Verlag: La Boîte de Jeu / Huch!
Autor: Joachim Thôme
für 2-5 Spieler*innen
ab 14 Jahren
Dauer: ca. 90 Minuten
Wenn man über Tribes of the Wind sprechen will, muss man zuerst über Vincent Dutraits Illustrationen sprechen. Sie sind es, die das Spiel visuell herausstechen lassen. Die bunte Farbenpracht und die detaillierte Strichführung vermitteln das Gefühl einer gelebten aber dennoch einladenden Postapokalypse. Bunt, aber nicht kindlich. Voller visueller Kniffe, aber noch nicht ganz überfrachtet. Wer die Zeichnungen Dutraits noch nicht kennt, wird hier begeistert sein. Wer jedoch bereits mehrere von ihm verschönerte Spiele im Schrank zu stehen hat, wird merken, dass auch Tribes of the Wind ein exemplarisches, aber nicht außergewöhnliches Beispiel seines Handwerks ist.
Tribes of the Wind ist, wie auch das Regelheft deutlich betont, ein Wettlauf zur Ziellinie. Auf dem Weg dorthin gilt es möglichst viele Siegpunktquellen abzugreifen, oder zumindest auf derart kurzem Wege dort hinzukommen, dass niemand Zeit hat mehr Punkte zu machen als man selbst. Es gilt Ressourcen zu sammeln, sie umzuwandeln und Stück für Stück das eigene Tableau zu bebauen, bis man das Ende des Spiels einleitet.
Im Mittelpunkt steht eine interessante Art der Instabilität, mit der wir uns bei unseren Entscheidungen arrangieren müssen. Nur wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, lassen sich einzelne Kartenaktionen aus unserem Kartenhalter ausspielen bzw. wirken sie dann am effektivsten. Wir beeinflussen diese Bedingungen jedoch meist nicht selbst, sondern sind auf die Karten unserer Sitznachbar*innen angewiesen. Diese Abhängigkeit führt zu einem Gefühl der großen Dynamik, da Aktionen unserer Mitspieler*innen verändern, welche Karten wir spielen wollen oder können. Wer genug moderne Designs kennt, wird diesen Aspekt als nicht besonders ungewöhnlich empfinden. Die Umsetzung mag anders sein, aber die Wirkung ist vertraut. Wie effektiv wir handeln können, wird zu einem spürbaren Maß durch die Entscheidungen unserer Mitspieler*innen bedingt.
Auch wenn der visuell auffällige Kartenmechanismus die Aufmerksamkeit auf sich zieht, liegt der Spielreiz in Tribes of the Wind an anderer Stelle. In jedem Zug muss man sich zwischen kurzfristigen Vorteilen (z.B. einer besonders starken Einzelaktion) und langfristigen Zielen (z.B. schwache Aktionen, die späteres Handeln vorbereiten) entscheiden. Das Resultat ist ein Spielgefühl, in dem man sich gedanklich hin und her bewegt, und in taktische und strategische Überlegungen versinkt. Das Abhandeln der einzelnen Aktion fühlt sich kurz und zielgerichtet an, so dass Tribes of the Wind nur sehr selten Durststrecken hat. Tribes of the Wind ist verständlich aufgebaut, die Herausforderungen sind gut zu erfassen und der Weg zum Ziel ist erkennbar, ohne selbstverständlich zu sein.
Dennoch weckt Tribes of the Wind in erfahrenen Runden zwar viel Wohlwollen und Zustimmung, aber keine richtige Begeisterung. Wiederholt wurde am Tisch Lob geäußert, jedoch immer mit der unaufgeforderten Einschränkung, dass es „nicht mein Lieblingsspiel“ ist. Ein Indiz dafür, dass irgendeine unbestimmte Zutat fehlt. Tribes of the Wind ringt um den „Wow“-Effekt, der es spielerisch herausstechen lässt.
Dabei macht Tribes of the Wind nichts falsch. Die Regeln sind, trotz ihrer Menge und des ungewohnten Aufbaus des Regelhefts, nachvollziehbar, belastbar und schnell verinnerlicht. Die Präsentation ist einladend und weckt – zumindest bei Spieler*innen die „Nausicaä aus dem Tal der Winde“ kennen – schnell positive Assoziationen. Der Wettlaufcharakter des Spiels macht direkte Interaktion praktisch irrelevant. Der Versuch andere gezielt zu behindern, führt daher eher zu Unmut als zu einem lebhaften Wettkampf.
Das einzige worauf Tribes of the Wind erfahrenen Spieler*innen keine Antwort liefern kann, ist die Frage „Warum dieses Spiel?“. Es fehlt ein Alleinstellungsmerkmal zu vergleichbaren Designs. Dutraits Illustrationen sind wie immer ansprechend, aber nicht einzigartig genug. Der Wettlaufcharakter eines taktischen Optimierungsspiel ermöglicht ebenfalls viele Vergleiche und bleibt vielleicht deshalb nicht als etwas Eigenes in Erinnerung. Der Kartenmechanismus ist zwar formal besonders, verändert aber das Spielgefühl nicht zu einem solchen Maß, dass man das Spiel daran festmachen kann.
Dieser Umstand ist jedoch mehr Kuriosität als ein tatsächlicher Mangel des Spiels. Ein verwunderliches Detail, statt ein eklatantes Unvermögen. Aber es könnte der Grund sein, weshalb Tribes of the Wind trotz seiner handwerklichen Souveränität vielleicht nicht viel Mund-zu-Mund-Propaganda von Vielspieler*innen erfahren wird. Die spielerische Vertrautheit, die vielen Seltenspieler*innen den Einstieg vereinfacht, könnte Tribes of the Wind zum Verhängnis werden. Das wäre sehr bedauerlich.
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