spielbar.com

Stationfall

Autor: Matt Eklund

Verlag: Corax Games

Für 1-9 Spielende ab 12 Jahren (eher ab 15)

Spieldauer: 60-150 Minuten

Stationfall ist ein sehr ambitioniertes Spiel.

So ähnlich wie Nemesis offenkundig versucht die Atmosphäre von Alien-Filmen einzufangen, so versucht Stationfall noch etwas flexibler gleich alle klassischen SF-Plots irgendwie unterzubringen – mit Schwerpunkt auf dem Humor. Das Setting mag zwar sehr dramatisch klingen (eine Station fällt aus dem Orbit), tonal geht es aber eher lustig zu: Viel Chaos auf den Gängen, keiner weiß genau was passiert und es passieren in erster Linie Überraschungen. So ziemlich alles was das Genre der Space Opera zu bieten hat, kann sich in einer Partie wiederfinden: Kampfroboter, Weltraumpiraten, Leute, die aus dem  Cry-Schlaf ins Chaos erwachen, Audrey II, Spione, Mechaniker, ein Warpkern, geheime Experiment, losgelassene Aliens, Private Rettungskapseln. Explodierene Rettungskapseln, Telepathische Ratten, Datendiebstahl, Raubzüge, bei denen Kameras ausgeschaltet werden, eine Kommandeurin, die mit ihrem Schiff untergeht…

Auch Spielmechanisch geht Stationfall vielleicht nicht ganz „All-In“, aber doch zumindest ambitionierte Wege: Statt einer Handvoll von Charakteren auf der Raumstation zu spielen, können alle Mitspielenden alle Charaktere auf der Station spielen. Da zudem die Ziele geheim sind kommt es zu Überraschungen, ja Chaos: Man weiß nicht, was von der riesigen Anzahl von Möglichkeiten passieren wird. Matt Eklund  hat es so geschafft, ein System zu entwickeln, dass Chaos fast ohne Zufallsfaktor zu erzeugen.

„Chaos“ und „viele Überraschungen“ deuten es schon dezent an: Stationfall ist kein Schach. Richtig planbar ist grundsätzlich nichts. Wie Homer im Atomkraftwerk sitzen die Spielenden eher vor einer fast unüberschaubaren Anzahl von Schaltern und drücken Knöpfe, um zu sehen was passiert. Und es gibt ach so viele schöne, bunte Knöpfe zum Ausprobieren! Und alle versprechen cineastische Szenen von großen Heldentaten, überraschenden Wendungen und katastrophalen Missgeschicken. Nichts für Eurogamer, aber darum geht es ja auch nicht!

Drücken viele Personen gleichzeitig auf einer Fernbedienung herum, wird das Fernsehprogramm nicht besser. Daher sind die einzigen Züge der Spielenden sehr überschaubar: Maximal zwei Aktionen werden in einem normalen Zug durchgeführt (in seltenen Ausnahmefällen gibt es bis zu zwei Bonuszüge). Da bereits „Bewegen“ eine Aktion ist und die Station wirklich nicht gerade klein daherkommt, ist der tatsächliche Einfluss gering. In den meisten Zügen wird man sich anstrengen müssen, überhaupt etwas produktives tun zu können. Der Vorteil ist, dass das Spiel selbst zu acht nicht ewig dauert, sondern in zwei Stunden vorüber sein dürfte. Doch der Nachteil wiegt schwerer: Die meisten Knöpfe der Atomkraftswerksmetapher tun nichts interessantes.

