Verlag: Devir / Kosmos
Autoren: Gerard Ascensi und Ferran Renalias
für 1-4 Spieler*innen
ab 14 Jahren
Dauer: 90+ Minuten
Lacrimosa bietet etwas, das vielen modernen Spielen aus bekannten Verlagen fehlt: einen großartigen thematischen Aufhänger, der das Vertraute mit dem Ungewöhnlichen verknüpft. Mozart ist verstorben und es ist Aufgabe der Spieler*innen dafür zu sorgen, dass sein letztes Werk posthum vollendet wird.
Mechanisch bewegt sich Lacrimosa dabei in einem unerwarteten Spannungsfeld. Auf den ersten Blick ist der Detailreichtum überwältigend und die Regelvorgaben wirken umständlich. Aber bereits im Laufe der ersten Partie zeichnet sich eine saubere Strukturierung des Spielablaufs ab, der Spieler*innen Halt und Orientierung bietet. Dennoch wird einem am Ende deutlich, dass so manches Wissen, das für unsere Spielentscheidungen relevant ist, erst durch wiederholtes Spielen zugänglich wird.
Aufbau und Anblick von Lacrimosa schüchtert anfangs ein. Das Spielbrett ist schön anzusehen und überhaupt ist die grafische Aufmachung stimmungsvoll als auch in sich schlüssig. Auf ästhetischer Ebene ist dem Spiel nichts anzukreiden. Der Zeichenstil und die visuelle Sprache des Spiels vermitteln schnell den Eindruck eines anspruchsvollen und gediegenen Spielvergnügens. Damit geht aber auch einher, dass es etwas Zeit braucht bis man die aktuelle Spielsituation daraus ablesen kann. Das beschreibt Lacrimosa recht gut.
Denn hat man sich durch die erste Partie gespielt, treten schnell die klugen Designentscheidungen zu Tage, die Spieler*innen dabei helfen den Spielablauf und die wichtigen Entscheidungspunkte schnell zu erfassen. Das persönliche Spieltableau bietet eine kurze Rundenzusammenfassung wie auch hinweisgebende Bilder. Aussparungen an der Seite lassen Platz für Plättchen, welche man im Laufe des Spiels einfügen kann. Dies bietet einen schnellen Überblick darüber, welche zusätzliche Handlungen einem zur Verfügung stehen.
Aus den jeweils neun Aktionskarten, die einem jede Runde zur Verfügung stehen, hat man nie mehr als vier auf der Hand. Das bündelt unseren Handlungsspielraum so weit, dass wir auch ohne das Spiel vollständig durchdrungen zu haben, Entscheidungen fällen können. Selbst das Spielbrett entpuppt sich als weniger wirr, da es sich schnell in drei Bereiche aufteilen lässt. Diese Bereiche wiederum sind direkt an die drei Ressourcen gekoppelt, die wir auf unserem Spieltableau abzählen. Diese Ressourcen sind auch nur dort einsetzbar. Ein Umstand der visuell sehr unauffällig kommuniziert wird und erst im Laufe des Spiels deutlich wird.
Ähnlich ist es auch mit der spielerischen Funktion dieser Bereiche und der dazugehörigen Ressourcen. Die weiße Ressource „Komposition“ ermöglicht den Zugang auf eine der Hauptquellen für Siegpunkte in Lacrimosa. Damit einhergehend stehen aber auch Plättchen, die zusätzliche Handlungen ermöglichen. Die rote Ressource „Reisen“ lässt die ebenfalls rote Mozartfigur über eine Karte Europas reisen, um dort situativ starke Effekte auszulösen oder Siegpunktoptionen frei zu schalten. Die schwarze Ressource „Talent“ ist für den Erwerb einzelner Werke Mozarts nötig, um Einkommen zu generieren (denn Geld ist hier die vierte Ressource).
Diese Umschreibung mag suggerieren, dass die Unterschiede klar erkennbar sind. Aber der spielerische Vorteil der einzelnen Bereiche lässt sich erst beim Spielen selbst erschließen. An dieser Stelle schwächelt Lacrimosa. Denn sowohl thematisch wie auch visuell sind diese Querverbindungen nur mühsam zu entwirren. Man muss an sich oder den Mitspieler*innen entdecken wie spielformend bestimmte Entscheidungen sein können.
Es ist unbestritten, dass genau diese anfängliche Undurchsichtigkeit von manchen als Designstärke empfunden wird. Lacrimosa belohnt jene, die dieses Spiel wiederholt und in engen Abständen spielen. Die praktische Erfahrung lässt sich direkt in verfeinerte taktische Entscheidungen und klarere strategische Zielsetzungen übertragen.
