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Vor Ort – Spiel des Jahres 2018

Es ist 10 Uhr. Draußen brennt die Sonne und wir haben uns, wie es dem Brettspieler-Klischee entspricht, in die schattigen, kühlen und gediegenen Räumlichkeiten des Swissôtel Berlin zurückgezogen. Die Preisverleihung des Spiel des Jahres steht an. Der prestige-trächtigste Preis, den dieses Hobby bzw. diese Industrie vorzuweisen hat. Auch wenn einige sich im Vorfeld nicht zurückhalten können ihre digge Gleichgültigkeit zum Thema ungefragt zu erwähnen. Oder auch die geringe Relevanz, die der Preis für den einzelnen Vielspieler oder Kenner darstellt. Auch das ist naheliegend, denn wer nicht in der Branche arbeitet ist, der wird von den direkten Folgen des Preises auch nicht berührt werden. Aber so ein roter Pöppel auf der Schachtel (und der schwarze in geringerem Ausmaß ebenfalls) macht für einen Verlag und einen Autor schon sehr viel aus. „Die Druckerei ist schon vorgewarnt. Wenn der Preis kommt, geht heute noch das Go, um die nächste Auflage in den Druck zu schicken.“ vertraut mir Thorsten Gimmler von Schmidt Spiele an. Er gibt zu nervös zu sein, auch wenn Schmidt Spiele mit zwei Nominierungen im Kennerspiel gute Karten hat. Letztendlich hat sich Asmodee 2016 mit zwei Nominerungen ähnliche Hoffnungen gemacht, die dann doch zerschlagen wurden. Gimmler und Autor Wolfgang Warsch können sich aber freuen. Die Quacksalber von Quedlinburg erhält die Auszeichnung und schlägt damit Heaven & Ale, welches vielen schon zu tief im Expertensegment liegt; aber auch das leichtere Roll & Write Spiel Ganz Schön Clever (ebenfalls von Warsch bei Schmidt Spiele). Aus der vordersten Sitzreihe der Autoren entweicht Warsch sogar ein kurzer Aufschrei, als sein Spiel auf dem großen schwarzen Siegerpöppel in Erscheinung tritt. Die Emotionen sind da. Warum auch nicht? Schließlich ist das die Anerkennung der Fachpresse, als auch der Fuß in der Tür für weitere Spielideen, die man großen Verlagen anbieten will.

Ein Punkt, den auch Matt Leacock wiederholt. Natürlich ist diese Auszeichnung etwas Besonderes, selbst wenn seine Pandemie-Spiele oder die Forbidden-Reihe (Verbotene Insel, Vergessene Stadt und später dieses Jahr Forbidden Sky) viele Preise und hohe Verkaufszahlen verbuchen konnte. Er ist zum vierten Mal nach Berlin gekommen und kann erstmalig mit dem schweren Holzpöppel für den Sonderpreis 2018 für Pandemic Legacy Season 2 zurückreisen. (Ein Objekt, dass man dem Zollschutz erstmal erklären muss. Schließlich ist er schwer und groß genug, um jemanden damit zu erschlagen.) Er ist, wie er sagt, noch immer sehr stolz darauf mit kooperativen Spielen in Verbindung gebracht zu werden. Einen großen Wurf wie Pandemie muss man auch erst mal leisten. Rob Daviau, sein Partner in der Aufsehen erregenden und uneingeschränkt empfehlenswerten Pandemic Legacy-Reihe, sieht das ähnlich. Er hatte noch nicht den Leonard Nimoy-Moment in dem er sich von seiner erinnerungswürdigsten und bekanntestn Kreation distanzieren will. Er ist der Mann, der das Legacy-Konzept bekannt gemacht hat. Er hatte zwar eine lange Karriere bevor er damit zu Bekanntheit kam, aber für die meisten Interviewer bleibt er der „Legacy“-Typ. Wir sprechen kurz über sein letztes Spiel „Mountains of Madness“ und warum es vielleicht nicht so gut ankam wie erwartet. Das liegt zum einen sicherlich an der großen Flut an neuen Spielen jedes Jahr. Aber viele schienen auch überfordert vom ungewöhnlichen Tonfall des Spiels: die Mischung aus solidem kooperativen Spiel und „whimsy“. Ein Begriff, für den es im Deutschen keine direkte Übersetzung gibt, was Daviau so lustig findet, dass er es gleich in einen Tweet setzt. Whimsy liegt irgendwo zwischen verspielt, humorvoll und wechselhaft oder launisch. Das passte nicht ganz in die Erwartungen. Lovecraft ist schließlich bierernst, wie kann ein solches Spiel Leichtigkeit und Humor erzeugen? Zu widersprüchlich erscheinen die erlebten Emotionen. Denn darum geht es in einem Spiel in Wirklichkeit: Emotionen, die es zu wecken gilt und die Regeln, Komponenten und Konzepte, die die Gruppe dahin führen. Zumindest geht Leacock so an die Sache heran und der Erfolg von Pandemie und der Sonderpreis der Spiel des Jahres Jury scheint das zu bestätigen.

