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Electropolis

Verlag: Homosapiens Lab
Autoren: Chang Yu Di, Ku Chun Wei, Wang Liang
Spieleranzahl: 2-4
Alter: ab 12 Jahren
Dauer: 50-70 Minuten

Der Begriff Eurogames wird zwar oft für tot oder überholt erklärt, aber kann sich dennoch Jahr für Jahr wacker halten. Das liegt zum Teil daran, dass die Genregrenzen schon immer etwas unspezifisch waren. Da hilft es niemandem zu argumentieren warum ein Spiel nicht ganz oder nur knapp ein Eurogame ist. Ein Genre ist eher wie ein weit offenes Feld mit einigen lose verstreuten Meilensteinen. Es ist keine passgenaue Schublade, in die man Spiele steckt. Deshalb kann ein Genre sich auch verändern, Trends durchlaufen und dennoch relevant bleiben. In den frühen 2000er Jahren war ein Titel wie Carcassonne repräsentativ für Eurogames und so etwas wie Funkenschlag der komplexe Außenseiter. Heute haben sich die Rollen vertauscht und Spiele wie Underwater Cities oder sogar Great Western Trail werden eher als typische Vertreter des modernen Eurogame bezeichnet.

Der Mittelpunkt des Spiels

Electropolis erinnert an die alte Schule dieses Genres. Der Regeln gibt es relativ wenig, Sonderfälle noch weniger. Es ist etwa so schwer zu erlernen wie Carcassone mit einer Erweiterung. Es werde Siegpunkte gesammelt, in dem man zuerst entscheidet, wie viele quadratische Plättchen man aus der Auslage nimmt. So wird auch die Spielerreihenfolge bestimmt, bei der die Genügsameren früher zum Zuge kommen. Anschließend setzt man seine Plättchen aufs eigene Spielbrett und befolgt zwei einfache Regeln: es muss an ein bereits vorhandenes Plättchen angrenzen und die Bedingung der Entwicklungskarte erfüllen, die man zusammen mit den Plättchen gewählt hat. Das macht man insgesamt acht Mal und zählt Siegpunkte, die man für jedes im Betrieb befindliche Kraftwerk erhält. Man verliert aber auch gemäß der verursachten Umweltverschmutzung Punkte. Einen Verlust, den man mit ausreichend Beliebtheitspunkten aber gut reduzieren kann. Ein paar zusätzliche Endwertungskarten geben dem Spiel eine weitere Richtung vor, damit man mehr erreichen muss, als nur das Brett voll zu bekommen.

Es geht bei Electropolis, wie auch bei anderen Vertretern des Genres, nicht wirklich darum, ein bestimmtes Erlebnis oder Gefühl zu vermitteln. Es gibt ja noch nicht einmal eine klar erkennbare Rolle in die man schlüpfen kann. Stattdessen handelt man wie ein quasi übernatürliches Wesen, das Kraftwerke und öffentliche Bauten auf dem Brett platziert, um Siegpunkte zu sammeln. Die über allem schwebende Hand auf der Spielschachtel ist die einzige Abbildung der Spieler, die einem zugebilligt wird. Das Thema des Spiels dient als Gedächtnisstütze, um die Regeln einfacher im Kopf behalten zu können.

Aller Anfang ist schwer… mit einem AKW

Ein Kohlekraftwerk benötigt natürlich ein Kohleplättchen, um Energie zu erzeugen. Gaskraftwerke brauchen Gas. So kann man sich einfach merken, welche Plättchen in Kombination Siegpunkte abwerfen. Ein Kernkraftwerk, braucht zusätzlich noch ein Endlager für den radioaktiven Müll; also braucht man hier drei Plättchen, um zu punkten. Diese kleinen Themenkleckser zeichnen zwar kein stimmungsvolles Bild, aber dienen dazu, die Benutzerfreundlichkeit des Spiels zu erhöhen. Letztendlich ist Design ja auch nichts anderes als die Erhöhung der Benutzerfreundlichkeit.

Eurogames sind eher selten auf Immersion ausgelegt und viel mehr daran interessiert, den Spielern anspruchsvolle Entscheidungen zu bieten. Electropolis ist eine unscheinbare Schachtel, die genau die Art von hochpolierter, gut entwickelter und sorgfältig gepflegter Spielerfahrung liefert, welche viele Eurogames versprechen aber nie so ganz einhalten können. Das liegt zum Teil daran, dass diese Spiele immer einen bitteren Nachgeschmack haben. Früher oder später kommt der Moment, an dem die entspannte Ansammlung von Errungenschaften abnimmt und man sich blutig in die Beine grätscht. Sobald die eigene Siegpunkt-Maschine läuft, richtet man sein Augenmerk darauf anderen die gleichen Chancen zu verwehren. Schließlich kann man ja nicht zulassen, dass es jemand anders besser hat. Anders gesagt, Eurogames sind die Brettspiel-Verkörperung des Spießertums.

