Autor: Paolo Mori, Remo Conzadori
Verlag: Play Punk
Für 2-5 Spieler*innen
Ab 8 Jahren
Spieldauer: 20 Minuten
Die Orthodoxie der Spielkritik sagt, dass Entscheidungen im Mittelpunkt eines guten Spiels stehen. Je mehr Entscheidungen ein Spiel bietet, umso mehr Spiel ist es auch. Manche Kritiker*innen unterscheiden noch zwischen wichtigen Entscheidungen (gut) und nebensächlichen Entscheidungen (störend). Also solchen die viel und solche die wenig an der Spielsituation verändern.
Wer dieser Mehrheitsmeinung uneingeschränkt zustimmt, wird Captain Flip nur wenig abgewinnen können. Wir fällen hier nur wenige Entscheidungen. Es sind genaugenommen nur zwei pro Runde. Die erste lautet, das aus dem Beutel gezogene Plättchen zu behalten oder auf seine Rückseite zu drehen. Auf jeder Seite des Plättchens ist ein Mitglied einer Piratencrew gezeichnet. Jedes Mitglied bringt auf eine bestimmte Art Punkte. Manche sofort. Andere wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, und wieder andere erst zum Ende des Spiels. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass man immer nur eine Seite des Plättchens kennt. Erst das Umdrehen legt die Rückseite frei, aber verpflichtet uns auch dieses neu enthüllte Crewmitglied zu behalten.
Die zweite Entscheidung, die man fällt, ist vergleichsweise einfacher. Auf dem persönlichen Spielplan sind fünf Spalten eingetragen. In eine dieser Spalten muss das Plättchen gelegt werden. Hat man die Spalte im Laufe des Spiels von unten nach oben gefüllt, gibt es einen Bonus. So wägt man ab welches Plättchen in welcher Spalte am meisten Punkte bringt und ob man nicht auch gleich auf einen Bonus hinspielen will.
Hat man das Glück genau das Plättchen zu ziehen, welches man sich wünscht, sinkt die Zahl der Entscheidungen gleich auf eine. Wer beim Auslegen der Plättchen sogar noch eine feste Strategie verfolgt, verwandelt damit seinen Zug in einen Automatismus. Wenn man bekommt was man will, hat man bei Captain Flip kaum ein Spiel.
Aber wie viele andere Designs auch, wird Captain Flip erst dann unterhaltsam, wenn die eigenen Hoffnungen enttäuscht werden und die eigenen Pläne nicht aufgehen. Captain Flip eröffnet sich einem erst dann, wenn man etwas will aber nicht bekommt. Denn gerade wenn man neidisch auf die Auslage der anderen Spieler*innen schielt oder alles daran hängt, genau das eine Plättchen zu ziehen, bietet Captain Flip am meisten Humor, Spannung und auch Spielspaß. Immer wieder wird man in Versuchung geführt, Bauchentscheidungen statt Kopfentscheidungen zu fällen. Vielleicht sieht man ja jetzt den Smutje auf den man hingearbeitet hat? Es ist gerade das sichtliche Ärgern, Meckern und Verzweifeln, welches am Tisch für mitfühlendes Gelächter sorgt.
Kein Wunder also, dass gerade erfahrenere Spieler*innen sich mit dem Charme des Spiels schwertun. Schließlich haben unzählige Partien uns gezeigt, dass ein kühler Kopf und eine klare Analyse der Situation die bestmöglichen Chancen auf den Spielsieg bieten. In 9 von 10 Fällen ist die „kluge“ und „sichere“ Entscheidung der beste Weg zum Ziel. Nur selten krönt ein glücklicher Zufall den Sieger oder die Siegerin. (Und wenn es mehr als 1 von 10 Fällen ist, dann ist das Spiel ganz klar „viel zu glückslastig“.)
Die Wahrheit ist, dass Captain Flip ein Glücksspiel ist. Eines, welches oft sehr kurzweilig sein kann. Es lebt vom Nervenkitzel welches Plättchen man zieht (wie beim Bingo) und ob man das gezogene Plättchen vielleicht doch umdreht (wie beim Monty-Hall-Dilemma). Gerade wenn man es mit extrovertierten Spieler*innen spielt, wird eine Partie schnell zum kleinen Happening. Jedes gezogene oder gedrehte Plättchen lockt den anderen Spieler*innen einen Kommentar heraus. In diesen Momenten ist Captain Flip etwas besonderes und erinnerungswürdiges. Aber es gibt auch Partien, die durch sorgfältige Analyse und Knobelei nicht in Schwung kommen. Wer sich nicht schnell entscheiden kann oder will, nimmt dem Spiel den Wind aus den Segeln.
Es mag der Eindruck entstehen, dass Captain Flip vor allem dann Spaß macht, wenn man es als sinnfreies Blödelspiel versteht. Aber damit tut man dem Spiel unrecht. Es gibt hier durchaus Raum für kluge Entscheidungen und mutige Zielsetzungen. Aber im Mittelpunkt steht die Spannung zwischen Kopf und Bauch. Denn auch das kann ein gutes Spiel ausmachen.
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