Der große Sieger ist jedoch Azul von Michael Kiesling. Beinahe einhellig als Gewinner vorhergesagt, haben doch viele – mich eingeschlossen – gehofft, dass der Underdog namens The Mind vielleicht noch das Rennen macht. Denn gerade wenn es um Emotionen geht, scheint dieses Spiel – wie auch der kurze Videoeinspieler bei der Preisverleihung zeigt – genau diese zu wecken. Gelächter, Freude und gemeinsames Aufheulen, wenn die falsche Karte gespielt wurde. Eine Vertreterin des NSV Verlags erwähnt, dass die Lizenzen in ganz Europa bereits vor der Nominierung verkauft waren. So schnell hat sich der Ruf dieses Spiels verbreitet. Nach der Nominierung gab es Abnehmer in den USA und sogar Taiwan. The Mind braucht also kaum den Verkaufsschub, den der Sieger heute den Rest des Jahres (und vielleicht sogar darüber hinaus) verbuchen darf. Aber auch Luxor von Rüdiger Dorn (bei Queen Games erschienen) geht leer aus. So beeindruckend und genial das Kartensystem von Jury-Mitglied Martin Klein empfunden wurde, so kann es dann doch nicht gegen die geschliffene Präsentation von Azul antreten. Das Gleichgewicht aus Spieltiefe und Zugänglichkeit konnte überzeugen. Die zwei Stufen des Spiels vom friedlichen Nebeneinander bei dem jeder Spieler seine Auslage zu optimieren versucht, wie auch die des geschickten Ausbootens seiner Mitspieler weil man ihnen ganz dreist Minuspunkte einbrockt, ist repräsentativ für das moderne Brettspiel 2018. Aber so will Martin Klein das nicht stehen lassen. Der Spiel des Jahres Preis geht nicht an das repräsentative Spiel dieses Jahres, oder an das Beste. Dafür hat der Markt jedes Jahr zu viele Facetten. Der Preist hat vielleicht etwas davon den Zeitgeist einzufangen. Ziel der Jury ist es das Spiel zu finden welches als Aushängeschild für das Hobby dienen kann. Es soll dem orientierungslosen Neuspieler einen Einstieg in das Hobby liefern. Es soll das Spiel sein von dem sich die Jury am ehesten verspricht, dass es Interesse am Spiel weckt, Lust auf mehr macht und – wie es immer so hochtrabend heißt – das Kulturgut Brettspiel verbreitet. So ist die Entscheidung für Azul nur konsequent, wenn auch wenig gewagt. Aber es ist ein Spiel, welches Anfänger kaum verschrecken wird. Es erlaubt Entdeckungen und Überraschungen, auch bei mehrmaligem Spiel. Die Unbefangenheit mit der man an Azul gehen kann, nimmt dem neuen Spieler vielleicht die Unsicherheit sich an die vielen anderen, bunten und geheimnisvollen Schachteln zu wagen, die beim Händler im Regal stehen und so viel Spaß versprechen.

Im Presseraum nach der Verleihung ist Azuls Autor Michael Kiesling kaum aufzufinden. Er tritt für ein paar Interviews mit der Presse auf und ist dann später, sehr zum Ärgernis der Podcaster, Blogger und Videomenschen, kaum aufzufinden. Es ist nicht ganz klar warum er fehlt. Vielleicht ist ihm das Theater um sein Spiel zu groß. Vielleicht hat er auch nur etwas Schlechtes gegessen. Aber während die ersten wieder abreisen müssen, da manchen stundenlange Fahrten bevorstehen, bleiben noch einige zurück um die Veranstaltung auf sich wirken zu lassen. Die etablierten Medien reiben sich hier die Schultern mit den de facto Volontären. Natürlich kommt da ein klein wenig Unmut auf, wenn Rezensionsexemplare abgeholt werden, das Buffet kurz goutiert und dann der Rückweg angetreten wird. Es ist ein ganz hobby-spezifischer Konflikt, der sich hier äußert. Einer der jede Zusammenarbeit mit Rezensenten fast auf eine Stufe mit Betrug stellt, wenn das Rezensionsexemplar nicht ausdrücklich in der Besprechung erwähnt wird. Schon allein die Anwesenheit an einer solchen Veranstaltung weckt bei manchen die Angst, dass da zwischen Presse und Verlagen Absprachen stattfinden. Oder dass sich ein Insider-Club der coolen Leute bildet, bei denen andere außen vor bleiben. Als Brettspieler ist man auf solche Gruppenbildungen und Ausschlüssen oft sehr schlecht zu sprechen. Damit kann man natürlich hadern und etwas bitter werden.

Oder man kann sich von diesem Ballast lösen und erkennen, dass hier Produkte gelobt werden, weil sie Menschen erlauben sich kennen zu lernen, wie Matt Leacock es sieht oder man über seine Arbeit als Rezensent seine besten Freunde kennenlernt, wie es Martin Klein erlebt hat. Beim Spiel geht es zwar um Emotionen, aber beim Spielen sind es die Menschen, die eigentlich im Mittelpunkt stehen. Jede dieser Interaktionen, ob am Tisch, auf einer solchen Veranstaltung, im Interview oder in Online-Kommentaren… ist eine Chance die Verbindung mit anderen zu suchen. Der Spiel des Jahres Preis ist für Autoren und Verlage ein wichtiger Meilenstein für die professionelle Entwicklung. Für die Fachpresse ist es ohne Frage eine Möglichkeit Kontakte zu knüpfen, um in Zukunft besser und umfangreicher berichten zu können. Aber für den Spieler in jedem von uns, ist dieser Preis ein Fixpunkt an dem man sich treffen kann. Drei nominerte Spiele, die man den Menschen, die abseits des Hobbies leben, nahe legen kann und Spiele über die man vorzüglich debattieren, sinnieren und, ja, auch streiten kann. Weil sie ein Vorhängeschild für und eine Einladung in das Hobby darstellen.

In diesem Sinne… wir sehen uns demnächst am Spieltisch!

Georgios Panagiotidis
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