Wer beliebt ist, dem verzeiht man auch Umweltdesaster

So manch ein Designer glaubt daran, dass Wettstreit zwischen Spielern sowohl Einfallsreichtum als auch Spannung erzeugt. Wie viele Spießerdogmen ist auch dieser ziemlicher Mumpitz. Electropolis zeigt, dass eine gut dosierte Herausforderung Spieler dazu anregt sowohl clever als auch ehrgeizig zu spielen. Spannung entsteht nicht dadurch, dass man von den Zügen anderer Spieler abhängig ist oder man hoffen muss, dass der Zufall einem helfen wird. Stattdessen werden Entscheidungen präsentiert, deren Risiken leicht erkennbar sind ohne berechenbar zu sein. Je mehr Kontrolle man über die Plättchenauswahl haben will, umso mehr riskiert man nach 8 Runden ein halb-leeres Brett zu haben. Aber je mehr Steine man aufnimmt, um so weniger Kontrolle hat man darüber welche man aufsammelt. Deshalb fühlt es sich auch so verdient an, wenn man einen großen Schwung Siegpunkte holen kann. Zum einen hat man sie verdient, weil man Risiken eingegangen ist, statt eine komplizierte Rechenaufgabe gelöst zu haben oder ganz duckmäuserisch gespielt hat, um nicht von anderen gestört zu werden. Hier wird kein unterdrücktes Potential für Schadenfreude aufgebrochen, um bei den Spielern eine emotionale Reaktion zu wecken. Es gibt auch kein alles auf den Kopf stellende Finale, damit das Spiel irgendwie in Erinnerung bleibt. Erfolge fühlen sich verdient an, weil sie direkt davon abhängen wie man die Herausforderungen im Spiel gemeistert hat.

Das alles ist kein Zufall, sondern das Ergebnis sorgfältig eingesetzter Design-Kunst. Jede Runde beginnt damit, dass man sich festlegt wie viele Plättchen man aufnehmen wird. Ein kleiner Bonus auf dem mittleren Aktionsfeld lockt Spieler dort anzufangen und so die restliche Aktionsleiste in Bereiche mit klar erkennbaren taktischen Vor- und Nachteilen zu unterteilen. Es ist nur eine kleine Sache, aber sie trägt massiv dazu bei einen flüssigen Spielablauf zu ermöglichen.

Die Farbpalette des Spiels ist in zurückhaltenden Farbtönen und massivem Grau getaucht. Aber der Eindruck ist wie bei vielen Eurogames trügerisch. Electropolis wird vermutlich keinen neuen Trend am Markt setzen, oder diesen bescheidenen Spielstil zum Publikumsrenner machen. Es ist lediglich ein tadellos geschaffenes kleines Spieljuwel, welches jeden begeistern sollte, der die Kunstfertigkeit guter Designarbeit zu schätzen weiß.

Diese kleine Einschränkung gibt dem Spiel seinen Pfiff

Electropolis liefert eine spannende Knobelei, die Spieler nie hilflos stranden lässt oder ihnen spielerische Fallen stellt. Man muss nicht mehrmals spielen (und scheitern), um Siegpunkt-Sackgassen zu vermeiden. Unwirksame oder falsche Züge werden nicht damit bestraft, dass man effektiv keinen Einfluß auf das Spiel hat. Der Zufall entscheidet nicht, ob man noch strategische Entscheidungen treffen kann. Spieler müssen weder gehässig noch nachtragend spielen, um Spannung zu erzeugen. Puristen neigen dazu, diese Elemente des Eurogames als die besondere Würze des Genres zu loben. Aber für die meisten Leute bleibt es der Grund dem Spielen fernzubleiben. In der Vergangenheit haben viele Designer versucht diesen bitteren Nachgeschmack herunterzuspielen, in dem sie negative Interaktionen stark reduziert haben, oder viele Wege zu Siegpunkten ermöglicht haben. Das ist so als würde man viel Milch und Zucker in seinen Kaffee schütten, damit er einfacher zu trinken ist.

Aber Electropolis lediglich einfach zu nennen, wertet die immense Designleistung ab, die in diesem Spiel steckt. Das hier ist – entschuldigen Sie – eine verdammt gute Tasse Kaffee. Ich kann ihnen nicht sagen, wie viele Tassen Kaffee ich in meinem Leben schon getrunken habe.. Aber das ist eine der besten.

Georgios Panagiotidis
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