wartet ein üppiges, anspruchsvolles Spielerlebnis auf alle, die gewillt sind sich einzuarbeiten. Aber noch beeindruckender ist, wie es auf großartige Weise vorführt warum Kapitalismus Spaß macht und wem es so viel Spaß macht.
Es sind alle die Menschen, die nur um ihre Profite bangen müssen, aber nicht um ihre Lebensgrundlage. Die Abstraktion durch das Spieldesign vereinfacht diese wirtschaftlichen Rollen nicht, sondern reduziert sie auf ihre Essenz. Es macht Spaß Großindustrieller zu sein, wenn man sich nicht um die Menschen kümmern muss, die für einen arbeiten müssen und das Schlimmste was einem passieren kann, ein kurzfristig angeknackstes Ego ist.
Als Wettbewerb darum wer die Gunst der Punkteleiste erringen kann, ist Brass: Birmingham aufgrund seiner Komplexität, ein anspruchsvolles und auch gediegenes Spielerlebnis. Man rätselt gerade nicht welcher der cleverste und beeindruckendste Zug ist, den man machen kann. Man beschäftigt sich stattdessen mit Sorgfalt, Bedacht und weitsichtiger Planung mit einer Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Der Spielgenuss eröffnet sich durch die Genugtuung richtig gut „gearbeitet“ zu haben. Die Punktewertung am Ende dient als Maßstab, um das eigene Können einzuordnen.
Das ist Spieldesign, das auch etwas mehr Aufwand von Spielenden einfordern darf.
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