Hier von Lernkurve zu sprechen, geht am Kern vorbei. Nach der ersten Partie stellen die groben Abläufe und Regeln kein nennenswertes Hindernis mehr dar. Auch lässt sich – wenn auch nur schemenhaft – eine erfolgsversprechende Richtung erkennen, nach der man das eigene Spiel ausrichten kann. Aber es bleibt das Gefühl, dass man sein Spiel noch weiter verfeinern kann. Dass es noch mehr Kniffe und Kombinationen gibt, mit der man den persönlichen Siegpunkte-High-Score noch steigern kann. Die Punkte an denen Lacrimosa nach den ersten Partien undurchsichtig bleibt, sind die Stellen an denen die eigene Leistung noch optimiert werden kann.
Andere Designs erreichen diesen Punkt in dem sie die Spieler*innen unter unzähligen Optionen, Kartenkombinationen und Regelmechanismen begraben. Damit grenzen sie sehr effektiv jene Spieler*innen aus, die Spiele zum Spaß spielen und sie nicht als Sport betreiben.
Lacrimosas unauffällige Stärke liegt nicht in seiner nur durch viele Partien ergründbaren Spieltiefe. Sie findet sich in den Designentscheidungen, die Spieler*innen Strukturen bieten, an denen sie sich orientieren können und die ihnen Halt bieten. Es ist dahingehend ein Designerfolg, da es Spieler*innen früh das notwendige Fundament liefert, um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen. Schon bald hat man das Gefühl, dass die eigenen Entscheidungen das Spiel vorantreiben. Das liegt nicht zuletzt am unauffälligen, aber umso effektiver wirkenden Kartenmechanismus. Jeder gewählten Aktion wird eine weitere Karte hinzugefügt, die erst am Ende einer Runde zum Tragen kommt. Diese obligatorische Ergänzung bestimmt mit welchen Ressourcen man in die nächste Runde startet.
Anfangs mag man diese Formalität als Eigenart Lacrimosas abtun. Aber sie führt wiederholt zu Momenten der Genugtuung, wenn es gelingt die Spielressourcen so vorzulegen, dass man in der nächsten Runde volle Handlungsfreiheit genießen kann. Das positive Feedback welches sich hier aus den eigenen Entscheidungen nährt, motiviert enorm. Mehr noch, es gibt Spieler*innen die Selbstsicherheit sich noch mehr mit den Herausforderungen des Spiels auseinander zu setzen. Auch wenn die auf der Schachtel angegebene Spieldauer von 90 Minuten meist weit überschritten wird, läuft das Spiel darum ohne nennenswerte Flauten ab.
Ob die spielerischen Geheimnisse, die Lacrimosa bereithält, oft auf Gruppen treffen werden, die gewillt und fähig sind ein abendfüllendes Spiel wiederholt auf den Tisch zu bekommen ist schwer zu beantworten. Lacrimosa setzt ein Spielumfeld voraus, in dem es Spieler*innen motiviert sich über mehrere Abende in ein Spiel einzuarbeiten. Es setzt eine Spielgruppe voraus, welches unerforschte taktische Finessen und strategische Eigenheiten eines Spiels als Grund sieht, es erneut zu spielen.
Dieser Experimentier- und Forschungsdrang geht dabei eine eher unbeständige Bindung mit dem Wettstreitgedanken ein, wenn es darum geht den Spielsieg an sich zu reißen. Denn sobald sich die Aussicht auf den Spielsieg in den Mittelpunkt drängt, verliert man die thematischen Einbindungen und auch Anspielungen auf reale geschichtliche Vorgänge aus den Augen. Der Ehrgeiz drängt eine kalte analytische Sicht auf des Spielgeschehen gerade zu auf. So ringt man am Ende um die Mehrheiten bei der Punktevergabe, schnappt sich gegenseitig wichtige Karten aus der Auslage weg und aktiviert Aktionsplättchen, um sie so einem anderen zu verweigern. Man bangt, ob die Aktion, die man geplant hat auch wirklich noch verfügbar ist. Man genießt den kurzen Triumph, wenn man das Vorhaben anderer mit der eigenen Aktion vereitelt. Man erfreut sich daran, wenn der eigene Punktemarker am Ende einer Runde an der Konkurrenz vorbei zieht. Dieses Wettkampf-Motiv ist altbekannt und es sind diese Momente in denen sich Lacrimosa gewöhnlich und nahezu austauschbar anfühlt.
Aber wer Freude daran empfindet, ein Spiel mit allen seinen Eigenheiten und Finessen zu erforschen und es leid ist sich durch wurzelige Regelkonstrukte oder vorsintflutliche Kartentürme zu kämpfen, wird Lacrimosa zu schätzen wissen.
#Spiel23
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