Tatsächlich bricht an dieser Stelle der ganze ambitionierte Ansatz in sich zusammen. Es ist schön, dass das Spiel sandkastenmäßig alles erlauben möchte, was irgendwie denkbar ist. In der Praxis stellt man in vielen Zügen fest: Die Figuren stehen so, dass mit zwei Aktionen kein Staat zu machen ist, weder zielführendes, noch nicht einmal etwas interessantes. Selbst Experimente á la „Jetzt will ich mal das Monster rauslassen, nur um zu sehen, was dann passiert“ sind oft nicht drin, weil die Figuren zu isoliert stehen, die Station zu groß ist und/oder Figuren aufgrund von Sonderregeln oder anderen Bedingungen nicht zur Verfügung stehen. Die Züge sind auch deshalb so wenig konstruktiv, weil es sich in den seltensten Fällen lohnt, denselben Charakter zweimal hintereinander zu wählen (dann ist nämlich nur noch eine einzige Aktion möglich!). Der Idee, dass allen Mitspielenden alle Charaktere zu Verfügung stehen, fällt hier auch die Spielbarkeit zum Opfer: In jedem Zug werden die Charaktere überprüft, ob ein Charakter bereits bewegt wurde, wo die Charaktere stehen und was sie können. Das ist umständlich, auch weil zwei komplett unterschiedliche Stellen (Charaktere und Raumstation) ständig gegengecheckt werden müssen und weil die Raumstation unnötig verschachtelt aufgebaut ist.  Und Vorbereitungen werden oft durch die anderen zunichte gemacht. Das Problem ist an der Stelle aber nicht das Chaos, sondern das Gefühl unfähig zu sein, überhaupt etwas konstruktives anstellen zu können- statt cineastischen Szenen oder zumindest panischem Rumgelaufe, stehen die Charaktere die meiste Zeit herum und warten auf ihren Einsatz, der nicht kommt, weil sie in einer Ecke stehen, wo sie nicht gebraucht werden.

Die Raumstation bei Spielstart. Countercalypse

Das ganze wird noch dadurch verstärkt, dass auch das Regelkonzept überambitioniert ist… Die Regel ist im wesentlichen ein Tutorial, was OK wäre, würde dort nicht ständig geschrieben stehen „Probiert etwas aus!“. Ja, das würde ich gerne, tun, wenn ich nur wüsste was? Und wie? Das Regelnachschlageheft ‑das nötig ist, da Nachschlagen im Tutorial praktisch unmöglich ist‑  ist zum einen tatsächlich unvollständig und bedingt ein drittes Regelheft für die Charaktere und zum anderen im Schnitzeljagdstil gehalten, mit ständigen Verweisen „Siehe Seite X!“. Nur um zu sehen, was eine Brandbombe zum Beispiel macht -was ja vielleicht interessiert, wenn man mal eine zur Verfügung hat – blättert sich durch mindestens drei Verweise.  Die Macher wollten vermutlich das offene System, das möglichst viel erlaubt, auf die Regeln übertragen und scheitern grandios, weil Stationfalls „Alle haben geheime Pläne“ bedingt, dass alle auch wissen müssen, was man eigentlich wie überhaupt machen könnte.

Insbesondere lässt die Regel sogar offen, wie man eigentlich aus der Station flieht. Das muss man selbst aus den Aktionen und dem Spielplan herausfinden. Vielleicht ein Hinweis auf das gleichnamige  Textadventure…?

 

Ambition ist gut. Es ist offensichtlich, dass der Autor sich hier austoben konnte und alles in das Spiel kippen wollte, was irgend möglich war. Die Redaktion hat ihn dabei aber leider nicht gestoppt. Das Problem ist, dass die Masse an Ideen alleine keinen Spielfluss garantiert. Im Gegenteil: Je mehr Ergebnisse möglich sind, desto klarer und übersichtlich müssen die Kernaktionen sein. Der vielleicht größte Kritikpunkt an Stationfall ist, dass es den Spielenden nicht ohne weiteres genau das erlaubt, was es ermöglichen will: Cineastisches Chaos und tolle Geschichten. Statt dass alle alles bewegen, wären NPC besser gewesen oder kleine Gruppen von Charakteren , von denen man jede Runde einen anderen auswählen kann. Oder beides. Oder alles andere als das Einflusssystem, dass verwendet wurde und dass ich hier nicht einmal erklärt habe, weil es spielerisch kaum einen Unterschied macht zwischen „Spiele wen du willst“ und dem Einsetzen von Holzwürfeln.

Durch ein klareres System wären potentiell mehr und  interessantere Handlungen denkbar gewesen. Vielleicht hätte man die Bewegungsregeln anpassen müssen. Vielleicht wären Missionen spannender gewesen. Was auch immer hätte gemacht werden müssen. Es wurde nicht gemacht. Stationfall nutzt das enorme Storypotential, dass in Stationfall steckt, leider nicht aus, denn es nimmt seine Ambition und sein Potential  wichtiger als die Agency der Spielenden.

 

Peer Sylvester
Letzte Artikel von Peer Sylvester (Alle anzeigen)